Hamburg - 23.10.2024

Unterwegs zur ‚Verteidigungsfähigkeit‘?

Prof. Dr. Franz-Josef Bormann ist nach Priesterweihe (2005) und Ernennung zum Ordinarius für Moraltheologie und Ethik in Paderborn seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Von 2010 bis 2022 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) und von 2016 bis April 2024 Mitglied des Deutschen Ethikrats (DER). Zahlreiche Veröffentlichungen zu medizin- und bioethischen Themen.

Es sind oft einzelne Begriffe, die über den tagesaktuellen Anlass ihrer Verwendung hinaus zu Kristallisationspunkten weitreichender politischer und ethischer Diskussionen werden: ‚Zeitenwende‘ und ‚Kriegstüchtigkeit‘ sind in jüngster Zeit prominente Beispiele dafür.

Als der deutsche Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 davon sprach, dass der drei Tage zuvor begonnene russische Überfall auf die gesamte Ukraine eine „Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“ markiere, da bedeutete das zunächst nicht viel mehr als das öffentliche Eingeständnis, dass eine bestimmte – in den letzten dreißig Jahren eingeübte – politische Alltagsroutine des Ost-West-Verhältnisses an ihr definites Ende gekommen war. Vorbei die Zeiten, in denen die äußere Sicherheit in Europa als eine Selbstverständlichkeit betrachtet wurde und das deutsche Verhältnis zu Russland primär unter merkantilen Gesichtspunkten gestaltet werden konnte. Vorbei auch die Zeiten, in denen die Bundesrepublik unter dem Schutzschirm ihrer Verbündeten die eigenen Verteidigungsausgaben immer weiter zu reduzieren vermochte, ohne dafür unmittelbar einen spürbaren politischen Preis bezahlen zu müssen. Die Rede von der ‚Zeitenwende‘ verwies damit auf einen einschneidenden Korrekturbedarf in der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik, ohne das genaue Ziel des erforderlichen Neuanfangs selbst inhaltlich näher zu bestimmen.

Das ist anders bei dem zweiten Begriff der ‚Kriegstüchtigkeit‘, den der deutsche Bundesverteidigungsminister in der Regierungebefragung am 5. Juni 2024 unter dem Eindruck des ins dritte Jahr gehenden Ukrainekrieges verwendete. Sein Hinweis, Deutschland müsse „bis 2029 kriegstüchtig sein“, ließ zwar erahnen, wohin die Reise gehen sollte, doch stellte sich sogleich die Frage, ob dieser Begriff psychologisch klug gewählt und eingedenk der historischen Hypotheken auf der deutschen Politik der Sache nach überhaupt dazu geeignet war, das Ziel verantwortlichen Handelns in einer veränderten geopolitischen Lage angemessen zu bestimmen. Tatsächlich gibt es gute Gründe dafür, statt von ‚Kriegstüchtigkeit‘ besser von ‚Verteidigungsfähigkeit‘ zu sprechen, da sich die transatlantische Allianz der NATO ihrem eigenen Selbstverständnis nach nicht nur als Wertegemeinschaft freier demokratischer Staaten, sondern ausdrücklich auch als Verteidigungsbündnis versteht. Da jedoch auch diese Zielbestimmung wegen ihrer Abstraktheit in mehrfacher Hinsicht konkretisierungsbedürftig erscheint, sollen nachfolgend ohne Anspruch auf Vollständigkeit sechs konstitutive Dimensionen solcher Verteidigungsfähigkeit voneinander unterschieden werden:

Die erste Dimension ist finanzieller Art. Deutschland gibt trotz des sog. Sondervermögens von 100 Mrd. Euro noch immer viel zu wenig für seine Sicherheit aus. Zwar wird mit Mühe und Not – und einigen Buchungstricks der Ampelregierung – das von der Nato vorgegebene 2 %-Ziel in diesem Jahr erstmalig wieder erfüllt, doch ist dessen Erreichen in den nächsten Jahren nicht nur nicht gesichert, sondern sogar extrem unwahrscheinlich, wenn es nicht endlich zu substantiellen Umschichtungen innerhalb des Bundeshaushaltes kommt. Ein nüchterner Blick auf die Haushaltsplanung der derzeitigen Bundesregierung führt jedenfalls zu der ernüchternden Einsicht, dass die Rhetorik der ‚Zeitenwende‘ bislang noch nicht zu entsprechenden Umsteuerungen bei der Mittelvergabe geführt hat.

Die zweite Dimension ist militärtechnischer Art. Die jahrzehntelange Sparpolitik im Verteidigungshaushalt hat dazu geführt, dass seit langem in allen Waffengattungen eine Mangelwirtschaft herrscht. Es gibt in der ausgebluteten Bundeswehr von allem zu wenig, so dass nur ein Bruchteil der vorhandenen Waffensysteme überhaupt einsatzbereit ist. Mal scheitert es an Ersatzteilen, mal fehlt die nötige Munition, mal hapert es an der erforderlichen Logistik. Seit Jahren gelingt es nicht, die dysfunktionalen Entscheidungsprozesse im schwerfälligen Beschaffungsamt (BAAINBw) durchgreifend zu reformieren. Das sind schlechte Voraussetzungen dafür, künftig i.S. einer europäischen Verteidigungspolitik die Entwicklung moderner Waffensysteme gemeinsam mit anderen Ländern so voranzutreiben, dass einerseits die mittel- und langfristigen Planungsbedarfe der Rüstungsindustrie angemessen berücksichtigt werden und andererseits die Kosten für die Steuerzahler kalkulierbar bleiben und nicht länger regelmäßig aus dem Ruder laufen. Statt teurer nationaler Prestigeprojekte braucht es eine Konzentration der Entwicklung auf wenige sinnvolle Waffensysteme, deren Einsatz, Wartung und Logistik dann auch grenzüberschreitend zusammen mit den Bündnispartnern gelingt.

Eine dritte Dimension der Verteidigungsfähigkeit betrifft deren personelle Voraussetzungen. Zwar steht es einem Land grundsätzlich frei, ob es seine Streitkräfte i.S. einer reinen Berufsarmee organisiert oder zusätzlich für bestimmte Aufgaben auch auf Wehrdienstleistende, Reservisten oder Freiwillige zurückgreift, doch ist sicherzustellen, dass insgesamt eine ausreichende Personalausstattung erreicht wird. Das dürfte nur möglich sein, wenn der Militärdienst grundsätzlich als wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Friedenssicherung wahrgenommen und in breiten Bevölkerungsschichten auch als solche anerkannt wird, was in Deutschland derzeit nicht (mehr) der Fall ist. Da die Bundeswehr ebenso wie das generelle Thema der äußeren Sicherheit durch die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 in eine aufmerksamkeitsökonomische Randlage abgedrängt wurde, bedarf es verstärkter Anstrengungen zur Korrektur dieser fatalen Fehlentwicklung. Die Einführung einer sog. allgemeinen Dienstpflicht für junge Männer und Frauen, die u.a. auch bei der Bundeswehr abgeleistet werden könnte, wäre zwar ungeeignet, die derzeitigen personellen Engpässe bei der Erfüllung hochspezialisierter militärischer Aufgaben zu lindern, doch könnte sie indirekt die Voraussetzungen dafür verbessern, das Militär überhaupt als möglichen Arbeitgeber kennenzulernen und bei der eigenen Berufswahl ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Eng damit verbunden ist eine vierte Dimension der Verteidigungsfähigkeit, die deren mentale Voraussetzungen betrifft. Angesichts der erschreckenden Erfolge der hybriden russischen Kriegsführung, die mit den Mitteln gezielter Desinformation sowie finanzieller und organisatorischer Unterstützung extremistischer politischer Kräfte im Westen – wie z.B. des BSW oder der AfD – darauf abzielt, die eigenen imperialistischen Bestrebungen zu verschleiern und innerhalb öffentlicher Meinungsbildungsprozesse den Boden für eine Täter-Opfer-Umkehr zu bereiten, bedarf es verstärkter Anstrengungen zur politischen Aufklärung auf allen Ebenen unseres Bildungssystems. Da die freiheitlich demokratische Gesellschaftsordnung zunehmend von verschiedener Seite unter Druck gerät, sollte dem Thema der ‚wehrhaften Demokratie‘ künftig nicht nur in ihren militärischen, sondern auch in ihren geistig-ideellen Implikationen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Denn nur wer das Wertefundament einer freiheitlichen Gesellschaft angemessen zu würdigen weiß, wird auch die nötige Wachsamkeit und Widerstandskraft gegenüber propagandistischer Einflussnahme durch Agenten totalitärer Systeme aufbringen.

Verteidigungsfähigkeit hat fünftens aber auch eine räumliche Dimension, die vor allem deswegen oft unterschätzt wird, weil politische Entscheidungsträger vor allem in Europa noch immer viel zu stark in nationalstaatlichen Kategorien (etwa der traditionellen Landesverteidigung) denken und handeln. Um jedoch den aktuellen supranationalen Herausforderungen insbesondere in Folge des erstarkenden russischen oder chinesischen Imperialismus gerecht zu werden, bedarf es einer doppelten Weitung der Blickrichtung. Zum einen ist es bündnisintern erforderlich, in enger Absprache mit den außereuropäischen Nato-Partnern eine wirklich integrative europäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen, in die die einzelnen miteinander verbündeten Staaten ihre jeweiligen militärischen Kompetenzen so einbringen, dass ineffiziente und teure Doppelstrukturen ebenso vermieden werden, wie das Fortbestehen eklatanter Sicherheitslücken oder einer free rider-Mentalität, die sich weigert, einen fairen Anteil an den dafür erforderlichen Gesamtkosten zu tragen. Zum anderen bedarf es aber auch einer stärkeren Berücksichtigung des Umstandes, dass Verteidigungsfähigkeit nicht an den eigenen Bündnisgrenzen endet, sondern auch Konsequenzen für Art und Umfang der moralisch gebotenen Nothilfe hat, die jenen Ländern gegenüber zu gewähren ist, die selbst Opfer ungerechter Angriffe Dritter werden. Der Umstand, dass etwa die Ukraine derzeit weder Mitglied der NATO oder der EU ist, dispensiert vor allem die westeuropäischen Staaten allein schon deswegen nicht von einer entschlossenen und umfassenden Unterstützung des ukrainischen Volkes, weil Russland durch den drohenden Erfolg seiner Aggression zu weiteren militärischen Abenteuern in seiner ehemaligen Einflusszone ermutigt würde und damit die politische Ordnung in Europa immer weiter destabilisierte. Die umfassende Hilfe für die Ukraine ist daher nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit und der Humanität, sie liegt auch im ureigensten Sicherheitsinteresse der westeuropäischen Staaten, das durch die imperialistischen Bestrebungen des Putin-Regimes massiv herausgefordert wird.

Schließlich verdeutlicht gerade der Verlauf des Ukraine-Krieges sehr eindrücklich, dass die Verteidigungsfähigkeit auch eine zeitliche Dimension aufweist. Obwohl der ukrainische Abwehrkampf gegen den russischen Aggressor ohne die kontinuierliche militärische, finanzielle und humanitäre Hilfe westlicher Staaten gar nicht denkbar wäre, treten in der Rückschau der Ereignisse bestimmte Versäumnisse des Westens immer deutlicher zu Tage. Die Probleme begannen bereits 2014 mit der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der Krim, die den Westen kaum zu nennenswerten Gegenmaßnahmen motivierte. Deutschland begab sich  trotz einschlägiger amerikanischer Warnungen mit dem weiteren Ausbau russischer Gasleitungen (Nord Stream 2) sehenden Auges sogar noch in eine immer tiefere energiepolitische Abhängigkeit von Russland, die erst im Jahre 2022 ein abruptes Ende fand. Die Fehler setzten sich dann vor allem in der ersten Phase des Krieges durch eine viel zu zögerliche und halbherzige militärische Unterstützung der Ukraine fort, die es Russland überhaupt erst ermöglichte, seine militärischen Stellungen in den besetzten Gebieten konsequent auszubauen und sich so eine operative Basis dafür zu schaffen, immer weitere Landesteile zu erobern. Während sich die russischen Truppen von Anfang an in größter Brutalität über alle Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts hinwegsetzten, versäumten es die westlichen Regierungen unter dem Eindruck russischer Drohgebärden, die ukrainische Armee rechtzeitig in ausreichendem Umfang mit allen für eine effektive Verteidigung ihres Territoriums erforderlichen Waffensystemen auszustatten. Durch die als Vorsicht getarnte Zögerlichkeit und Unentschlossenheit des Westens wurde genau jener Kairos verpasst, in dem es durch massive initiale Gegenwehr noch hätte gelingen können, den Angreifer zu stoppen und die besetzten Gebiete zurückzuerobern. Je länger der Krieg dauert, desto unwahrscheinlicher wird es durch das langsame Ausbluten der Ukraine und die schon heute spürbare Ermüdung des Westens, eine völkerrechtlich akzeptable Friedenslösung auf dem Verhandlungswege herbeizuführen. Auch wenn es stimmt, dass sich die westlichen Staaten nicht in dem Sinne in den Ukraine-Krieg hineinziehen lassen dürfen, dass sie selbst mit eigenen Truppen im Kriegsgebiet operieren, rechtfertigt dies weder den geringen Umfang noch den späten Zeitpunkt oder gar die noch immer bestehenden Beschränkungen im Einsatz der gelieferten Waffensysteme, die den Erfolg der Unterstützungsmaßnahmen letztlich insgesamt konterkarieren.

Es versteht sich von selbst, dass die hier skizzierte umfassende Verteidigungsfähigkeit in eine Sicherheitspolitik eingebettet sein muss, die am Primat präventiver Konfliktbearbeitung orientiert ist und den Einsatz militärischer Mittel nur als ultima ratio betrachtet. Wer jedoch an einem wirklich gerechten Frieden interessiert ist, tut gut daran, sich auch auf diese militärische Option weit besser vorzubereiten als das gegenwärtig in den meisten europäischen Ländern der Fall ist.