Hamburg - 03.04.2020

„Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“

Eine Rezension des Buchs „Eine Biografie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ von Manfred Deselaers[1]

 

„Ich selbst habe mir die Tötung, durch eine Gasmaske geschützt, angesehen. Der Tod erfolgte in den vollgepfropften Zellen sofort nach Einwurf. Nur ein kurzes, schon fast ersticktes Schreien, und schon war es vorüber. So recht zu Bewusstsein ist mir diese erste Vergasung von Menschen nicht gekommen, ich war vielleicht zu sehr von dem ganzen Vorgang überhaupt beeindruckt. (…) Über die Tötung der russischen Kriegsgefangenen an und für sich machte ich mir damals keine Gedanken. Es war befohlen, ich hatte es durchzuführen. Doch ich muss offen sagen, auf mich wirkte diese Vergasung beruhigend, da ja in absehbarer Zeit mit der Massen-Vernichtung der Juden begonnen werden musste.“[2]So Rudolf Höß in seinen autobiografischen Aufzeichnungen, die der ehemalige Kommandant von Auschwitz in seiner Gefangenschaft 1947 vollendete.

Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, in der Nähe der polnischen Stadt Oświęcim gelegen, wurde nach dem deutschen Angriff auf Polen im Zweiten Weltkrieg errichtet. Im Mai 1940 wurde der damalige SS-Obersturmbannführer Rudolf Höß mit dem Ausbau des Lagers beauftragt, das er als Kommandant dreieinhalb Jahre lang befehligte. Auschwitz gehörte zu den größten Vernichtungslagern des nationalsozialistischen Terrorregimes und bestand bis zum Januar 1945. Höß wurde zum 2. April 1947 vom polnischen Obersten Volksgericht zum Tode verurteilt und am 16. April 1947 in Auschwitz gehenkt.

Die autobiographischen Aufzeichnungen von Höß stellen die Grundlage des hier beschriebenen Buches von Manfred Desalears dar, der seit 1990 in Oświęcim (so der Name der polnischen Stadt, die die Nationalsozialisten in Auschwitz umbenannten) als katholischer Priester lebt und am dortigen Zentrum für Dialog und Gebet arbeitet.

Das Buch „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“ nimmt uns mit in das Leben und die Ansichten von Rudolf Höß, aber nicht unkommentiert – im Gegenteil! Der Autor stellt den zum Teil rechtfertigenden Äußerungen des ehemaligen Lagerkommandanten die notwendige kritische Opferperspektive gegenüber, die dieser so gerne ausließ. Darüber hinaus stellt Deselaers als Theologe die Fragen nach der eigenen Verantwortung, nach Gut und Böse sowie der Idolverfallenheit in den Mittelpunkt und hält sie den Äußerungen Höß’ wie einen Spiegel vor.

Im ersten Teil des Buches werden die historischen Fakten zur Biografie Höß’, vor allem seine Zeit als Kommandant von Auschwitz, wertfrei dargelegt. Im zweiten Teil des Buches unterzieht der Autor die Biografie einer anthropologisch-theologischen Analyse sowie einer Interpretation der biografischen Zeugnisse. Die Kapitel gliedern sich dabei wie folgt: Gott und das Böse, grundsätzliche Überlegungen; der Abfall vom Guten; die Struktur des Bösen; Erlösung; Weg in die Idolverfallenheit; Leben in Idolverfallenheit; Weg aus der Idolverfallenheit.

Höß’ autobiografische Schilderungen, die durch direkte Zitate in das Buch von Desalaers einfließen, erzählen in bemüht nüchternen Ton von der Entstehung, Organisation und Entwicklung der Konzentrationslager, besonders aber seiner eigenen Tätigkeit als Kommandant in Auschwitz.

Die Autobiografie endet mit den Worten: „Mag die Öffentlichkeit ruhig weiter in mir die blutrünstige Bestie, den grausamen Sadisten, den Milionenmörder sehen – denn anders kann sich die breite Masse den Kommandanten von Auschwitz gar nicht vorstellen. Sie würde doch nie verstehen, dass der auch ein Herz hatte, dass er nicht schlecht war.“

Dieses Zitat zeigt eine für uns schwer zu ertragene Diskrepanz auf, denn Höß war unzweifelhaft ein Massenmörder, er war jedoch kein Sadist, kein gewissenloser Mensch. Von Zeugen wurde er wiederholt als liebevoller Ehemann und Familienvater bezeichnet. In seinem Dienst war er um Exaktheit und Sachlichkeit bemüht. Das reibungslose und effektive Funktionieren des KZ war ihm das Wichtigste. Er war ein Mann, der Ordnung und Disziplin liebte, der in der Freizeit als SS-Führer stets beflissen und bereit war, auch den unmenschlichsten Befehl zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten auszuführen.

Und genau dieser Diskrepanz geht Deselaers in seinem Buch nach: Er stellt Höß bewusst Fragen nach der eigenen Verantwortung, danach, ob er ein schlechter Mensch war, was das Gute ist, und ordnet diese Fragen systematisch in eine theologisch-anthroposophische Analyse ein. Ein Buch, das mir anhand der Person Höß nicht nur einen vertieften Eindruck von der Systematik des Konzentrationslagers Auschwitz, sondern vor allem auch einen Einblick in das Denken und Handeln dieses Täters geboten hat. Am Ende bleibt dennoch die Frage, wie Menschen so unmenschlich handeln und offensichtlich trotz aller Schuld vor ihrem eigenen Gewissen bestehen konnten.

Das Buch ist online sowie antiquarisch in verschiedenen Ausgaben gut erhältlich. Sollte Sie Ihr Weg in die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz führen, können Sie es auch dort direkt erwerben.

 

Kristina Tonn

 


[1] Deselaers, Manfred (2014), „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“ Die Biografie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau

[2] Broszat, Martin (Hrsg.), Kommandant in Auschwitz, Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß. Eingeleitet und kommentiert von Martin Broszat. Deutscher Taschenbuch-Verlag 1989, 12. Auflage, Seite 126.