Hamburg - 10.10.2023

Mut und Widerstand.
Erinnerung an Traute Lafrenz, Mitglied der „Weißen Rose“
3. Mai 1919 bis 6. März 2023

Julia Böcker (zebis)

Seinen Überzeugungen treu bleiben

Beim sogenannten Asch-Experiment wird einer Lerngruppe eine Übung zur Wahrnehmung angekündigt. Den Teilnehmenden werden vier Linien in unterschiedlicher Länge gezeigt. Die Kursleitung fragt eine allem Anschein nach zufällig ausgewählte Person, welche Linie die längste sei. Zumeist kann die befragte Person schnell eine Antwort geben. Schon mit dem bloßen Auge ist erkennbar, dass eine Linie – im Beispiel Linie 2 – deutlich länger ist. Erfahrungsgemäß ist sich die befragte Person ihrer Antwort sicher und kann sie überzeugt vertreten.

Doch unerwarteterweise widersprechen alle anderen im Raum dieser Einschätzung. Geschlossen argumentiert die Gruppe, dass eine andere Linie – im Beispiel Linie 3 – zweifellos die längste sei.

Eine Vielzahl von Personen kommt in dieser Situation ins Zweifeln. Im Durchschnitt passen sich drei Viertel der Testpersonen dem falschen Urteil der Gruppe an. Nur 25 Prozent lassen sich nicht von der Gruppe beeinflussen und bleibt bei der eigenen Gewissheit.

Die Auflösung: Alle Teilnehmenden – bis auf die nur scheinbar zufällig ausgewählte Person – wurden vorher instruiert, absichtlich eine falsche Meinung kundzutun. Mit diesem Experiment zeigte der polnisch-amerikanische Psychologe Salomon Asch 1951, wie Gruppenzwang eine Person so beeinflussen kann, dass sie eine falsche Aussage als richtig bewertet. Angelehnt an das Experiment wird die Anpassung an die Mehrheitswahrnehmung einer Gruppe auch Asch-Effekt genannt.

Ein Mensch, der auch gegen die lauteste Mehrheit ihre Überzeugungen behielt, war Traute Lafrenz. Traute Lafrenz war im Widerstand der Weißen Rose gegen das nationalsozialistische Terrorregime. Von der Widerstandsgruppe war sie die letzte Überlebende. Am 6. März 2023 ist sie im Alter von 103 Jahren in South Carolina, USA verstorben. An ihr Leben und ihr Wirken soll in diesem Beitrag erinnert werden.

Andere ermutigen

Traute Lafrenz wurde am 3. Mai 1919 in Hamburg geboren. Sie besuchte die Lichtwarkschule (die heutige Heinrich-Hertz-Schule), wo auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in der freiheitlichen und musischen Tradition der Reformschule unterrichtet wurde. Die Leseabende bei ihrer Lehrerin Erna Stahl bezeichnete sie als „ein Geschenk fürs ganze Leben“. Die Schülerinnen und Schüler lernten die literarischen Werke kennen, die als „verbotene Literatur“ galten, deren Autoren verfolgt wurden.

Ab dem Sommersemester 1939 studierte Traute Lafrenz Humanmedizin an der Universität Hamburg. Sie lernte Alexander Schmorell kennen und traf ihn wieder, als sie ihr Studium in München fortsetzte. Über ihn kam sie mit Hans und Sophie Scholl in Kontakt. Die Geschwister hatten in einem kleinen Kreis junger Studenten 1942 die Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“ gegründet und wandten sich mit Flugblättern gegen das nationalsozialistische Regime.

Traute Lafrenz nahm an vielen Gesprächen der Widerstandsgruppe Weiße Rose teil. Mit Sophie Scholl organisierte sie Papier und Kuverts für die Flugblätter. Im November 1942 brachte Traute Lafrenz das dritte Flugblatt der Weißen Rose nach Hamburg.

Zwischen Juni 1942 und Februar 1943 verfasste die Widerstandgruppe sechs unterschiedliche Schriften. Ihnen standen noch keine sozialen Netzwerke zur Verfügung. Dennoch fanden sie Mittel und Wege, ihre Botschaft zu verbreiten. Darin wiesen sie die Menschen auf ihre staatspolitischen Pflichten hin. „Leistet passiven Widerstand – Widerstand – wo immer ihr auch seid“, hieß die Forderung im ersten Flugblatt. Denn, so die Verfasser: „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren‘ zu lassen.“

Wer still Unrecht ertrüge, anstatt es zu bekämpfen, trage Mitschuld. „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen; die Weiße Rose lässt Euch keine Ruhe!“, endet das vierte Flugblatt. Die Weiße Rose hatte das erklärte Ziel, die Menschen aufzuklären und anzuleiten, ihre Angepasstheit an eine rechtswidrig und gewaltsam ausgeübte Staatsgewalt aufzugeben. Indem sie die Bürger informierten, wollten sie alle Deutschen zum widerständigen Handeln ermutigen.

Wer Menschen ermutigen kann, der hilft ihnen, in schwierigen Situationen seine Angst zu überwinden. Mut bedeutet nicht Furchtlosigkeit, sondern die Bereitschaft, das größere, hehre Ziel trotz aller Angst nicht aus den Augen zu verlieren. Die Mitglieder der Weißen Rose haben nicht nur ihren eigenen Mut bewiesen, sondern andere zu Courage und Beherztheit eingeladen.

Ermutigung ist eine hohe Kunst. Sie birgt das Vertrauen in die Mitmenschen zur Handlungsbereitschaft auch angesichts von großen Nachteilen, die Zuversicht auf Veränderungen in der scheinbaren Ausweglosigkeit und die Hoffnung auf eine andere, bessere Zukunft, liegt sie auch in weiter Ferne. Wer Menschen ermutigen kann, kann Menschen durch schwierige Zeiten führen. Die Flugblätter der Weißen Rose sprechen eine ermutigende Sprache. Sie können heute Ratgeber sein für Ermutigung als eine wichtige Fertigkeit all jener, die andere Menschen in ihren Aufgaben führen: Vorgesetzte, Führungspersonen, Lehrer und Lehrerinnen, Ausbildende, Eltern.

Nicht vergessen sein

Die Botschaft der Weißen Rose, Angriffen auf die Menschenwürde mutig entgegenzutreten, gilt bis heute – auch wenn heute keine braun uniformierten Trupps mit Hakenkreuzfahnen durch die Straßen ziehen. Solche Angriffe begegnen uns in verschiedenen, auch subtileren Formen: in demokratiefeindlichen Parolen auf Schulhöfen, in Vorurteilen gegen Kopftuchträgerinnen, in Vergleichen der Politik des Staates Israel mit dem Holocaust, in der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus.

Der Schriftsteller Thomas Mann würdigte die Weiße Rose: „Brave, herrliche junge Leute. Ihr sollt nicht umsonst gestorben, sollt nicht vergessen sein.“ Dafür können wir Staatsbürger und Staatsbürgerinnen heute in derartigen Situationen durch zivilcouragiertes Handeln Sorge tragen. Dazu gehört es etwa, aufzuzeigen, wenn Werte unserer demokratischen Gesellschaft – vielleicht auch nur unbewusst – tangiert werden. Bringt man das Gegenüber zum Nachdenken, ist schon viel erreicht. Schließlich brach auch das nationalsozialistische Unrechtsregime nicht über Nacht über die Deutschen herein; stille Komplizenschaft, Ignoranz oder Angst vor der Konfrontation bereiteten ihm den Weg.

Die Mitglieder der Weißen Rose setzten ihr Leben aufs Spiel, um ihre Zeitgenossen aufzurütteln. Die Geschwister Scholl wurden am 22. Februar 1943 vier Tage nach ihrer Festnahme hingerichtet, Alexander Schmorell im Juli desselben Jahres getötet.

Traute Lafrenz hatte noch Weggefährten gewarnt, Beweismaterial aus der Wohnung der Geschwister Scholl getilgt und die Familie Scholl in Ulm aufgesucht. Im März 1943 wurde sie von der Gestapo verhört und als Mitglied der Widerstandsgruppe festgenommen. Wegen „Mitwisserschaft“ wurde sie zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Im Zuge weiterer Ermittlungen wurde sie jedoch wieder eingesperrt, erst im Polizeigefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel, dann im Frauenzuchthaus Cottbus, im Frauengefängnis Leipzig-Meusdorf und im Zuchthaus St. Georgen in Bayreuth. Dort wurde sie am 15. April 1945 von amerikanischen Truppen befreit. 

Nach dem Krieg schloss Traute Lafrenz ihr Studium ab. Sie zog in die USA und arbeitete als Leiterin einer heilpädagogischen Einrichtung für Kinder mit geistiger Behinderung. Sie besuchte später regelmäßig Deutschland und sprach vor Schulklassen von ihrer Zeit im Widerstand. Für ihre Lebensleistung wurde sie unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Als Heldin wollte sie jedoch nicht bezeichnet werden.

Nun ist die letzte Angehörige der Widerstandsgruppe Weiße Rose gestorben. Mit dem Tod der letzten Zeitzeugen und Überlebenden des Nationalsozialismus geht die Unmittelbarkeit des Eindrucks ihrer Erinnerungen verloren. Es ist unsere Aufgabe, neue Wege der Auseinandersetzung mit der Geschichte zu finden. Das oben genannte Experiment kann ein Anfang sein.

Zum Weiterlesen

Biografie Traute Lafrenz
https://www.menschenrechtszentrum-cottbus.de/historischer-ort/lafrenz/

Podiumsdiskussion „Weiße Rose: Ethik des Widerstands – gestern und heute“
https://www.zebis.eu/veranstaltungen/dokumentation/gedenktag-weisse-rose-ethik-des-widerstands-gestern-und-heute/

Gedenkstätte Deutscher Widerstand: Traute Lafrenz (3. Mai 1919 – 6. März 2023)
https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/traute-lafrenz

Landeszentrale für politische Bildung Hamburg: Hamburger Frauenbiografien. Traute Lafrenz
https://www.hamburg.de/frauenbiografien/

 

Weitere Quellen

Hans Scholl / Alexander Schmorell: Flugblätter der Weißen Rose, in: Ulrich Chaussy / Gerd R. Überschär: „Es lebe die Freiheit!“ Die Geschichte der „Weißen Rose“ und ihrer Mitglieder in Dokumenten und Berichten, Frankfurt a. M. 2013, S. 35ff.

Solomon Asch: „Effects of group pressure upon the modification and distortion of judgment“ (1955), in: In H. Guetzkow (Hrsg.), Groups, leadership and men. Pittsburgh: Carnegie Press.

Thomas Mann: „Deutsche Hörer!“, Sendung vom 27. Juni 1943, in: Ders.: 55 Radiosendungen aus Deutschland, Stockholm 1945, S. 92ff.

 

Bilder: Universität Hamburg; Wikipedia.