Spätestens seit dem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas, das seit über 40 Jahren den Diskurs prägt, ist Verantwortung zu einer Leitkategorie in ethischen Abwägungen geworden, gleichwohl die inhaltliche Füllung stark zu changieren scheint. Wer ist für wen in welcher Hinsicht in welcher zeitlichen Zerdehnung verantwortlich? In welchem Verhältnis stehen Eigenverantwortung und Verantwortung für jemand anderen? Exemplifizieren möchte ich die Verantwortung an einem alltäglichen Beispiel, dem Tragen der Mund-Nase-Bedeckung in der Pandemie, welches jedoch zu einem hochkontroversen Thema geworden ist. In Zeiten von Infektionsschutz und Gesundheitsrisiko stellt sich diese Frage immer pointierter: Trage ich die Mund-Nase-Bedeckung zu meinem eigenen Schutz oder zum Schutz aller? Und auf das Konzept der Verantwortung ausgerollt: angesichts meiner Eigenverantwortung oder bezogen auf die Verantwortung für alle, sprich das Gemeinwohl oder gar, um eine besonders vulnerable Gruppe zu schützen?
Handelt jemand verantwortungsvoll bzw. -bewusst, so ist er*sie bereit, für die Folgen (aber auch Ziele) einer Handlung einzustehen (bis hin zur Annahme von möglichen Strafen). Ein gemeinsam geteilter normativer Rahmen (Werte, soziale Normen) würde auch die Grenzen der Verantwortungsübernahme bei allem Verantwortungsbewusstsein konturieren.
Vornehmlich zwei Gründe werden von Gegner*innen der Mund-Nase-Bedeckung ins Feld geführt: die mangelnde (oder positiv formuliert die inkonsistente) Evidenz des Nutzens von Mund-Nase-Bedeckungen und der mit dem Stück Stoff oder Papier verbundene Eingriff in die freiheitlichen Grundrechte jedes*r Bürger*in.
In Zeiten einer Pandemie wandert der Blick nicht selten auf Verlautbarungen der World Health Organization (WHO): Je fragiler das Gut der Gesundheit, umso flehentlicher die Hoffnung auf Orientierung in der Pandemie. Hier findet man die Empfehlung, die Mund-Nase-Bedeckung zu tragen, vor allem wenn es nicht möglich ist, den Abstand von 1,5 Meter zu wahren, zum Beispiel in Supermärkten, manchen Treppenhäusern oder im voll besetzten Nahverkehr. Auch der Unterschied zwischen medizinischer und selbst gemachter Maske ist nicht zu unterschätzen und kann auf den Internetseiten der WHO nachvollzogen werden.
Auch wenn es durchaus widersprüchliche Studien zum Nutzen der Mund-Nase-Bedeckung zu Beginn gab, ist man als Ethikerin doch eher tutioristisch unterwegs, das heißt, der sicherste Weg ist zu wählen, und mag der Beitrag auch noch so klein erscheinen. Gerade in Zeiten einer Pandemie zählt schließlich jeder kleine Beitrag, und umso besser, wenn der Nutzen zum Beispiel der Mund-Nase-Bedeckung durch jede*n Einzelne*n, der sie trägt, immer größer wird.
Aber wer hat sie nicht schon auch vergessen, die Mund-Nase-Bedeckung? Oder verflucht auf langen Zugstrecken? Für diejenigen Verkäufer*innen, welche sie in manchen Bundesländern den ganzen Tag tragen müssen, ist sie sicherlich eine Belastung.
Angesichts dieser Kraftanstrengung müssen alle einerseits an die höchstpersönliche Eigenverantwortung erinnert werden, die aber per se immer relational ist, ist doch der Mensch ein soziales Wesen. Paradoxerweise muss er in Pandemiezeiten sich bewusst gegen den Kontakt entscheiden, des Gemeinwohls wegen. Diese Ausrichtung auf das Gemeinwohl sollte vor allem in Zeiten einer Pandemie noch deutlicher angemahnt werden. Ich trage die Mund-Nase-Bedeckung in der Bibliothek nicht, um mich zu schützen, sondern andere, und hier all diejenigen, die in der Bibliothek lesen, arbeiten, exzerpieren. Ver-antwortung ist dabei als Antwort für die be- und anstehenden Aufgaben des Gesundheitsschutzes zu verstehen mit dem mittelbaren Ziel, einen zweiten Lockdown mit allen Begleitschäden zu verhindern. Vor allem das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung durch alle ist ein Akt für den*die andere*n und sucht so gerade eine „funktionierende“‘ Sozietät zu wahren, insofern dadurch soziale Übel aller Art (zum Beispiel vereinheitlichte Lockdowns) vermieden werden sollen – also eine „Antwort“ auf solche Übel gegeben wird, die jeder leisten kann.
Der Deutsche Ethikrat spricht weiterführend von „einer solidarischen Eigenverantwortung derjenigen, die nach einer Infektion immun sind, die wiedererlangte Freiheit und Handlungsmöglichkeit im Sinne der Solidargemeinschaft auch für die Überwindung dieser schweren Krise einzusetzen“ (Deutscher Ethikrat, Ad-hoc-Empfehlung, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, 2020, 5). Die solidarische Eigenverantwortung geht noch viel weiter. Der Deutsche Ethikrat skizziert so eine weitergehende Pflicht, im Sinne des Gemeinwohls den eigenen Einsatz für besonders vulnerable Gruppen zu erwägen (was jedoch keine Aufopferung bedeutet).
Anders stellt sich die Frage: Wie geht man um mit nachlässigen Träger*innen? Denn bedecken die Masken nur den Mund, verdienen sie nicht mehr die Bezeichnung Mund-Nase-Bedeckung und erfüllen auch nicht mehr ihren Zweck der Verminderung des Infektionsrisikos. Ansprechen, bitten, dass auch die eigenen Interessen gewahrt werden sollen, auf die Einhaltung pochen? „Entschuldigen Sie, ich fühle mich unwohl, wenn ich Ihnen hier in der S-Bahn gegenübersitze und deutlich Ihre Nase und deren Nichtbedeckung sehen kann. Ich fühlte mich wohler, wenn Sie diese bedeckten.“
Vor allem im zwischenmenschlichen Bereich menschelt es nun bei der Mund-Nase-Bedeckung. Nicht weniger tricky ist die Wahrung des Abstands, wenn man beispielsweise in einer Schlange steht. Nicht immer gelingt die Erinnerung an die 1,5 Meter – zumindest in freundlicher Art und Weise. Oft geht es gar nicht um den Abstand oder um die Mund-Nase-Bedeckung, sondern um die passiv-aggressive Demonstration des*r anderen, es besser zu wissen, sich nichts sagen lassen zu wollen und so weiter.
Mir fällt hier die Betrachtung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Grundrechte ein. Je tiefer der Eingriff, umso mehr plausible Rechtfertigungsgründe muss es geben. Aus Fairnessgründen sind die Nahestehenden, biologisch oder auch örtlich gesehen, in den Blick zu nehmen. Es ist also nicht nur die Selbstverantwortung betroffen, sondern auch die Verantwortung für andere beziehungsweise das Gemeinwohl, wenn die Mund-Nase-Bedeckung aus emanzipatorischen oder freiheitsliebenden Bedenken abgenommen wird. Oder anders gewendet: Es geht nicht mehr um das eigene Risiko, sondern dasjenige aller. Verglichen mit dem Klimaschutz ist aber schon zu konstatieren, dass in der Corona-Krise der anfängliche Zusammenhalt aus Solidarität angesichts eines besser spürbaren und greifbaren Risikos besser funktionierte. In der Klimadebatte verpufft der Appell an die Verantwortung für zukünftige Generationen beziehungsweise die intergenerationelle Gerechtigkeit nicht selten.
Einen ganz anderen Dreh bekommt die Debatte um die Mund-Nase-Bedeckung und die Frage der Verantwortung allerdings, wenn man sich beispielsweise vergegenwärtigt, dass gehörlose Menschen durch das Maskentragen erheblich behindert werden. Ihre Überlebensstrategie, das Lippenlesen, können sie unter diesen Umständen nicht mehr anwenden. Viele andere Aspekte lassen sich finden. Nur sporadisch thematisiert wurde etwa die Frage der Verteilungsgerechtigkeit bei der Mund-Nase-Bedeckung. Wie können auch einkommensschwache Menschen hier nicht benachteiligt werden, sodass sie keinem höheren Erkrankungsrisiko ausgesetzt sind? Es gibt also noch ungelöste Fragen …
Sicherlich, Kommunikation wird mit der Mund-Nase-Bedeckung nicht vereinfacht, aber trotz allem funktioniert sie. Ist der gemeinsame normative Rahmen der Gesundheitsschutz (aber nicht absolut verstanden, sondern fundamental) und das Gemeinwohl, so steht es außer Frage, die Mund-Nase-Bedeckung zu tragen. Gerade sie wahrt die Sozietät, das gemeinsame Leben. Gerade sie ist eine Antwort darauf, Sozietät auch in Krisenzeiten aufrechterhalten zu wollen – durch die Zurücknahme seiner selbst.
Kerstin Schlögl-Flierl ist Professorin für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Augsburg. Studium der Germanistik und Theologie in Regensburg, Rom und Boston. Ihre Promotion erfolgte zum Thema Glück, ihre Habilitation zu den Bußbüchern des Antoninus von Florenz. Ihre aktuellen Forschungsprojekte gehen zu den Themen selbstbestimmtes Leben im Pflegeheim einerseits und Advance Care Planning (ACP) in der ambulanten Palliativversorgung andererseits. Seit April 2020 ist sie Mitglied im Deutschen Ethikrat. (Foto: Zentrum für Interdiziplinäre Gesundheitsforschung, Universität Augsburg)
Zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie hat das zebis eine Reihe von Gastkommentatoren aus Wissenschaft, Kirche, Gesellschaft und Militär gewonnen. Ihre Beiträge veröffentlichen wir hier in loser Reihenfolge. Lesen Sie auch:
Teil 1: Internationale Beziehungen nach der Corona-Pandemie von Dr. Melanie Alamir
Teil 2: Beitrag von Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner, Inspekteur des Sanitätsdienstes
Teil 3: Grenzen! Europa im Auge der Corona-Pandemie von Dr. Erny Gillen
Auch die kommenden Veranstaltungen des zebis sowie die nächste Ausgabe des E-Journals „Ethik und Militär“ (online ab 1.12.2020) werden wesentliche ethische und sicherheitspolitische Aspekte der Pandemie beleuchten.