Hamburg - 12.02.2024

Weltordnung im Umbruch

Prof. Dr. Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2009, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse), sowie „Der große Krieg“ (2013), „Die neuen Deutschen“ (2016), „Der Dreißigjährige Krieg“ (2017) und „Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“ (2023, ausgezeichnet mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch), die alle monatelang auf der Bestsellerliste standen. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship.

Global betrachtet sind die Kriege nie gänzlich verschwunden, auch nicht während im Nachhinein friedlich anmutender Perioden: nicht in der Zeit des Ost-West-Konflikts, als von proxy wars, von Stellvertreterkriegen, die Rede war, in denen die beiden Blöcke oder zumindest deren Führungsmächte USA und Sowjetunion in Mittelamerika und Afrika, im Nahen Osten und in Südostasien um geopolitisch bedeutsame Einflusszonen kämpften, und auch nicht während der nach 1989/91 entstandenen US-amerikanisch dominierten Weltordnung, als an den Großen Seen Afrikas, von Ruanda bis in den Ostkongo, der mit geschätzt fünf Millionen Toten verlustreichste Krieg nach 1945 geführt wurde. Damals kamen die Kriege am Horn von Afrika oder die jugoslawischen Zerfallskriege in Europa noch dazu, von den zahlreichen Militärinterventionen der USA im Nahen und Mittleren Osten ganz zu schweigen. – Und doch sind wir seit einigen Jahren von dem Gefühl beherrscht, der Krieg sei in einer Weise in die Politik zurückgekehrt, wie wir das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr für möglich gehalten hatten.

Von einer neuen „Unordnung“ in der internationalen Politik ist die Rede oder auch davon, dass „die Welt aus den Fugen“ geraten sei, was zumindest impliziert, die Welt sei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ordnung gewesen und auch danach noch, als die USA die Position eines globalen Hegemons übernahmen. Haben wir es mit einer Wahrnehmungsverzerrung zu tun, bei der die Vergangenheit grundsätzlich in einem rosigeren Licht erscheint als die Gegenwart? Oder spielt aus europäischer Sicht eine Rolle, dass die früheren Kriege (sieht man einmal von denen in Ex-Jugoslawien ab) sich in weiter Entfernung abspielten und nicht damit zu rechnen war, dass der Krieg „zu uns“ kommen würde? Haben wir nur vergessen, was uns früher beunruhigt hat, etwa die Debatte um Vor- und Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen in den 1980er Jahren? Oder hat sich tatsächlich etwas geändert, und es besteht wirklich Anlass zu gesteigerter Sorge?

Immerhin: die Kriege der Vergangenheit wurden an der Peripherie der globalen Ordnungszentren geführt, die meisten davon an der Überlappungszone von reichem Norden und armen Süden, und wenn in ihnen zwei Staaten aufeinandertrafen, so sorgten die hegemonialen Mächte umgehend dafür, dass diese Kriege nach kurzer Zeit beendet wurden. Bei den meisten dieser Kriege handelte es sich ohnehin um innergesellschaftliche Kriege, also Bürgerkriege, in denen soziale Klassen, ethnische Gruppen oder konfessionelle Gemeinschaften um Macht und Einfluss rangen bzw. von außen in Form von Militärinterventionen diese Kriege beendet werden sollten. Die Grundstruktur der Weltordnung ist in keinem dieser Kriege in Frage gestellt worden. Im Hinblick auf die globale Ordnung waren es periphere Kriege, und der einzige grundlegende Wandel dieser Ordnung in den letzten acht Jahrzehnten, nämlich der von 1989/91, fand ohne begleitende Kriege statt. Man konnte also mit Grund den Eindruck haben, die Welt sei „in Ordnung“, auch wenn sie keineswegs gewaltfrei war.

Das ist inzwischen nicht mehr der Fall: der Krieg in der Ukraine, der bereits 2014 begann, aber durch die beiden Minsker Abkommen für einige Jahre weitgehend eingefroren war, bevor er am 24. Februar 2022 mit dem russischen Überfall zu einem großen Krieg wurde, hat das Zeug, die europäische Nachkriegsordnung grundlegend in Frage zu stellen; der Krieg in und um Gaza ist offensichtlich nicht durch ein politisches Arrangement der großen Unterstützermächte zu beenden, und die Huthis im Jemen konnten durch einen Aufmarsch vor allem amerikanischer Kriegsschiffe nicht daran gehindert werden, das Rote Meer befahrende Containerschiffe anzugreifen und dadurch eine der großen globalen Handelsrouten zu bedrohen. Der Krieg ist in die Zentren der Weltordnung eingedrungen, und es ist nicht abzusehen, wie und wann er daraus wieder verschwinden wird.

Betrachtet man die drei genannten Kriege, so stehen sie für eine weitreichende Erosion der alten Weltordnung und ein großes „Stühlerücken“ in der Vorbereitung auf die Formierung einer neuen Weltordnung. Bei der ist im Augenblick freilich noch unklar, ob sie auf eine veränderte Hierarchie der Staaten oder auf eine Anarchie der Staatenwelt hinauslaufen wird. Nur ersteres wird den Begriff einer „Ordnung“ für sich in Anspruch nehmen können; letzteres nicht, weil es in diesem Fall keine Mächte gibt, die allein mit Andeutungen und Androhungen Kriege beenden oder deren Ausbruch im Ansatz schon verhindern können. In einer Anarchie der Staatenwelt ist mit dem Gebrauch militärischer Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele immer zu rechnen. Es wird sich in den nächsten Jahren entscheiden, ob die Kriege vom Asowschen und Schwarzen Meer bis zum Ausgang des Roten Meers zum Indischen Ozean nur ein Zwischenspiel beim Wandel der Weltordnung waren oder ein Vorspiel auf das, was auf eine Permanenz von Kriegsdrohungen und Kriegsführung hinauslaufen dürfte.

Die Erosion der US-dominierten Weltordnung begann, als allmählich klar wurde, dass die USA mit der Rolle des Hüters dieser Ordnung überfordert waren bzw. zunehmend weniger Bereitschaft zeigten, die damit verbundenen Lasten und Kosten auf Dauer zu tragen. Das begann mit dem amerikanischen Scheitern im Irak, als die USA zwar den Dritten Golfkrieg gewannen, aber nicht in der Lage waren, im Nahen und Mittleren Osten politische Stabilität in Verbindung mit wirtschaftlicher Prosperität herzustellen. Sie setzte sich fort in Barack Obamas Feststellung, die USA seien nicht mehr zu einer gleichzeitigen und gleichgewichtigen Machtprojektion in den pazifischen und den atlantischen Raum in der Lage und würden sich fortan auf den pazifischen Raum konzentrieren. Sie fanden ihren vorläufigen Abschluss in dem von Donald Trump ausgehandelten Abzug aus Afghanistan, der zumindest in Moskau als Zeichen der Schwäche „des Westens“ aufgefasst wurde: Wer nach zwei Jahrzehnten gewaltiger Anstrengungen am Hindukusch nicht mehr im Sinn hatte, als so schnell wie möglich das Projekt aufzugeben und zu verschwinden, der würde, so das Kalkül im Kreml, einem revisionistisch agierenden Russland nicht entschieden entgegentreten. Die Verabschiedung der USA aus der Rolle des Hüters, die sie – zugegeben – nicht immer geschickt und mit politischem Weitblick gespielt hatten, wurde als implizite Lizenz verstanden, man könne seine Interessen jetzt auch unter Einsatz militärischer Gewalt verfolgen.

Wie groß die damit ausgelöste Kettenreaktion sein wird, lässt sich zurzeit nicht absehen. Ein Blick auf die so genannte Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 zeigt, dass eine Friedensordnung, die keinen Hüter hat, schnell ihre bindende Kraft verliert. Dann wird der Krieg wieder zum Instrument bei der Verfolgung von Interessen und der Durchsetzung von Ansprüchen, und wenn ein Erster dabei erfolgreich ist, zieht das einen Schwarm von Nachahmern nach sich, die ebenfalls versuchen wollen, Grenzziehungen zu revidieren. Deswegen entscheidet sich daran, ob Putin in der Ost- und Südukraine Erfolg hat, mehr als die politische Zukunft der Ukraine: Kommt es zu relevanten Grenzverschiebungen, so werden sich zumindest der türkische Präsident Erdoğan und der serbische Präsident Vućič fragen, ob sie nicht ähnliches probieren sollten. Und wenn sie damit Erfolg haben, wird das für die Rechtspopulisten und Rechtsextremisten im übrigen Europa ein Zeichen sein, dass auch sie bestehende Grenzen in Frage stellen könnten. Und wenn die Huthis am Ausgang des Roten Meers den Welthandel beeinflussen können, warum sollten dann nicht auch andere an den Engpässen der Seefahrtslinien ähnliches versuchen? – Das ist dann die eskalatorische Bahn zur Anarchie der Staatenwelt.

Es könnte aber auch eine ganz andere Entwicklung eintreten: Man könnte im Kreml zu dem Ergebnis kommen, dass ein lange dauernder Krieg in und um die Ukraine mehr kostet als er im günstigsten Fall einbringt; die Chinesen könnten zu dem Ergebnis gelangen, dass eine Unterbrechung der globalen Handelsketten durchs Rote Meer eine für sie untragbare Belastung ihres wirtschaftlichen Austauschs mit Europa darstellt, und gemeinsam mit den USA und den Europäern daselbst für Ruhe sorgen. Das würde nicht ohne Folgen für Russland und den Iran bleiben, die ihre Ziele mit einer wesentlich destruktiven, ordnungszerstörenden Politik verfolgen. Es könnte sich eine Koalition der konstruktiven Mächte bilden, zu denen dann auch Indien gehören dürfte. und diese zunächst situationsbezogene Koalition könnte sich zu dem Träger einer neuen Weltordnung entwickeln. Die Aufgaben des Hüters, die den USA zu schwer geworden sind, würden dann auf mehrere Schultern verteilt, und die fraglichen Mächte wären bereit, diese Lasten zu tragen, weil ihnen klar ist, dass sie nur in einer geordneten Welt ihre Potentiale entfalten können. Eine ungeordnete Welt würde hingegen diese Potentiale blockieren, wenn nicht zerstören. Das würde dann wohl hinreichen, um Russland zu einer nachhaltigen Abkehr von seiner derzeitigen ordnungsfeindlichen Politik zu nötigen.

Und die Europäer – welche Rolle können sie in einer neuen Weltordnung spielen? Von ihren wirtschaftlichen Potentialen her würden sie in die erste Reihe der Weltordnungsmächte gehören. Sie sind jedoch politisch wenig handlungsfähig, weil sich immer einer findet, der die Beschlussfassung blockiert, und weil die Kompromissfindung in Brüssel zu lange dauert, um als ausschlaggebender Akteur ernst genommen zu werden. Die Europäische Union muss sich aus einem umtriebigen Regelgeber, der sich inzwischen selbst im Gewirr seiner Regelungen verfangen hat, in einen politisch ernst zu nehmenden Akteur verwandeln. Das hat tiefgreifende Veränderungen in der institutionellen Struktur der EU zur Voraussetzung. Diese jetzt ins Werk zu setzen – oder eben auch nicht – wird darüber entscheiden, ob Europa in der neuen Weltordnung ein maßgeblicher Akteur oder nur ein randständiger Statist sein wird.