Hamburg - 02.03.2024

Trotz „Versicherheitlichung“ der internationalen Beziehungen den Horizont weiten

Prof. Dr. Johannes Varwick ist seit 2013 Inhaber des Lehrstuhls für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg. Zuvor hatte er Professuren an den Universitäten Kiel und Erlangen-Nürnberg inne, davor leitete er den Bereich europäische Sicherheitspolitik bei der DGAP. Er war von 2019 bis 2021 Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

Es fällt nicht schwer, düstere Prognosen zum Zustand der Welt aufzulisten. Wir leben in einer Ära der Gewalt in den internationalen Beziehungen. Zu Beginn des Jahres 2024 gibt es eine Zahl, Intensität und Dauer von bewaffneten Konflikten wie seit 1990 nicht mehr. Der damalige Außenminister Steinmeier konstatierte 2014, die Welt sei „aus den Fugen“; ein Jahrzehnt später muss man 2024 wohl eher sagen: Die Welt steht in gewisser Weise in Flammen. Neben den die westlichen Öffentlichkeiten bestimmenden Krisenherden Ukraine und Nahost gilt dies für massive Gewalt etwa im Süd-Kaukasus oder im Jemen, im Sudan ebenso wie in Äthiopien, und der Militärputsch in Niger war der sechste Staatsstreich in der Sahelzone seit 2020, betroffen davon war auch die gescheiterte Bundeswehrmission in Mali. Auch der „Global Peace Index“ zeigt, dass die Welt zum 13. Mal in den vergangenen 15 Jahren weniger friedlich geworden ist.

Doch das ist nur die blutige obere Schicht der Wahrnehmung. Hinzu kommen die Verschärfung der Großmächtekonkurrenz USA-Russland-China, Tendenzen zur ökonomischen „Entkopplung“, eine weitgehende Blockade von Entscheidungsprozessen im System der Vereinten Nationen, ein erheblicher Aufrüstungsschub insbesondere in Europa und im Indo-Pazifik. Sichtbar ist auch eine zunehmende Zweiteilung der Welt in einen „Block“ gebildet von den USA und ihren Partnern in NATO, G-7 und EU und einen zweiten „Block“ von China, Indien, Russland, Südafrika und einigen weiteren Staaten im Rahmen des stetig wachsenden BRICS-Formats. Diese Spaltung hat auch vielfältige Auswirkungen auf den Globalen Süden und bringt eine „Geopolitisierung“ von regionalen Konflikten mit sich.

Auch technologische Entwicklungen sind seit jeher ein wichtiger Faktor, der machtpolitische Potentiale in den internationalen Beziehungen entscheidend prägt. Schlüsseltechnologien in der Energie, Transport und Kommunikations-, Bio-, Medizin- und Militärtechnik verändern nicht nur das Leben der Menschen, sondern auch das internationale Machtgefüge permanent. Die zunehmende Nutzung von Künstlicher Intelligenz wird dies rasant verstärken.

Internationale Ordnung im Fokus

Die Frage nach internationaler Ordnung ist damit (erneut) in den Fokus der internationalen Politik geraten. Gleichzeitig verdüstern sich die Erfolgsaussichten wichtiger normativer Unternehmungen (z. B. Menschenrechte, Schutzverantwortung), und die Steuerungsfähigkeit, nicht nur seitens der Staaten, erscheint in vielen Fragen bestenfalls fragwürdig (z. B. Klimawandel, Rüstungskontrolle, Armutsbekämpfung, Welternährung). Dies ist angesichts der massiven Ungleichverteilung von Lebensentwicklungschancen sowie zahlreicher Krisen und Konflikte ein entmutigender Befund. Zu erwarten ist, dass im Zuge der Rückkehr bzw. der Überbetonung kurzfristiger nationaler Interessen auch die „Duties beyond borders“ – so ein fulminantes Buch von Stanley Hoffmann aus dem Jahr 1981 – weiter unter Druck geraten und die internationale Politik vor unruhigen Zeiten steht.

Das geopolitische Umfeld ist in den vergangenen Jahren ohne Zweifel „globalisierungsfeindlicher“ geworden. Wie die Welthandelsorganisation (WTO) in ihrem Welthandelsbericht 2023 ausführt, basierte die Einrichtung des multilateralen Handelssystems vor über sieben Jahrzehnten auf der Erkenntnis, dass gegenseitige Abhängigkeit und Zusammenarbeit zu Frieden und gemeinsamem Wohlstand beitragen. In jüngerer Zeit haben jedoch neue Herausforderungen wie geopolitische Spannungen, zunehmende Ungleichheiten und der Klimawandel zu Befürchtungen geführt, dass die Globalisierung die Länder übermäßigen Risiken aussetzt. Diese Befürchtungen haben den Druck erhöht, die Handelsbeziehungen aufzulösen und sich durch einen Prozess der Fragmentierung einer unilateralen Politik zuzuwenden. Die WTO bemüht sich jedoch, die Vorteile einer Re-Globalisierung – d. h. eine Ausweitung des Welthandels und die Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit – sowie die Risiken einer Fragmentierung des multilateralen Handelssystems aufzuzeigen. Handel sei „Quelle für Sicherheit und Frieden“, Motor für die Armutsbekämpfung und entscheidendes Instrument zur Bekämpfung des Klimawandels. Globale Probleme, so die WTO, erfordern globale Lösungen, was bedeute, dass die Welt von heute mehr Zusammenarbeit benötige, nicht weniger. Ein wiederbelebtes multilaterales Handelssystem spiele in diesem Prozess eine wichtige Rolle.

Faktisch gilt es aber wohl eher, dass sich viele Staaten auf eine von Wettbewerb geprägte Geopolitik einstellen. Ein Großteil der internationalen Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte hat sich auf die Prämisse verlassen, dass die wirtschaftliche Integration die Nationen verantwortungsbewusster und offener machen würde und dass die globale Ordnung friedlicher und kooperativer sein würde. Das Ignorieren wirtschaftlicher Abhängigkeiten, die sich im Laufe der Jahrzehnte der Liberalisierung aufgebaut hatten, sei „wirklich giftig geworden“ (so der Sicherheitsberater des US-Präsidenten Biden, Jake Sullivan in einer programmatischen Rede zum Thema Ökonomisierung der Sicherheitspolitik und Versicherheitlichung der Ökonomie). Abhängigkeit schaffe kritisches wirtschaftliches Risiko und eine Schwachstelle für die nationale Sicherheit, wirtschaftliche Abhängigkeiten seien für ökonomische oder geopolitische Ziele ausgebeutet worden (etwa in den Bereichen Energie, medizinische Güter, Halbleiter, kritische Mineralien). Das wichtigste internationale Wirtschaftsprojekt der 1990er Jahre sei Senkung der Zölle gewesen, die Frage der 2020er und 2030er Jahre laute hingegen: Wie passt der Handel in unsere internationale Wirtschafts- und Sicherheitspolitik?

Versicherheitlichung und weltpolitische Zyklen

Daraus lässt sich die These ableiten: Wir stehen inmitten einer Phase der „Versicherheitlichung“ der internationalen Beziehungen unter dem Paradigma der Resilienz. Themen wie Werte- statt Interessenorientierung und De-Globalisierung zeichnen die geopolitischen Koordinaten neu, verstärken einen konfrontativen Systemwettbewerb mit Rüstungswettläufen und verringern die Problemlösungsfähigkeit bei globalen Fragen – mit massiven Konsequenzen für Volkswirtschaften und Gesellschaften, erhöhter Kriegswahrscheinlichkeit und Wohlstandsverlusten.

Einige Wissenschaftler haben versucht, Zusammenhänge zwischen Kriegszyklen, ökonomischer Vorherrschaft und globaler Hegemonie herauszufinden. So geht George Modelski (1926-2014) davon aus, dass das internationale System seit dem 15. Jahrhundert einen sich immer wiederholenden Zyklus mit einer Zeitdauer von jeweils rund 120 Jahren durchlaufe. Zu Beginn eines jeden Zyklus gelinge es einem staatlichen Akteur die hegemoniale Stellung zu erringen und insbesondere durch die Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter (wie zum Beispiel Sicherheit auf Seerouten, Garant einer internationalen Wirtschaftsordnung, Bereitstellung eines international akzeptierten Zahlungsmittels etc.) das notwendige Maß an Legitimität zu erreichen. Als Beispiele nennt er Portugal, die Niederlande, Großbritannien und die USA, die das internationale Geschehen zu bestimmten Phasen maßgeblich beeinflusst haben. Im Laufe der Zeit erodiert jedoch das Machtmonopol durch die Entstehung neuer Konkurrenten und in der Auseinandersetzung mit neuen Themen und Problemen ordnen sich die Machtgewichte und Koalitionen neu. Dadurch entsteht jeweils ein neues multipolares System mit einer schwachen Ordnung, dass dann schrittweise auf eine Auseinandersetzung um Vorherrschaft hinausläuft. Nach Abschluss dieser meist kriegerischen Auseinandersetzung beginnt dann ein neuer Zyklus, der durch einen neuen Hegemon geprägt wird.

Es mag sein, dass wir mit dem rasanten Aufstieg Chinas an der Schwelle zu einem neuen Zyklus stehen. In der gegenwärtigen Phase der Weltpolitik – und das macht die internationalen Beziehungen so komplex – haben wir es jedoch mit einer „Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit“ zu tun: Die Welt durchläuft in unterschiedlichen Regionen höchst unterschiedliche Entwicklungsprozesse. Die „Weltordnung“ ist also nicht (mehr) auf einen einfachen Begriff zu bringen. Neben einer „ersten Zone“, die sich durch offene Grenzen, eine hohe Interaktionsdichte und einen relativ stabilen Frieden auszeichnet, ist eine von Machtpolitik und kurzfristigen nationalen Interessen dominierte „zweite Zone“ auszumachen, in der vornehmlich in Kategorien militärischer Stärke und geopolitischer Einflusszonen gedacht wird. Eine „dritte Zone“ ist gekennzeichnet durch Machthohlräume und den Verlust politischer Steuerungsfähigkeit. Diesen Zonen sind zwar geographische Räume zuzuordnen – so beschränkt sich z. B. die dritte Zone im Wesentlichen auf Teile Afrikas und des Nahen Ostens –, allerdings überlappen die Räume sich, und die daraus resultierenden Probleme sind nicht auf eine Zone zu begrenzen. Anders formuliert: Das Zeitalter frühmoderner Staaten, das 20. und das 21. Jahrhunderts finden in gewisser Weise gleichzeitig statt.

Fest steht jedenfalls: Eine breite Palette von Problemen ist nur noch auf dem Weg internationaler Zusammenarbeit zu regeln. Auch in denjenigen Politikfeldern, so der Politikwissenschaftler Fritz Scharpf, in denen die politische Verantwortung für die absehbare Zukunft in nationalen Händen verbleiben muss, „verändern sich die traditionellen Muster internationaler Beziehungen zwischen souveränen Staaten zu reflexiven Interaktionen zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft von Staaten, die sich ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, ihrer gemeinsamen Verwundbarkeit und ihrer Verpflichtung, bei der Lösung der eigenen Probleme die Auswirkungen auf die Nachbarn zu berücksichtigen, bewusst sind“.

Konsequenzen für die Sicherheitspolitik

Fast alle in der deutschen Politik haben verstanden, dass Sicherheitspolitik in Deutschland in der Vergangenheit allzu stiefmütterlich behandelt wurde und Verantwortung in gewisser Weise neu ausbuchstabiert werden muss. Diese Erkenntnis sollte nicht durch Rabulistik und unnötige Kriegsrhetorik konterkariert werden. Deutschland sollte ein realistisches Verständnis von außenpolitischer Verantwortung in der ganzen Breite entwickeln. Das geht weit über die aktuellen Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten hinaus, hat aber doch Berührungspunkte mit ihnen.

Sicherheitspolitik in einer Welt voller Komplexität und Dynamik bedarf eines umfassenden und vernetzten Ansatzes, der die relevanten Instrumente und Akteure in ausgeglichener Balance verknüpft. Militärische Mittel sind und bleiben dabei unverzichtbar, reichen jedoch nicht hin und sollten mit großer Bescheidenheit und nur mit einem klaren politischen Zweck eingesetzt werden. Die Bilanz bisheriger Militäreinsätze lehrt Bescheidenheit und Zurückhaltung.

Es wäre keine gute Idee, im politischen Diskurs um Krieg und Frieden von einem Extrem ins andere zu verfallen und vermeintliche moralische Prinzipienfestigkeit über jede realpolitische Vernunft zu stellen. Denn richtig bleibt, dass Sicherheitspolitik breiter gedacht werden muss und wir uns nicht allein auf militärische Fragen konzentrieren sollten – ohne mit dem Verweis auf das Engagement in einem Bereich den anderen zu vernachlässigen. Gleichzeitig sollten die politisch Verantwortlichen seit Clausewitz verinnerlicht haben, dass vor der Entscheidung zum Einsatz von Militär als „Mittel der Politik“ die Frage zu beantworten ist, welcher politische Zweck mit welchem militärischen Ziel und welchen Mitteln erreicht werden soll. Bei dieser Zweck- und Zieldefinition sind Chancen und Risiken des eigenen Handelns nüchtern und realistisch zu bewerten. Fehlt eine solche Abwägung, dann besteht das Risiko ungewollter Nebenwirkungen und – wie die Interventionen der vergangenen Jahrzehnte gezeigt haben – einer unerwünschten Eskalation oder bestenfalls eines Stillstandes ohne erkennbare Fortschritte. Während bei Clausewitz „Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ war, wird Krieg nun zur Verteidigung unserer Werte mit anderen Mitteln. Das ist ein verhängnisvoller Irrweg.

Richtungsfragen

Zu den entscheidenden Richtungsfragen wird auch gehören, wie sich Deutschland in der Frage positioniert, ob Demokratie und Menschenrechte zentraler Maßstab sicherheitspolitischen Handelns sein sollen oder ob auch mit autoritären Staaten wie China und Russland ein stabiler und womöglich pragmatischer Interessenausgleich möglich ist. Pragmatisch zu sein bedeutet nicht, Gefahren zu ignorieren, über Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüche hinwegzusehen oder kurzfristige Wirtschaftsinteressen absolut zu setzen. Es bedarf aber Kompetenz und Empathie, andere Länder nach Maßgabe ihrer eigenen historischen und gesellschaftspolitischen Entwicklung einzuschätzen und zu verstehen, bis wohin die eigenen Absichten greifen. Wertefundamentalismus und Alarmismus vernebeln den Blick für eine realistische Sicherheitspolitik, die den Widersprüchen der Weltpolitik Rechnung trägt.

Leitend sollte immer die Bewahrung des Friedens und der eigenen Wertebasis sein. Aber dort, wo eine wertegeleitete Politik sich als nicht durchsetzbar erweist, muss Realpolitik im Sinne einer realistischen Betrachtung der gegebenen Kräfteverhältnisse und Handlungsmöglichkeiten gemacht werden. In gewisser Weise droht die deutsche Sicherheitspolitik jedoch das Kind mit dem Bade auszuschütten. Deutschland sollte zu einer verantwortungsvollen, ausbalancierten, friedensorientierten und zugleich realistischen Sicherheitspolitik zurückfinden. An deren erster Stelle muss eine Politik des Interessenausgleichs, der diplomatischen Tugenden, der Verlässlichkeit und der Rüstungskontrolle stehen. Es sollte darum gehen, Friedensfähigkeit – nichts weniger ist Auftrag in der Präambel des Grundgesetzes – breit getragen mit Verteidigungsfähigkeit und wirksamer Abschreckung zu verbinden.