Hamburg - 21.08.2023

Resilienz – ein schillernder Begriff mit Potential für die Friedensethik?

Prof. Dr. Franz-Josef Bormann

Nach Priesterweihe (2005) und Ernennung zum Ordinarius für Moraltheologie und Ethik in Paderborn seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) und des Deutschen Ethikrates (DER). Zahlreiche Veröffentlichungen zu medizin- und bioethischen Themen.

 

Der ursprünglich aus der klinischen Psychologie stammende Begriff der „Resilienz“ wird mittlerweile nicht nur in medizin- und umweltethischen Kontexten, sondern auch im Rahmen des Ringens um eine zeitgemäße Friedensethik verwendet. Mit dieser Ausweitung des Gebrauchs gehen zwangsläufig verschiedene Sinnverschiebungen und Unschärfen einher, deren Folgen gegenwärtig kaum absehbar sind. Während sich der Begriff ursprünglich in der psychologischen Forschung auf individuelle „Unterschiede in der Wirkung und Bearbeitungskapazität von Risiken beziehungsweise Vulnerabilitätsfaktoren“[1] bezieht, dient er inzwischen meist dazu, die Fähigkeit von Personen, Institutionen, Gemeinschaften, Gesellschaften oder Staaten zu bezeichnen, krisenhafte Situationen zu überstehen, wobei der genaue Sinngehalt zwischen einer Anpassungs-, Durchhalte- und Widerstandsfähigkeit changiert und damit je nach Anlass, Art und Dauer der Krise unterschiedliche Einzelkompetenzen erfordert, die in fragmentierten Handlungskontexten zudem auf mehrere Akteure verteilt sein können.

Angewandt auf die aktuelle Problematik des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine bedeutet dies, dass etwa die Widerstandskraft des Aggressionsopfers von verschiedenen internen und externen Faktoren abhängt, die sich entweder wechselseitig ergänzen oder aber konflikthaft gegenüberstehen können. Neben einer starken Motivation der ukrainischen Bevölkerung, ihr Staatsgebiet gegen den Eindringling zu verteidigen, bedarf es bekanntlich vielfältiger humanitärer, wirtschaftlicher und militärtechnischer Unterstützung von außen, um die ukrainische Bevölkerung darin zu ertüchtigen, der Übermacht des Angreifers standzuhalten. Entscheidend für die Wirksamkeit der externen Hilfe ist dabei neben dem Umfang auch der richtige Zeitpunkt und die Beständigkeit der gewährten Unterstützungsleistungen, so dass Resilienz gerade im Kontext kriegerischer Konflikte nicht nur momenthaft und situativ bestimmt werden darf, sondern dynamisch und prozesshaft gedacht werden muss. Letzteres ist angesichts der komplizierten politischen Abstimmungsprozesse sowohl innerhalb einzelner Regierungskoalitionen als auch zwischen mehreren Unterstützerstaaten alles andere als trivial und verleiht zeitlich zerdehnten Konflikten insofern ein hohes Maß an Unberechenbarkeit des Ausgangs, als die Störanfälligkeit des Zusammenspiels der jeweiligen Einzelfaktoren mit der Dauer des Konflikts erfahrungsgemäß rapide zunimmt.

Angesichts der Komplexität moderner Formen hybrider Kriegsführung, die neben einer militärischen auch immer stärker eine ökonomische und kommunikative Dimension besitzen, scheinen aus friedensethischer Perspektive vor allem zwei Formen der Resilienz besonders bedeutsam zu sein: Die eine – hier als konzeptionelle Resilienz bezeichnete – Form betrifft die ethische Plausibilität und Kohärenz der jeweiligen Sprach- und Argumentationsstrategie, um die es gerade im kirchlichen Bereich derzeit nicht zum Besten bestellt ist. Die andere – als transformative Resilienz bezeichnete – Form bezieht sich auf den Umgang mit verschiedenen Defiziten, die es sukzessive auf unterschiedlichen Ebenen zu überwinden gilt.

Es gehört zu den prägenden Erfahrungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, dass es das anfänglich in militärischer Hinsicht hoffnungslos unterlegene Aggressionsopfer durch konsequentes kommunikatives Agieren der Staatsführung wider alle Erwartungen geschafft hat, ein Unterstützungsnetzwerk zu organisieren, das dem Kriegsverlauf eine völlig neue Wendung gegeben hat. Integraler Bestandteil dieser völkerrechtlich und ethisch unterfütterten Kommunikationsstrategie ist die gut begründete Annahme, dass kein Staat das Recht hat, einen anderen souveränen Staat nur deswegen anzugreifen, weil er die Macht dazu hat, während umgekehrt das Aggressionsopfer jedes Recht besitzt, sich gegen derartige Angriffe mit allen verhältnismäßigen Mitteln zu verteidigen. Aufgrund massiver russischer Desinformationskampagnen und der vollständigen Instrumentalisierung der russischen Kirchenleitung durch das Putin-Regime ist es gerade für die christlichen Kirchen in dieser Situation von größter Bedeutung, in ihren eigenen Wortmeldungen nicht hinter die eigenen normativen Standards zurückzufallen und damit ungewollt dem Aggressor in die Hände zu spielen. Genau das aber geschieht überall dort, wo versucht wird, einen Keil zwischen die vermeintlich obsolete bellum iustum-Lehre und einen am Leitbild des „gerechten Friedens“ orientierten modernen Ansatz zu treiben und die kirchliche Position dabei auf einen generellen Pazifismus festzulegen. Eine solche Strategie führt gerade nicht zu einer wirklich resilienten ethischen Konzeption, sondern ist aus zwei Gründen von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Zum einen basiert sie auf der falschen Annahme eines normativen Dissenses in der Zielperspektive beider Lehrstücke, der sich bei näherer Betrachtung als unbegründet erweist. Zum anderen sind die von der Tradition bereitgestellten Kriterien zur Prüfung der Legitimität einer militärischen Gewaltanwendung auch heute noch hoch aktuell und unverzichtbar. So wichtig es ist, mögliche Kriegsursachen vorausschauend zu bekämpfen und alles Erforderliche dafür zu tun, dass kriegerische Auseinandersetzungen erst gar nicht ausbrechen, so notwendig bleibt es auch im 21. Jahrhundert, die bewährte Kriteriologie zur Identifikation gerechtfertigter Formen der Gewaltanwendung überall dort konsequent zur Anwendung zu bringen, wo basalste Grundrechte von Gewaltopfern – entweder durch die Invasion einer auswärtigen Macht oder infolge eines Funktionsversagens staatlicher Institutionen in sogenannten failing states – verletzt werden. Statt einen Gegensatz zwischen der traditionellen Lehre vom „gerechten Krieg“ und dem viel umfassenderen neueren Konzept des „gerechten Friedens“ aufzubauen und die beiden Ansätze gegeneinander auszuspielen, wie das in jüngster Zeit bedauerlicherweise nicht nur in einigen markanten Positionierungen der evangelischen Kirche[2], sondern auch in einzelnen Äußerungen von Papst Franziskus[3] geschehen ist, sollte klar und unmissverständlich kommuniziert werden, dass es sich hierbei  um komplementäre Sichtweisen handelt, die sich in normativer Hinsicht wechselseitig ergänzen[4]. Wer sich scheut, die Verantwortlichen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges klar und unmissverständlich beim Namen zu nennen, läuft nicht nur Gefahr, hinter basale ethische Intuitionen zurückzufallen und die eigene Glaubwürdigkeit zu unterminieren, er schwächt auch die Widerstandskraft der Opfer und riskiert eine Zweideutigkeit des eigenen Sprechens, die von interessierter Seite leicht missbraucht werden kann.

Während sich die konzeptionelle Resilienz auf die Kohärenz und argumentative Robustheit der eigenen normativen Urteilspraxis bezieht, verweist der Begriff der „transformativen Resilienz“ auf notwendige Veränderungsprozesse auf operativem Gebiet, um eine höhere Widerstandsfähigkeit gegenüber zukünftigen krisenhaften Entwicklungen zu erreichen, als sie gegenwärtig bereits gegeben ist. Die Herausforderungen in diesem Bereich sind bekanntlich vielfältig und lassen sich grob schematisierend drei verschiedenen Ebenen zuordnen.

Auf nationaler Ebene ist zunächst nüchtern zu konstatieren, dass auch eineinhalb Jahre nach dem russischen Überfall auf die Ukraine die praktische Umsetzung der ausgerufenen „Zeitenwende“ ebenso in weiter Ferne liegt wie die Verwirklichung des damit verbundenen Leitbildes einer wirklich „wehrhaften Demokratie“. Zwar ist ausdrücklich zu begrüßen, dass parteiübergreifend die Überzeugung gewachsen ist, dass Deutschland künftig mehr Ressourcen in die Ertüchtigung seiner Streitkräfte investieren muss, doch ist bereits gegenwärtig abzusehen, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis die Versäumnisse der Vergangenheit auf technischem, personellem und infrastrukturellem Gebiet wenigstens so weit aufgearbeitet sind, dass ein ausreichender und fairer Beitrag zur eigenen Sicherheit geleistet wird. Neben der Bereitschaft zur dauerhaften Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Bündnispartnern bei der Haushaltsplanung bedarf es dazu aber auch eines tiefgreifenden Mentalitätswandels innerhalb der Bevölkerung, der dem individuellen Einsatz für die Verteidigung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gegen innere und äußere Bedrohungen wieder mehr Bedeutung beimisst. Der Umstand, dass die in diesem Zusammenhang aufkeimende Debatte um die Einführung einer – unter anderem auch in der Bundeswehr oder im Katastrophenschutz ableistbaren – allgemeinenDienstpflicht für junge Menschen derzeit auf vielfältige politische Abwehrreflexe stößt, zeigt symptomatisch, wie schwer es den politisch Verantwortlichen noch immer fällt, die notwendigen Umsteuerungen zumindest in die Wege zu leiten.

Auch auf europäischer Ebene fehlt es nicht an gewaltigen Herausforderungen. Der Umstand, dass die EU durch die russische Aggression momentan auf bestimmten Handlungsfeldern eher ein höheres Maß an Geschlossenheit zeigt als in den Jahren zuvor, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hierbei um einen außerordentlich fragilen Zustand handelt, der keineswegs als resilient einzuschätzen ist. Abgesehen davon, dass die europäischen NATO-Staaten sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht nach wie vor ganz erheblich von amerikanischen Sicherheitsleistungen abhängen, scheint selbst zwischen Ländern wie Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Italien noch kein stabiler Konsens darüber zu bestehen, in welche Richtung sie sich verteidigungspolitisch weiterentwickeln sollen. Nach wie vor belasten nationale Egoismen sowie historisch motivierte Vorbehalte und Ängste die zaghaften Versuche der Entwicklung gemeinsamer Waffensysteme, so dass weder von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit noch von einer effizienten Mittelbewirtschaftung im wehrtechnischen Bereich die Rede sein kann. Der Aufbau einer wirklich robusten, europäisch integrierten Sicherheitsarchitektur unter dem Dach der NATO stellt eine Mammutaufgabe dar, deren Bewältigung gegenwärtig kaum abzusehen ist.

Schließlich bedarf es auch auf globaler Ebene energischer Anstrengungen, um überhaupt erst diejenigen Institutionen zu schaffen, die sowohl in präventiver als auch in reaktiver Hinsicht für eine wirklich resiliente Friedensordnung unbedingt erforderlich sind. Dazu gehört nicht nur die seit vielen Jahren geforderte Reform des Weltsicherheitsrates, dessen Zusammensetzung und Struktur mit dem die Nachkriegsordnung widerspiegelnden Veto-Recht der ständigen Mitglieder den inzwischen stark veränderten politischen Realitäten nicht mehr angemessen sind. Es bedarf auch dringend der Etablierung einer globalen Strafgerichtsbarkeit zur Verurteilung völkerrechtswidriger Aggressionen, die bislang lediglich auf lokaler oder regionaler Ebene mit Sanktionen belegt werden können.

Angesichts der rasanten technologischen, ökologischen, kulturellen und politischen Veränderungen in einer immer stärker vernetzten und damit krisenanfälligeren Welt stellt die schrittweise Entwicklung einer wirklich resilienten Friedensordnung zweifellos eine epochale Herausforderung für die gesamte Menschheit dar, der sich niemand auf Dauer entziehen kann und deren Bewältigung eine normative Grundorientierung erfordert, die sich auch in konzeptioneller Hinsicht als robust und widerstandsfähig erweist.

 


[1] Deutscher Ethikrat: Vulnerabilität und Resilienz in der Krise – Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie, Berlin 2022, 165.

[2] Vgl. Heinrich Bedford-Strohm: Gerechter Frieden und militärische Gewalt. Friedensethische Überlegungen im Lichte des Angriffskrieges gegen die Ukraine, in: Herder-Korrespondenz 76 (2022), 14 sowie etwas vorsichtiger Annette Kurschus: Jenseits von Eden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.06.2022, Nr. 130, 7.    

[3] Vgl. Papst Franziskus: Enzyklika Fratelli tutti, Nr. 258.

[4] Vgl. hierzu auch Manfred Spieker: Christliche Friedensethik und der Krieg in der Ukraine. Warum die Lehre vom gerechten Krieg nicht überholt ist, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 51 (2022), 557–569 sowie F.-J. Bormann: Eine ‚Zeitenwende‘ auch für die katholische Friedenslehre? Moraltheologische Überlegungen zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, in: ThQ 203 (2023), 25-43, bes. 31-33.