Hamburg - 25.08.2022

Von aktuellen und anderen „Zeitenwenden“

Prof. Dr. Norbert Lammert

Prof. Dr. Norbert Lammert ist seit Januar 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er hat die Politik in Deutschland über fast vier Jahrzehnte aktiv begleitet und in wichtigen Ämtern mitgestaltet. Zwölf Jahre war er Präsident des Deutschen Bundestages, dem er von 1980 bis 2017 angehörte. In den Regierungen von Helmut Kohl amtierte er als Parlamentarischer Staatssekretär in den Bundesministerien für Bildung und Wissenschaft, für Wirtschaft und schließlich für Verkehr sowie als Koordinator der Bundesregierung für die Luft- und Raumfahrt. 2003 erhielt Lammert einen Lehrauftrag für Politikwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, die ihn 2008 zum Honorarprofessor ernannte. Seine zahlreichen Publikationen befassen sich mit gesellschafts-, wirtschafts- und kulturpolitischen Themen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die leicht bearbeitete Einführung von Prof. Dr. Norbert Lammert zur Veranstaltung „Bundeswehr der Zukunft – Innere Führung im Zeitalter der künstlichen Intelligenz“ der Konrad-Adenauer-Stiftung am 22.6.2022 im Cyber Innovation Hub der Bundeswehr in Berlin.

Der Begriff „Zeitenwende“ hat sich mit einer bemerkenswerten Geschwindigkeit beinahe in der gesamten politischen Klasse, zu der ich ausdrücklich die Verfassungsinstitutionen, die ihnen zugeordneten Einrichtungen und auch die Medien rechne, etabliert. Ein Begriff, mit dem ich persönlich eher etwas zögerlich umgehe. Der Umstand, dass wir mit einem bestimmten spektakulären Ereignis, in diesem Fall dem dramatischen militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine, prompt eine Zeitenwende verbinden, kann auch Ausdruck der Verlegenheit sein, weil hinreichend eindeutige Belege für eine dramatische Veränderung der Lage allzu lange nicht gesehen oder verdrängt wurden. Dass jedenfalls das, was heute gemeinhin unter Zeitenwende verstanden wird, just mit dem 24. Februar 2022 begonnen habe und nicht beispielsweise mit der Annexion der Krim 2014, ist nicht selbsterklärend, sondern hat mit einer bemerkenswerten Art der Wahrnehmung von Ereignissen und Entwicklungen zu tun. Und wie gut gemeint, aber doch gelegentlich irreführend solche Etikettierungen sind, will ich an meiner subjektiven Wahrnehmung der anderen Zeitenwende verdeutlichen, die zu unseren Lebzeiten stattgefunden hat: nämlich dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. Das war ein spektakuläres Ereignis, mit dem die meisten überhaupt nicht gerechnet hatten, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Weise, und von dem alle Beteiligten den ausdrücklichen oder uneingestandenen Eindruck hatten: Jetzt erleben wir eine Zeitenwende. Tatsächlich ist damals ja nicht nur eine Mauer gefallen, sondern ein ganzes Regime. Es ist nicht nur in Berlin und in Ostdeutschland gefallen, sondern wie Dominosteine sind damals autoritäre Regime in Mittel- und Osteuropa durch freie Wahlen und demokratisch legitimierte Parlamente und Regierungen abgelöst worden. Viele werden sich an ein Buch erinnern, das damals innerhalb von wenigen Wochen zu einem Weltbestseller wurde, weil es die Wahrnehmung nicht nur in Deutschland und Europa, sondern beinahe überall in der Welt auf prägnante Weise zum Ausdruck brachte: Francis Fukuyamas „The End of History“ – das Ende der Geschichte.

Ein Buch, das im Übrigen nicht die Prognose des Endes der Menschheitsgeschichte war, aber den Eindruck widerspiegelte, eine Reihe von großen Fragen der Menschheit seien jetzt geklärt; dass man einer modernen Gesellschaft ein anderes politisches System als die Demokratie und den Rechtsstaat sowie freie Wahlen nicht zumuten könne. Jetzt sind wir gut 30 Jahre weiter, und beinahe alle Fragen, die damals ein für alle Mal geklärt schienen, sind wieder auf der Tagesordnung. Zugespitzt formuliert: Die damals so empfundene Zeitenwende hat leider nicht stattgefunden. Ob und welche Zeitenwende jetzt gerade stattfindet und wann sie begonnen hat, wann man eigentlich welche nicht vorübergehenden, sondern nachhaltigen Veränderungen in der politischen und Sicherheitsarchitektur dieses Kontinents längst hätte wahrnehmen und wann man darauf hätte reagieren können, das sind Fragen, mit denen sich Historiker sicher noch intensiv beschäftigen werden; Fragen, die wir aber nicht allein den Historikern überlassen dürfen. Denn an dem, was es vermeintlich neuerdings, bei ruhiger Betrachtung aber seit Längerem an nachhaltigen Verschiebungen und Veränderungen der Sicherheitslage gibt, daran hat nicht nur die Bundeswehr als zuständige Institution ein nicht weiter erklärungsbedürftiges, vitales Interesse, sondern daran müssen auch politische Institutionen ein ähnliches Interesse haben. Jedenfalls gilt dies für die Konrad-Adenauer-Stiftung, und deswegen ist es vielleicht nicht gänzlich überflüssig, darauf hinzuweisen, dass unsere gemeinsame Beschäftigung mit dem Thema „Bundeswehr der Zukunft – Innere Führung im Zeitalter der künstlichen Intelligenz“ nicht erst Ende Februar dieses Jahres begonnen hat, sondern im Herbst vergangenen Jahres, als die Zuspitzung der Ereignisse jedenfalls noch nicht in der Weise absehbar war, wie sie inzwischen eingetreten ist. Der Bundeswehr wie uns war aber schon damals hinreichend klar, dass wir es mit Veränderungen zu tun haben, mit denen wir uns befassen müssen und für die wir im Übrigen nicht nur operative, strukturelle und organisatorische Voraussetzungen treffen müssen, sondern auch Öffentlichkeit brauchen. Denn ohne die öffentliche Wahrnehmung veränderter Herausforderungen – einschließlich der damit verbundenen finanziellen Implikationen – kommen die anderen Prioritäten, die wir dafür dringend brauchen, vermutlich gar nicht zustande.

Weil es mit dem Thema künstliche Intelligenz einen inneren Zusammenhang hat, will ich auch auf eine weitere nachhaltige Veränderung unserer Lebensbedingungen aufmerksam machen, für die sich viel seltener der Begriff Zeitenwende eingebürgert hat, der dafür aber mindestens so gut passt – das ist der Siegeszug der digitalen Kommunikation in beinahe allen Lebensbereichen. Wenn man diesen übrigens mit einem Datum versehen wollte wie die anderen genannten Ereignisse, ist es interessanterweise auch das Jahr 1989, in dem das World Wide Web etabliert wurde. Kein Mensch ist damals auf die Idee gekommen, das für eine Zeitenwende zu halten – weil es eben nicht das Ereignis war, das spektakulär und unübersehbar war. Aber damit war eine Entwicklung verbunden, von der wir heute wissen, dass sie irreversibel ist; sie veränderte die Bedingungen für Wirtschaft und Gesellschaft, für Politik sowie auch und gerade für Institutionen wie die Bundeswehr nachhaltig und führt zu deutlich anderen Priorisierungen. (…)

Ich habe mir angewöhnt, bei Veranstaltungen wie dieser zu schauen, ob das Datum einen mehr oder weniger offensichtlichen Zusammenhang zum Anliegen, zum Thema, zum Projekt oder zum Ereignis hat, und da habe ich auch diesmal zwei Bezüge gefunden, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Am 22. Juni 1941, also heute auf den Tag genau vor 81 Jahren, beginnt mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ der deutsch-sowjetische Krieg. Das ganz andere mit dem Datum verbundene Ereignis ist der 22. Juni 1767, das ist noch länger her, es sind jetzt 255 Jahre auf den Tag genau. Damals wurde Wilhelm von Humboldt geboren. Er war zugegebenermaßen kein Militärstratege, aber ein bedeutender preußischer Gelehrter, Publizist und Staatsmann, und in seiner Schrift „Idee zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ aus dem Jahre 1792 finden sich folgende bemerkenswerte Sätze, die wie ein Grußwort zur heutigen Veranstaltung gelesen werden können. Zitat: „Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden noch die Frucht derselben zu genießen. Denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit. […] Ich glaube daher hier als den ersten positiven, aber in der Folge noch genauer zu bestimmenden einzuschränkenden Grundsatz aufstellen zu können, dass die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde als innerliche Zwistigkeiten den Zweck des Staates ausmachen und seine Wirksamkeit beschäftigen muss.“

Das ist nun historisch betrachtet überhaupt nicht aktuell. Aber zur aktuellen Lage kann man es kaum prägnanter formulieren, als Humboldt es hier tut. Jedenfalls haben wir inzwischen auch unter erheblich veränderter Problemwahrnehmung einer breiteren Öffentlichkeit eine Lage, die uns unter jedem denkbaren Gesichtspunkt Anlass bietet, uns intensiv mit Herausforderungen zu beschäftigen und mit Möglichkeiten, diesen Herausforderungen gerecht zu werden.

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