Hamburg - 04.04.2022

Wie weiter mit der kirchlichen Friedensethik?
Ein moraltheologischer Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine

Prof. Dr. Franz-Josef Bormann

Nach Priesterweihe (2005) und Ernennung zum Ordinarius für Moraltheologie und Ethik in Paderborn seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) und des Deutschen Ethikrates (DER). Zahlreiche Veröffentlichungen zu medizin- und bioethischen Themen.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der nicht erst am 24. Februar 2022 begann, sondern bereits mit der Annexion der Krim 2014 einen ersten Höhepunkt erlebte, ist vielfach als ‚Zäsur‘ bezeichnet worden. Eine solche Einschätzung verrät vermutlich weniger über den objektiven Gang der Ereignisse als über unsere – von vielfältigen Selbsttäuschungen, Fehleinschätzungen und Verdrängungen geprägte – subjektive Wahrnehmung derselben. Denn tatsächlich neu ist weder die Brutalität der russischen Kriegsführung, die mit der wahllosen Bombardierung ziviler Einrichtungen sowie der Misshandlung, Vergewaltigung und Folter von Nonkombattanten auf eine vollständige Missachtung des humanitären Kriegsvölkerrechts hinausläuft, noch die bizarre Propaganda, die mit einer Mischung aus dreisten Lügen, gezielter Desinformation und haarsträubender Geschichtsklitterung seit langem Teil von Russlands hybrider Kriegsführung ist. Wer sich noch an die Spur der Verwüstung erinnert, die Putin in Tschetschenien und in Syrien hinterlassen hat, wird unschwer vielfältige Parallelen zum aktuellen Krieg in der Ukraine entdecken. Neu ist allein der Umstand, dass sich diese brutalen Vorgänge jetzt in relativer Nähe zu uns abspielen und damit zumindest mittelbar auch unsere eigenen Sicherheitsinteressen berühren. Zwar ist es durchaus zu begrüßen, wenn unter dem Druck der Ereignisse jetzt endlich auch innerhalb der deutschen Politik parteiübergreifend die Bereitschaft wächst, frühere Wahrnehmungsmuster kritisch zu hinterfragen und vor allem jene energie- und verteidigungspolitischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte zu korrigieren, die im Ergebnis eine fatale Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energieexporten und eine nachhaltige Schwächung der Bundeswehr bewirkt haben. Doch ist es nicht allein die Bundesregierung, die durch den Krieg in der Ukraine nun plötzlich vor dem Scherbenhaufen einer fehlgeleiteten Politik steht und aufgrund der Kumulation gleich mehrerer Problemlinien schwierige Abwägungen zu treffen hat. Auch die christlichen Kirchen stehen – jenseits ihres praktischen Engagements in vielfältigen humanitären Hilfsprojekten – vor der Herausforderung, ihre jüngeren friedensethischen Positionierungen zu überdenken und so fortzuschreiben, dass sie den gegenwärtigen Herausforderungen entsprechen. Dazu wollen die folgenden Überlegungen anregen.

Grundsätzlich sollte bei aktuellen Wortmeldungen schon aus Gründen der Kohärenz kirchlicher Einlassungen zu Krieg und Frieden stärker darauf geachtet werden, dass basale Einsichten der (eigenen) Tradition nicht verlorengehen. Das gilt zunächst einmal für die bis in die Antike zurückreichende und in ihrem Kern naturrechtliche ‚Lehre vom gerechten Krieg‘ (bellum iustum), die die Legitimität staatlicher Gewaltanwendung an mehrere anspruchsvolle Kriterien – wie z.B. einen gerechten Grund (causa iusta) i.S. eines schweren Unrechts, eine rechte Absicht (recta intentio) i.S. der Beseitigung dieses Unrechts und der Wiederherstellung des ursprünglichen Rechtszustands, die formale Autorität der politischen Führung eines Gemeinwesens (auctoritas principis) oder die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel (proportionalitas) – bindet und über Jahrhunderte hinweg die Grundlage des kirchlichen Einsatzes für eine Befriedung der zwischenstattlichen Beziehungen darstellte. Wendet man diese Kriterien auf den aktuellen Krieg in der Ukraine an, dann muss man sagen, dass der russische Angriff auf den seit 1991 souveränen Staat der Ukraine alle Kriterien eines ungerechten Krieges erfüllt, während die Ukraine ihrerseits jedes moralische Recht hat, sich gegen den Angreifer zu verteidigen, um das Leben und das Selbstbestimmungsrecht der eigenen Bevölkerung sowie die staatliche Integrität zu schützen. Die ethische Bedeutung dieser Einsicht wird nicht dadurch geschmälert, dass sich die kirchliche Position in den letzten Jahren in Richtung eines umfassenden Konzeptes vom ‚gerechten Frieden‘ weiterentwickelt hat, das aus guten Gründen der Gewaltprävention in ihren sozialen, wirtschaftlichen, menschenrechtlichen und ökologischen Dimensionen deutlich mehr Beachtung schenkt[1]. So wichtig es ist, mögliche Kriegsursachen vorausschauend zu bekämpfen und alles Erforderliche dafür zu tun, dass kriegerische Auseinandersetzungen erst gar nicht ausbrechen, so notwendig bleibt es auch im 21. Jahrhundert, nicht nur mit der Möglichkeit zwischenstaatlicher kriegerischer Konflikte zu rechnen, sondern auch die bewährte Kriteriologie zur Identifikation gerechtfertigter Formen der Gewaltanwendung überall dort konsequent zur Anwendung zu bringen, wo basale Grundrechte von Gewaltopfern bedroht sind. Die Beschwörung eines kirchlichen Pazifismus, der sich grundsätzlich weigert, von ‚gerecht(fertigt)en Kriegen‘ zu sprechen und die wahren Ursachen eines realen kriegerischen Konflikts offen beim Namen zu nennen, läuft nicht nur Gefahr, hinter der Differenziertheit traditionellen begrifflicher Unterscheidungen zurückzufallen, sie führt auch in logische und konzeptionelle Widersprüche[2], die letztlich ungewollt den Aggressoren in die Hände spielen.

Die katholische Kirche verteidigt bekanntlich seit jeher das Lebensrecht eines (unschuldigen) Menschen in allen Stadien seiner Existenz. Daraus folgt auch ein moralisches Recht auf Selbstverteidigung gegenüber ungerechten Angreifern, das im Falle militärischer Konflikte jedoch insbesondere dann de facto nur schwer durchzusetzen ist, wenn ein starkes Machtgefälle zwischen dem Aggressor und dem Gewaltopfer besteht. Genau hier brechen schwierige Fragen der Hilfspflichten Dritter auf, die selbst nicht direkt angegriffen worden sind, aber in der Lage wären, dem Gewaltopfer wirksame Hilfe zu leisten. Zur Vermeidung einer Verantwortungsdiffusion hat die moraltheologische Tradition zwei Denkfiguren entwickelt, die zwar primär dem individualethischen Bereich entstammen, mutatis mutandis aber auch auf dem Gebiet des Handelns kollektiver Akteure angewandt werden können.

Die erste Denkfigur betrifft den sog. ordo caritatis, demzufolge Art und Ausmaß unserer jeweiligen positiven Pflichten maßgeblich von den sozialen Beziehungen sowie geographischen Näheverhältnissen zwischen den einschlägigen Akteuren abhängen. Ungeachtet der Universalität basaler Grund- und Menschenrechte, die zu achten jeder immer strikt ausnahmslos verpflichtet ist, gibt es eine gestufte Verantwortlichkeit, die mit wachsender Nähe ansteigt. Auch wenn es zu kurz greift, die erforderliche Unterstützung für die Ukraine, die gegenwärtig weder der NATO noch der EU angehört, direkt gegen die verschiedenen out of area-Einsätze der deutschen Streitkräfte in entlegenen Weltregionen im Rahmen der Bündnisverpflichtungen in Stellung zu bringen, berührt der russische Angriff auf ein osteuropäisches Nachbarland doch in hohem Maße die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur. Es wäre daher eigenartig, wollten wir die deutschen Interessen zwar am Hindukusch verteidigen, unsere ungleich größere Verantwortung gegenüber unseren europäischen Nachbarn gegenüber aber marginalisieren.

Die zweite einschlägige Denkfigur besteht in der Lehre von der ‚Mitwirkung am Bösen‘ (cooperatio ad malum), die neben der aktiven Unterstützung unzulässiger Handlungen auch das schuldhafte Unterlassen einer Gegenwehr umfasst. Wer einem Gewaltopfer helfen kann, sich aber entweder dazu entschließt, keine Hilfe zu leisten, oder sich nicht (rechtzeitig) dazu entschließt, die gebotene Hilfe zu gewähren, der macht sich mitschuldig am verbrecherischen Handeln Dritter. Deutschland ist zwar nicht untätig, sondern übt bereits in einem bislang beispiellosen Ausmaß politischen und wirtschaftlichen Druck auf Russland aus, doch entfalten diese Maßnahmen ihre Wirkung nicht schnell genug, um die russische Aggression zu stoppen. Daher haben sich mehrere westliche Länder inzwischen dazu entschlossen, direkt verschiedene Waffensysteme an die Ukraine zu liefern, um deren Selbstverteidigungsfähigkeit gegenüber einem übermächtigen Angreifer zu stärken. Demgegenüber führt das zögerliche und von wachsenden internen Dissonanzen geprägte Verhalten der Bundesregierung in der Frage der Waffenlieferungen nicht nur zu einem internationalen Reputationsverlust Deutschlands bei den westlichen Verbündeten, es droht auch, genau diejenigen sicherheitspolitischen Ziele zu verfehlen, die sie eigentlich erreichen soll. Zwar dürfen Nato-Staaten nicht zur direkten Kriegspartei in dem Sinne werden, dass sie mit eigenen personellen Mitteln auf dem Staatsgebiet der Ukraine operieren, doch besteht unabhängig von bündnisbezogenen Beistandsregeln eine moralische Verpflichtung alles Mögliche zu tun, um das Gewaltopfer in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit zu wirksamer Selbstverteidigung zu ertüchtigen. Das schließt gegebenenfalls auch die Lieferung sog. schwerer Waffen ein, wenn nur diese geeignet sind, die Eroberung weiterer Teile der Ukraine durch den Aggressor zu verhindern. Sollte es nicht gelingen, Putins Invasion durch massive militärische Gegenwehr zeitnah zum Stillstand zu bringen, hätte das nicht nur fatale Folgen für die Option, die aktuelle militärische Konfrontation auf dem Verhandlungsweg zu beenden, es würde Russland auch zu weiteren militärischen Abenteuern in anderen ‚abtrünnigen Sowjetrepubliken‘ motivieren und damit die globale Sicherheitslage insgesamt weiter destabilisieren.

Die katholische Kirche ist eine der wenigen globalen Institutionen, die sich uneingeschränkt nicht nur für die Stärkung des Weltfriedens, sondern auch für die schrittweise Entwicklung eines umfassenden Weltgemeinwohls einsetzt. Im Wissen um die Verstrickung des Menschen in Sünde und Schuld, weiß sie aber auch um die Notwendigkeit, das Böse notfalls mit den Mitteln der Gewalt einzudämmen. Gerade der Realismus der christlichen Eschatologie, die um die Spannung des ‚schon‘ und ‚noch nicht‘ weiß, kann sie davor bewahren in einen realitätsfernen Utopismus abzugleiten, der vor den konkreten Verantwortlichkeiten der unmittelbaren Gegenwart kapituliert.

 


[1] Die deutschen Bischöfe: Gerechter Frieden (27. September 2000), 4. Aufl. 2013.

[2] Vgl. U. Steinhoff: Gerechtigkeit kann schrecklich sein. Friedensethik hilft hier nicht weiter: Prüfkriterien für den gerechten Krieg, in: FAZ vom 23. April 2022, Nr. 94, S.9.