Die Erstveröffentlichung erfolgte in: Die Tagespost vom 6. März 2025
Prof. em. Dr. Manfred Spieker ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück.
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Der Friede auf Erden ist ein zerbrechliches Gut. Das gilt für die privaten wie für die politischen Beziehungen. Die Bibel weiß das, seit Kain Abel erschlagen hat. Der Mensch ist ein Sünder. Seine Neigung zur Gewalt bedroht jedweden Frieden. „Insoweit die Menschen Sünder sind“, so das II. Vatikanische Konzil in Gaudium et Spes, „droht ihnen die Gefahr des Krieges, und sie wird ihnen drohen bis zur Ankunft Christi“. Keine schöne Perspektive. Auf Gewalt zu verzichten bleibt aber ein im Neuen Testament vielfach belegtes Gebot. Wer zum Frieden beiträgt, dem wird großer Lohn verheißen: „Selig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden“ (Mt 5,9). Heißt das, dass der Friedensstifter Pazifist sein muss?
Es gibt den biblisch begründeten Pazifismus. In der Debatte über die Errichtung der deutschen Bundeswehr in der 50er Jahren war er genauso virulent wie in der Debatte um die Nachrüstung der NATO Anfang der 80er Jahre. In den Diskussionen um den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die militärischen Hilfen für die Ukraine ist er, wenn auch verhaltener und nicht ohne Widersprüche, ebenfalls präsent. Für seine Vertreter ist die Frage von Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert, ob Krieg führen immer Sünde sei, sinnlos. Krieg führen ist immer Sünde. Die Androhung oder Anwendung von Gewalt ist für George Macgregor, einen der Wortführer dieses Pazifismus in den 50er Jahren, nie legitim. In der Nachrüstungsdebatte interpretierte Franz Alt die Bergpredigt als eine Charta der Politik, der „nicht nur das Friedensziel, sondern auch der Friedensweg“ zu entnehmen sei, ein Friedensweg, der lautet „keine Nachrüstung“. Wer sich von Kernwaffen sichern lassen will, wie könne der „noch glauben, hoffen und lieben im Geist der Bergpredigt?“ Er glaubt nicht mehr, lautete Alts Antwort.
Nach der Aggression Russlands gegen die Ukraine ist der christlich motivierte Pazifismus nicht verschwunden. Im Hirtenbrief der deutschen Bischöfe „Friede diesem Haus“ vom 21. Februar 2024 wird er neben der „kritisch-konditionalen Gewaltlegitimation“ als eine, ja als die ältere von zwei Traditionen der kirchlichen Friedenslehre gewürdigt, „die bis in die Anfänge des Christentums zurückreichen und sich stets gegenseitig beeinflusst haben“. Die beiden Traditionen seien vereint in dem Ziel, „Gewalt soll überwunden werden“. Die Bischöfe erinnern zwar an das Recht auf Selbstverteidigung und die Pflicht, Dritten zu helfen, die nicht in der Lage sind, „sich selbst in angemessener Form zu wehren“, aber ihre „vorrangige Option“ bleibt die „aktive Gewaltfreiheit“. Wie der Ukraine mit aktiver Gewaltfreiheit geholfen werden soll, bleibt ihr Geheimnis. Auch das vatikanische Dikasterium für die Glaubenslehre unterstreicht in der Erklärung „Dignitas Infinita“ über die menschliche Würde vom 2. April 2024 das „unveräußerliche Recht auf Selbstverteidigung“, meint aber zugleich, „alle Kriege“ widersprechen der Menschenwürde. Wirklich alle Kriege? Auch eine legitime militärische Verteidigung ist ein Krieg, ein gerechter Krieg allerdings und ein gerechter Krieg widerspricht nicht der Menschenwürde. Um ein gerechter Krieg zu sein, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, die in der Lehre vom gerechten Krieg zusammengefasst sind.
Diese Bedingungen sind nicht dem Neuen Testament zu entnehmen. Dem Neuen Testament aber ist zu entnehmen – und dies ist zur Auflösung des Dilemmas zwischen Gewaltverzicht und Gewalt wesentlich – dass die Gewaltfunktion des Staates nirgends bestritten, mehr noch, dass sie im Römerbrief des Apostels Paulus ausdrücklich bestätigt wird (Röm 13, 1-7). Paulus schreibt der staatlichen Gewalt die Funktion zu, Recht und Ordnung zu wahren, Übeltäter zu betrafen, dem Bösen zu wehren, ja es durch das Schwert erst gar nicht aufkommen zu lassen, also abzuschrecken. Sie soll, positiv formuliert, „Dienerin des Guten“ sein. In der Nachrüstungsdebatte Anfang der 80er Jahre haben mehrere Bischofskonferenzen keinen Zweifel an der Zurückweisung des Pazifismus gelassen. Das Gewaltverzichtsgebot der Bergpredigt ‚Leistet dem, der euch Böses antut, keinen Widerstand‘ (Mt 5,39), sei kein neues Gesetz, so die deutschen Bischöfe, „aus dem für das Handeln des einzelnen oder des Staates unter allen Umständen ein Verzicht auf Anwendung von Gewalt abzuleiten wäre. Wo ein solcher Verzicht auf Kosten des Wohles anderer, zumal Dritter, geht, kann er sogar gegen die Absicht Jesu sein: in seinem Namen haben Christen um der Nächstenliebe willen zugunsten von Armen, Schutzbedürftigen und Entrechteten den Unterdrückern wirksam entgegenzutreten“. Ist das Dilemma zwischen Gewaltverzicht und Gewalt gelöst, tut sich sogleich das nächste, ungleich schwierigere Dilemma auf, das Dilemma zwischen legitimer Verteidigung und totaler Zerstörung.
Militärische Verteidigung gilt in der Friedensethik der katholischen Soziallehre dann als legitim, wenn sie folgende Kriterien erfüllt: wenn 1. das Leben und die Rechte unschuldiger Menschen bedroht sind; 2. alle Möglichkeiten, die Aggression zu verhindern, ausgeschöpft sind; sie 3. von einer legitimen, dem Gemeinwohl verpflichteten politischen Autorität beschlossen wird; sich 4. der Zweck des Einsatzes militärischer Mittel auf die Abwehr der Aggression beschränkt und nicht seinerseits in eine Aggression verwandelt; 5. mit der Möglichkeit eines Erfolgs gerechnet werden kann; 6. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel beachtet wird, die durch die militärische Verteidigung entstehenden Übel also nicht größer sind als die einer hingenommenen Aggression; schließlich 7. die Wirkung der Waffen begrenzt, die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten also aufrechterhalten werden kann. Im Katechismus der Katholischen Kirche von 1993 sind diese Kriterien, die immer gleichzeitig erfüllt sein müssen, als Lehre vom gerechten Krieg in Ziffer 2309 zusammengefasst. Diese Kriterien machen deutlich, dass es der seit Augustinus (354-430) entwickelten Lehre vom gerechten Krieg in erster Linie nicht darum geht, den Einsatz militärischer Mittel zu rechtfertigen, sondern darum, den Frieden zu sichern und den Krieg zu verhindern, bzw. ihn da, wo er nicht zu verhindern ist, zu begrenzen. Die gerechte Verteidigung ist also der Sinn der Lehre vom gerechten Krieg.
Die kritischen Fragen, denen sich diese Lehre stellen muss, betreffen die Kriterien Erfolgswahrscheinlichkeit, Verhältnismäßigkeit, Kontrollierbarkeit des Waffeneinsatzes und Immunität der Nichtkombattanten. Ein Einsatz atomarer Waffen müsse, so wird eingewandt, in jedem Fall gegen diese Kriterien verstoßen. Deshalb sei die Lehre vom gerechten Krieg nicht mehr aufrechtzuerhalten. In der gegenwärtigen Debatte um Krieg und Frieden vertritt Papst Franziskus diese Meinung. In seiner Enzyklika „Fratelli Tutti“ schreibt er 2020, „dass durch die Entwicklung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen … der Krieg eine außer Kontrolle geratene Zerstörungskraft erreicht hat… Angesichts dieser Tatsache ist es heute sehr schwierig, sich auf die in vergangenen Jahrhunderten gereiften rationalen Kriterien zu stützen, um von einem eventuell ‚gerechten Krieg‘ zu sprechen“.
Angenommen, die Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg ließen sich bei einem Einsatz moderner ABC-Waffen wirklich nicht beachten, so würde die Schlussfolgerung lauten, dass Verteidigung zur Schuld würde und daher ein solcher Einsatz nicht zu rechtfertigen wäre. Damit wird der Einsatz militärischer Mittel an der Lehre vom gerechten Krieg überprüft und verworfen. Die Lehre selbst wird damit jedoch nicht widerlegt, sondern bestätigt. Die Frage nach den Bedingungen einer legitimen Verteidigung stellt sich jedoch nicht nur beim Einsatz moderner ABC-Waffen. Auch konventionelle Waffen können ein Zerstörungspotential enthalten, das im Falle seines unterschiedslosen Einsatzes gegen die Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg verstößt, das mithin die legitime Verteidigung zur Schuld werden lässt, wie nicht nur Beispiele im Zweiten Weltkrieg, sondern auch die Kriege Russlands gegen die Ukraine zeigen.
Das Zweite Vatikanische Konzil war hier zurückhaltender. Es hat die ABC-Waffen nicht verurteilt. Es forderte zwar dazu auf, die Frage des Krieges angesichts „der Fortentwicklung wissenschaftlicher Waffen…mit einer ganz neuen inneren Einstellung zu prüfen“. Es band „die Verurteilung des totalen Krieges“ aber nicht an das Zerstörungspotential moderner Rüstung, die es auch bei der Arbeit an „Gaudium et Spes“ schon gab, sondern an die Intention der Kriegführenden: „Jede Kriegshandlung, die auf die Vernichtung ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung unterschiedslos abzielt, ist ein Verbrechen gegen Gott und den Menschen, das fest und entschieden zu verwerfen ist“.
Strategische Atomwaffen mit dem vielfachen Zerstörungspotential der Hiroshima-Bombe über bewohnten Gebieten einzusetzen, wäre ein solches Verbrechen. Damit ist aber noch nicht ein auf militärische Ziele begrenzbarer Einsatz taktischer Atomwaffen ausgeschlossen. Über die Legitimität eines solchen Einsatzes wurde in der Nachrüstungsdebatte heftig gestritten und sie spielt auch in der gegenwärtigen Friedensdiskussion eine Rolle. In der Nachrüstungsdebatte plädierten die amerikanischen Bischöfe für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen. „No first use“ wurde geradezu zu einem Glaubensartikel. Die deutschen Bischöfe stellten dagegen fest, dass „das Risiko der wachsenden Unkontrollierbarkeit des Nukleareinsatzes einerseits und die Gefahr wachsender Wahrscheinlichkeit eines konventionellen Krieges andererseits gegeneinander abzuwägen“ sind. Eine solche Abwägung hat die NATO bis heute davon Abstand nehmen lassen, eine Verzichterklärung auf den Ersteinsatz von Atomwaffen abzugeben. Ein solcher Verzicht hätte die Abschreckungswirkung der NATO reduziert.
Militärische Rüstung bleibt in einer Welt der Gewalt ein unverzichtbares Instrument der Schutzverantwortung des Staates. Sie ist in einem Staat, der Macht und Recht in eine Balance bringt, kein Mittel der Eroberung, aber auch kein Mittel der positiven Friedensförderung. Sie ist ein Instrument der Abschreckung. Sie ist der Versuch, einen Staat oder ein Bündnis von Staaten nicht nur gegen die Androhung und Anwendung von Gewalt, sondern auch gegen politische Erpressung zu schützen. Um dieser Funktion gerecht zu werden und gleichzeitig die politische und diplomatische Friedensförderung nicht zu erschweren, muss die militärische Rüstung erstens hinlänglich und zweitens von Abrüstungsbemühungen begleitet sein. Die Schlussfolgerung aus der Erpressungsgefahr lautet, das Konzept der Abschreckung kann sittlich nicht verworfen werden. Wenn die Begrenzung eines militärischen Konflikts der Sinn der Lehre vom gerechten Krieg ist, liegt die gänzliche Verhinderung eines solchen Konflikts in der Logik dieser Lehre. Alle Bischofskonferenzen zitierten damals die einschlägige Stelle aus der Botschaft von Papst Johannes Paul II. an die Zweite Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen über Abrüstung 1982: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann eine auf dem Gleichgewicht beruhende Abschreckung - natürlich nicht als ein Ziel an sich, sondern als Abschnitt auf dem Weg einer fortschreitenden Abrüstung – noch für moralisch annehmbar gehalten werden. Um jedoch den Frieden sicherzustellen, ist es unerlässlich, dass man sich nicht mit einem Minimum zufrieden gibt, das immer von einer wirklichen Explosionsgefahr belastet ist“.
Wie steht es um die Vorläufigkeit dieser Duldung der Abschreckung? Die deutschen Bischöfe schreiben in ihrem Hirtenbrief „Friede diesem Haus“ 2024, es sei „höchste Zeit, aus der Abschreckung mit nuklearen Mitteln auszusteigen“. Sie fordern die Bundesregierung auf, „im Rahmen der NATO einen Prozess anzustoßen und gemeinsam mit den Bündnispartnern Lösungen zu finden, wie die vermutlich auf absehbare Zeit erforderliche Abschreckung ohne Nuklearwaffen gewährleistet werden kann“. Immerhin halten sie die Abschreckung „auf absehbare Zeit“ noch für erforderlich. Aber ist die Zeit wirklich „absehbar“? Wer kann sagen, wie lange das „Noch“ der Duldung der Abschreckung in der Botschaft Johannes Pauls II. gelten soll? Mit dem Konzilstext „Gaudium et Spes“ muss die Antwort lauten, wenn die Gefahr des Krieges droht „bis zur Ankunft Christi“, wird auch Abschreckung notwendig sein bis zur Ankunft Christi.