Prof. Dr. Sven Bernhard Gareis ist seit 2023 Direktor bei der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und dort Leiter der Fakultät Politik, Strategie, Gesellschaftswissenschaft. Seit 2007 ist er Honorarprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster. Er gibt hier ausschließlich seine persönlichen Auffassungen wieder.
Die Welt ist im Umbruch, in Aufruhr, aus den Fugen – es gibt viele Bilder, welche die gefährlichen Zeiten beschreiben, durch welche Deutschland und viele weitere Länder gerade gehen. Die russischen Aggressionen gegen die Ukraine seit 2014 und 2022 haben einen verheerenden Krieg nach Europa hineingetragen, die Aussichten für eine stabile europäische Friedens- und Sicherheitsordnung langfristig zerstört und auch in vielen EU- und NATO-Ländern Bedrohungsängste ausgelöst. In der europäischen Nachbarschaft ist die Situation im Mittleren Osten und in Nordafrika seit langem von (Bürger)Kriegen in Syrien und Jemen geprägt; in dem am 7. Oktober 2023 durch die Angriffe der Terrororganisation Hamas auf Israel ausgelösten Gaza-Krieg geht die berechtigte Selbstverteidigung Israels einher mit unermesslichem Leid für die palästinensische Zivilbevölkerung. Die terroristische Bedrohung seitens des Islamischen Staates (IS) und seiner Ableger besteht fort und destabilisiert weiter Teile Nordafrikas und des Sahel. Kriege und Klimawandel haben in Teilen Afrikas und Asiens vielmillionenfache Flucht- und Migrationsbewegungen ausgelöst, die neben der Not für die unmittelbar betroffenen Menschen auch die Ziel- und Aufnahmeländer vor zunehmende Herausforderungen stellen. Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, wie schnell und massiv ein sich mittels globaler Verkehrsverbindungen ausbreitendes Virus Einfluss auf Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt nehmen kann. Die immer schwereren Wetter- und Klimaereignisse machen deutlich, wie anfällig auch hochentwickelte Staaten für Naturkatastrophen aller Art sein können. Die internationale Ordnung insgesamt befindet sich im Übergang von der globalen Dominanz der USA zu einer Art multipolarer Ordnung, deren genaue Gestalt noch nicht absehbar ist und deren Regeln erst entwickelt werden müssen – die aber bereits massiv durch den Großmächtekonflikt zwischen den USA und der Volksrepublik China geprägt ist.
Wachsende Verunsicherung in Deutschland
Anders als noch vor einigen Jahren sind die Auswirkungen all dieser Krisenszenarien in Deutschland immer direkter und intensiver zu spüren. Unterbrechungen von Lieferketten als Folge von Pandemien oder durch Angriffe auf die internationale Handelsschifffahrt etwa im Roten Meer haben direkte Folgen für eine global vernetzte Volkswirtschaft wie Deutschland und lösen Sorgen um den Fortbestand des eigenen Wohlstands aus. Russlands Krieg führte zum sprunghaften Anstieg zunächst von Energie- und dann von Lebensmittelpreisen, was schließlich in eine allgemeine und hohe Inflation bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Stagnation mündete. Neben verbreiteten Ängsten vor sozialem Abstieg oder vor zu großer Einwanderung zeigt sich in vielen Teilen der Gesellschaft Ermüdung und Vertrauensverlust in lange Zeit erfolgreiche Verfahren deutscher Sicherheits- und Daseinsvorsorge. Wie in vielen anderen Ländern erstarken auch in Deutschland Parteien, die einfache nationale Lösungen für komplexe innerstaatliche wie internationale Herausforderungen versprechen – und Vorteile aus der faktischen Überforderung von Regierung und Gesellschaft mit den sich überlagernden Großkrisen ziehen wollen. Die seit langem erkennbaren Prozesse gesellschaftlicher Fragmentierung haben sich nach mehr als einem Jahrzehnt dauerhafter Polykrisen und getrieben durch Gefühle tiefer Verunsicherung und Zukunftsängsten weiter beschleunigt. Was ist zu tun?
Zeitenwende verlangt strategisches Umdenken
Als weltweit aktive Wirtschaftsnation hat Deutschland jahrzehntelang von einer auf multilateraler und institutionalisierter Kooperation basierenden internationalen Ordnung profitiert. Es herrschte die Überzeugung vor, dass die Akteure in gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnissen zueinander stehen, welche Kooperation mit wachsendem Nutzen belohnen und Verweigerung mit Nachteilen bestrafen. Die deutsche Politik vertraute darauf, dass ihre Partner dieser Rationalität ebenfalls folgen – und auf die Stärke, Innovationskraft und Attraktivität der eigenen Wirtschaft. Konflikte konnten so durch Regeln, Institutionen, Interessenausgleich, Kompromisse und manchmal auch durch finanziellen Einsatz verhindert oder beigelegt werden, während harte Machtmittel wie insbesondere das Militär dagegen eher skeptisch betrachtet wurden. Eingebunden in verlässliche Allianzen konnte sich Deutschland so als Zivilmacht mit sehr begrenzten Ambitionen in der klassischen Machtpolitik erfolgreich in der Spitzengruppe globalen Wirtschaftsnationen etablieren. Auch im Innern herrschte lange das Vertrauen vor, dass die staatlichen Sicherheitsagenturen die bestehenden und aufkommenden Risiken hinreichend kontrollieren und von den individuellen Lebenswelten der Einwohnerinnen und Einwohner fernhalten könnten.
Die von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 unmittelbar nach der neuerlichen, umfassenden Aggression Russlands gegen die Ukraine ausgerufene Zeitenwende macht klar, dass die als gegeben betrachtete Ordnung und die an sie geknüpften Erwartungen nicht länger Bestand haben. Erforderlich ist ein strategisches Umdenken in vielen Bereichen. Auf internationaler Ebene wird Deutschland um eine aktivere Rolle als Lieferant von Leistungen zu Sicherheit und Stabilität nicht umhinkommen. Dies schließt sowohl den Bereich militärischer Fähigkeiten ein als auch die Übernahme einer ausgeprägteren Führungsrolle in Europa. Deutschlands machtpolitische Zurückhaltung wird in vielen Hauptstädten bereits seit längerem als den politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes nicht angemessen betrachtet. Auch im innerstaatlichen Bereich wird von den verantwortlichen Akteuren Klarheit, Entschlossenheit und nicht zuletzt Mut zur politischen Führung bei der Benennung und Behandlung von Herausforderungen verlangt. Wenn etwa Verteidigungsminister Boris Pistorius davon spricht, dass die Bundeswehr binnen weniger Jahre „kriegstüchtig“ gemacht werden muss, ist dies zweifellos eine drastische Wortwahl. Sie erscheint aber als ein wichtiger Debattenbeitrag in einer Situation, in der sehr konkrete Gefahren nicht mehr verdrängt oder mit beschönigenden Formulierungen kleingeredet werden können.
Gesamtgesellschaftlich kommen auch neue Anforderungen auf die einzelnen Einwohnerinnen und Einwohner bezüglich ihrer Verantwortung für die eigene Sicherheit zu. Zwar befindet sich Deutschland in keinem klassischen Krieg – ist aber vielfältigen Formen hybrider Kriegsführung ausgesetzt, die auf die Schwächung seiner freiheitlichen Demokratie durch gesellschaftliche Spaltung und Vertrauensverlust in staatliche und gesellschaftliche Institutionen zielen und versuchen, gesellschaftliche Diversität in gesellschaftliche Fragmentierung zu verwandeln. In einer Gesellschaft, die verlernt hat, Kompromisse zu suchen und zu finden, können sich dann rasch autoritäre Ordnungsstrukturen herausbilden. Zur individuellen staatsbürgerlichen Verantwortung gehört daher zunehmend – neben mehr Wissen über und Sensibilität gegenüber Bedrohungen im Cyberraum oder durch Desinformationskampagnen – mittels größerer Achtsamkeit, gegenseitigen Respekt, Diskursoffenheit und Kompromissfähigkeit zu mehr Bürgersinn zu gelangen und wieder ein Klima zu schaffen, welches Diversität als Stärke einer freiheitlichen Demokratie ermöglicht, einfordert und so die Risiken der gesellschaftlichen Spaltung verkleinert.
Gesamtgesellschaftliche Resilienzbildung als strategische Zielgröße
Blickt man auf die Herausforderungen von Polykrisen wird klar, dass sich hochdifferenzierte Gesellschaften wie in Deutschland und Europa nicht mehr an erwartbaren Trends oder Szenarien orientieren können, schon weil durch die Rasanz der technologischen Entwicklung im Cyber- und Informationsraum, aber auch im Bereich von Waffensystemen die Erwartungshorizonte immer kürzer werden. Vielmehr wird neben den Bemühungen um die Kontrolle bekannter Herausforderungen auch das Eintreten unerwarteter und unbekannter Risiken jeglicher Art – von der Naturkatastrophe bis zum militärischen Gewaltakt – als Teil einer komplexen Lebensrealität anerkannt werden müssen (all-hazard approach). Neben die klassische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik treten demnach verstärkt Bemühungen, die Überlebensfähigkeit staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen sowie deren Funktionsweisen so abzusichern, dass diese nach einem nicht abwendbaren Schadensereignis so rasch wie möglich zu einem größtmöglichen Maß an Normalität zurückkehren können. Eine sicherheitspolitische Strategie muss daher Strukturen mit dezentralen Verantwortlichkeiten aufbauen, die dann aber im Falle eines Schadensereignisses auch wieder zusammenarbeiten und Funktionen füreinander übernehmen können. Dazu bedarf es neben klaren rechtlichen Regeln eingespielter digitaler Netzwerke mit hinreichenden Redundanzen, aber auch lokaler Vorkehrungen für das Überleben essenzieller Einrichtungen wie Sicherheitsinstitutionen, Verwaltung, Gesundheitsvorsorge und vor allem kritischer Infrastruktur wie Kommunikation, Wasser, Strom, Wärme und Ernährung.
Für diese Art von Überlebensfähigkeit hat sich auch in der Außen- und Sicherheitspolitik der aus der Psychologie übernommene Begriff der Resilienz etabliert – hinter dem sich ein komplexes Konzept gesamtstaatlicher und -gesellschaftlicher Sicherheitsvorsorge als whole-of-society approach verbirgt. Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie (2023) bezeichnet ihren umfassenden Ansatz als „Integrierte Sicherheit“, die mit den Attributen „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig.“ weiter ausbuchstabiert wird. Damit wird Bezug genommen auf klassische Formen der Sicherheitsvorsorge etwa durch das eigene Militär und die Mitgliedschaft in Organisationen und Bündnissen wie VN, EU und NATO, auf gesamtgesellschaftliche Anstrengungen gegen neue Bedrohungsformen und auf Beiträge zur Bewältigung globaler Herausforderungen wie der nachhaltigen Entwicklung.
Fazit: Wir haben es in der Hand
Das Fundament von Resilienz besteht in Demokratien im Grundvertrauen zwischen einem funktionsfähigen Staat und der diesen tragenden Gesellschaft, die bei aller Unterschiedlichkeit von Lebensformen, Meinungen oder Prägungen ihrer Mitglieder die gemeinsame Verantwortung für das Miteinander nicht verloren hat.
Für ein solches Grundvertrauen ist auch in Deutschland ein Staats- und Verwaltungsapparat, funktionierende Institutionen der Daseinsvorsorge vom Kultur-, Sozial- und Gesundheitswesen über Infrastruktur, Polizei und Justiz bis hin zur Bundeswehr eine notwendige Bedingung. Weiter erforderliche Wege erläutert der World Happiness Report, ein globales Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen zur Erfassung von Lebensqualität entlang von Kategorien wie Einkommen und Wohlstand, Gesundheit, gesellschaftliche Unterstützung, Freiheit in der Lebensgestaltung, Großzügigkeit (im Sinne von Beiträgen zur Gemeinschaft) und Freiheit von Korruption. Der seit 2012 erscheinende Bericht zeigt regelmäßig die engen Zusammenhänge zwischen einer hohe Lebensqualität ermöglichenden guten und inklusiven Regierungsführung sowie dauerhafter gesellschaftlicher Stabilität auf. Der Nexus ist offensichtlich: Höhere Lebensqualität steigert die Bereitschaft zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung und reduziert die Gefahren von Fragmentierung und Spaltung. Dem entsprechen die Befunde, die Daron Acemoglu und James A. Robinson in ihrer global vergleichenden Studiensammlung zur Frage „Warum Nationen scheitern“ aufzeigen: inklusive Gesellschaften sind stabiler, anpassungsfähiger und gegenüber Krisen resilienter als solche, deren Mitglieder nach Vorteilen und Privilegien zu Lasten anderer streben.
Deutschland ist im World Happiness Report 2024 erstmals aus der Gruppe der zwanzig zufriedensten Nationen herausgefallen – was wohl zum guten Teil auf die eingangs dargelegten Belastungen zurückgeführt werden kann. Die Messgrößen des Reports zeigen aber auch Wege auf, wie Staat und Gesellschaft in gefährlichen Zeiten wieder enger zusammenrücken und besser mit gefährlichen Krisen umgehen können.