Hamburg - 23.08.2023

Streitkräfte als Vorbild – keine Resilienz ohne Erziehung

Generalmajor Markus Kurczyk, Jahrgang 1964, seit 1983 Soldat der Bundeswehr, hat Sozialpädagogik studiert und ist seit November 2022 Kommandeur des Zentrums Innere Führung.

 

Die „Resilienz“ grassiert allerorten – so auch in der Bundeswehr – als eine Art psychotechnisches „universal tool“ und neumodischer Bewältigungsbegriff im aktuell anhaltenden Krisenmodus – getreu dem Abraham Maslow zugeschriebenen Merksatz „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel“. Meine Empfehlung für die Bundeswehr ist daher die Rückbesinnung auf die Innere Führung als die Führungs- und Organisationskultur der Bundeswehr. Sie hat uns verlässlich, erfolgreich und vorbildlich während der Zeitenwenden der vergangenen sechs Jahrzehnte Orientierung, Ziele und den Mut zum flexiblen Handeln gegeben. Seit der Aufstellung der Bundeswehr fordert die Innere Führung zu Recht Legitimation und Integration ein. Beides wurde mindestens seit unserer Wiedervereinigung nachlässig behandelt.

Erziehung als ein wesentlicher Faktor von Resilienz

Viele pädagogische und psychologische Ansätze fordern als Ziel der Entwicklung jedes Individuums die Emanzipation von fremden Normen und Zielvorstellungen. Emanzipation wird als geglückt angesehen, sobald das Individuum eine eigene Dynamik der Lebensgestaltung sowie Lebensplanung entwickelt hat, die sich in Motivation und Planung nicht mehr auf die Erziehenden beruft und stützt. Diese Emanzipation setzt Partizipation und Bildung voraus und geht immer über die bloße Vermittlung von Wissen hinaus. Es bedarf der Kompetenz und Emotion zur Teilhabe an der Demokratie und dem zukunftsfähigen Streit um sie. Streitkultur setzt in allen Gruppen und Zusammenhängen eine wertegebundene Prägung voraus. Diese ist in Zeiten der Verschwörungstheorien, Informationsblasen und „Fake News“ wichtiger denn je.

Die junge Generation als Chance für die Innere Führung

Fakt ist: Das Verständnis der jungen Bundeswehrangehörigen für politische Zusammenhänge, demokratische Willensbildung sowie die Integrations- und Legitimationsforderung stellt die Innere Führung auf eine harte Probe. Die Herausforderungen bei der Vermittlung der Besonderheiten des soldatischen Dienens werden nicht geringer.

Haben wir vor einigen Jahren begonnen, den nicht hinreichenden physischen Voraussetzungen mit dem Training für eine körperlichen Fitness zu Beginn des soldatischen Dienstes entgegenzuwirken, so wird es künftig nötig sein, in der militärischen Führung und Ausbildung das Fundament zu legen, damit die jungen Soldatinnen und Soldaten treu und tapfer Recht und Freiheit verteidigen können. Mentale Stärke und geistige, ethische und moralische Fitness sind jedoch ohne Bildung und Erziehung nicht zu erreichen.

Nun hat Bildung in der Bundeswehr viele Dimensionen. Alle eint, dass sie für das Selbstverständnis von Angehörigen der Bundeswehr gleichrangig existenziell sind. Historische, interkulturelle, ethische, politische, aber auch allgemeine Bildung ist nur auf Basis eines allgemein gültigen und verstandenen Erziehungsanspruchs aller militärischer Vorgesetzter erfolgversprechend. Ähnlich der Kompetenzorientierung muss die Vermittlung der Inneren Führung neben dem Wissen und den Fertigkeiten Betroffenheit erzeugen und Relevanz für das tägliche Erleben erlangen.

Erziehung darf nicht aggressiv und bevormundend sein

Die in Baudissins Worten „geistige Rüstung des Soldaten“ ist mit der Inneren Führung inhaltlich richtungsweisend vorgezeichnet. Diese geistige Rüstung bedarf jedoch der konkreten und vor allem kontinuierlichen Ausgestaltung und Umsetzung im Miteinander. Das ist ein ständiger Auftrag an alle militärischen Vorgesetzten. Dazu ist ein Verständnis von Persönlichkeitsbildung und -entwicklung als einem lebenslang andauernden Lern-, Qualifizierungs- und vor allem Erziehungsprozess im täglichen Dienst so umzusetzen, dass eine gewissensgeleitete Entscheidungskompetenz entwickelt wird. Erziehung ist nicht aggressiv und nicht bevormundend, wenn sie demokratisch vereinbart ist, Andersartigkeit zulässt (Stichwort Diversität) und auf die Haltung und das Verhalten abzielt, wehrhaft Werte und Normen zu schützen. Diese Art umfassender Bildung, die mit einem gestärkten ethischen Bezug über das bisherige Verständnis von Politischer Bildung in der Bundeswehr deutlich hinausreicht, ist nicht nur Gegenmittel gegen jedwedes Fehlverhalten bis zur Barbarei. Vielmehr hat dieser umfassendere Bildungsansatz auch eine Schutzwirkung vor Überlastung und Überforderung in Ausnahmesituationen.

Umfassende Persönlichkeitsbildung schafft mehr Handlungssicherheit und eben die viel zu Unrecht gegeißelte Resilienz.

Die Resilienz braucht neue Rahmenbedingungen

Das Herstellen tragfähigerer Rahmenbedingungen für den soldatischen Dienst erfordert eine konzertierte Aktion von Staat, Gesellschaft und Streitkräften. Andauernde Unterfinanzierung, Legitimationsdefizite, Desinteresse, überbordende und an Friedensbedingungen ausgerichtete Reglementierungen beeinträchtigen die Reaktionsschnelligkeit und Flexibilität von Streitkräften in komplexen Konflikten. Die Innere Führung bildet eine übergreifende Plattform für kritisch-konstruktive Debatten und ganzheitliche Problemlösungen. Und sie hilft ganz konkret auch bei der Umsetzung der Zeitenwende, bei der Sinnstiftung, bei der Motivation, der Legitimation des eigenen Handelns gerade in Zeiten großer Unsicherheit und Veränderungen.

Die Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr wird Deutschland schon in den einfachsten Forderungen nach finanzieller Ausstattung und Material lange beschäftigen. Im Vergleich hierzu fallen die wirklichen Herausforderungen weit dahinter zurück: Selbstverständnis der Angehörigen der Bundeswehr, Wehrhaftigkeit der Gesellschaft und langfristige Verlässlichkeit politischer Entscheidungen und Festlegungen. 

Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Mit dieser Begriffstrias zentraler Dimensionen wurde im Juni 2023 die Nationale Sicherheitsstrategie durch das Bundeskabinett beschlossen. Schon der Titel soll zeigen, dass nach Jahrzehnten derWeißbücher zur Sicherheitspolitik und zur Bundeswehrein breiterer Ansatz nötig ist.

Es geht nicht allein um Verteidigung und Bundeswehr, hob Bundeskanzler Olaf Scholz hervor. Kern der neuen Strategie sollen nicht die Finanzen sein, sondern die Arbeit der gesamten Gesellschaft zur Bewältigung der sicherheitspolitischen Heraus-forderungen, vom aggressiven Verhalten Russlands bis hin zum Schutz der Zivilgesellschaft vor Desinformation und Hackern, die Krankenhäuser lahmlegen.

Die Innere Führung im Spannungsfeld zwischen Bundeswehr und Gesellschaft

Die Innere Führung befindet sich immer in einem Spannungsfeld, gut darstellbar anhand unseres Leitbildes der Staatsbürgerin und des Staatsbürgers in Uniform. Diese Staatsbürgerin und dieser Staatsbürger handeln gestärkt durch ihre gemeinsamen Werte wie dem Willen zur Freiheit, Verantwortungsbereitschaft, Pflichtenethos, gewissengeleitetem Gehorsam, Autonomie und Mündigkeit. Kadavergehorsam und ein technokratisches oder rein militärhandwerklich perfekt orientiertes Berufsverständnis sind und waren schon immer dysfunktional. Dies schließt Professionalität nicht aus. Im Gegenteil, militärische Professionalität ist nur dann gegeben, wenn sie auf einem festen Wertefundament ruht.

Die Innere Führung kann in den Streitkräften nur dann noch besser gelebt werden, wenn wir weiter jeden Tag daran arbeiten, die individuellen Stärken, Kompetenzen und Potenziale aller mit den Erfordernissen moderner Streitkräfte in Einklang zu bringen. Dazu braucht es ein entsprechendes, vielleicht auch neues Bildungsverständnis, den Mut zur Erziehung und ein Ausbildungssystem, welches sozial durchlässig und zugleich am Leistungsethos als Grundlage einer Gesellschaft der Freien orientiert ist. Dies alles in enger Korrelation zum politischen und militärischen Auftrag der Bundeswehr.

Die Bundeswehr und ihre Führungskultur bedürfen dringend eines gesellschaftlichen Resonanzkörpers, um sie sowohl als Verfassungsorgan wie auch als integrierten Bestandteil der pluralistischen Gesellschaft einer Demokratie und ihrer damit verhafteten politischen Kultur zu erhalten. Innere Führung und Einsatzbereitschaft sind untrennbar miteinander verbunden. Es braucht neben dem „Kämpfen können“ – das bedeutet auch getötet werden und töten können – auch den Willen und die gesellschaftliche Bereitschaft zur Verteidigung unserer Werte und unserer Sicherheit.

Resilienz wächst mit Erfahrung

Voraussetzung für die Wahrnehmung von Verantwortung ist eine umfassende Bildung und fachliches Können. Die der Persönlichkeitsbildung zugrunde liegende soldatische Erziehung ist eine unverzichtbare Ergänzung zur militärischen Ausbildung und Führung. Erst die Rollentrias aus Führen, Ausbilden und eben Erziehen erlaubt den Vorgesetzten, ihre umfassende Verantwortung erfolgreich wahrzunehmen.

Im Kern zielen die Grundsätze der Inneren Führung auf die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Der Wille zur Eigeninitiative und zur Übernahme von Verantwortung bleiben trotz der enormen Technologisierung unabdingbar für den Erfolg in Krieg und Einsatz. Zudem wächst mit der bewussten Erfahrung die eigene Resilienz und die der Gruppe. Herausfordernde Aufgaben können hiernach selbstbestimmt gemeistert werden. Die Gestaltung des militärischen Dienstes orientiert sich an erzieherischen Zielen, die aus der Kriegswirklichkeit abgeleitet werden – 365 Tage im Jahr.

Zur Ungewissheit des Krieges gehört, dass Informationen widersprüchlich oder lückenhaft sind. In solchen Situationen helfen die Werte des Grundgesetzes und die Grundsätze der Inneren Führung. Sie sind ein verlässlicher Kompass, an dem wir jederzeit unser Handeln vertrauensvoll ausrichten können.

Die Beziehungen zwischen Politik, Gesellschaft und Militär und schließlich die Menschenführung in der Bundeswehr, wie auch das Selbstverständnis ihrer Angehörigen, – all dies bindet die Innere Führung zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Erkenntnisse und Erfahrungen vieler Generationen in der Bundeswehr, aber auch in Politik und Gesellschaft, spiegeln sich darin wider. Dabei ist die Innere Führung weder Dogma noch unverbindliche geistige Spielerei. Sie ist eine überaus praxisnahe Konzeption, die zur Weiterentwicklung einlädt. Am 12. November dieses Jahres veröffentlicht das Zentrum Innere Führung ein neues Handbuch Innere Führung. Darin finden sich viele individuelle Angebote zur Befassung mit den wirklich wichtigen Fragen für alle Angehörigen der Bundeswehr. Es soll uns ermutigen, Verantwortung zu übernehmen. Im neuen Handbuch unterstützen uns Autorinnen und Autoren aus allen Organisationsbereichen der Bundeswehr. Sie repräsentieren vielfältige Führungsebenen, Dienstgrade, Funktionen und Dienststellungen.

Wer keinen Willen zur Erziehung hat, braucht nicht anzutreten

Die „seelische Widerstandskraft“, als der in den Anfangsjahren der Bundeswehr geläufige Resilienzbegriff, wird aus Quellen gespeist, auf die sich nicht nur die Bundeswehr, sondern vor allem Staat und Gesellschaft heute wieder stärker zurückbesinnen sollten: Freiheitssinn, Bündnistreue, Wehrbewusstsein, Verteidigungswille, Opferbereitschaft und Mut zum Führen und Entscheiden auch gegen Widerstände. Daraus entsteht Widerstandskraft und Wehrhaftigkeit.

Der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Carsten Breuer, hat am 13. Juli 2023 davon gesprochen, dass nicht nur die Bundeswehr, sondern die Bundesrepublik Deutschland als Ganzes künftig wieder „wehrhaft“ sein müsse, um den Herausforderungen der Gegenwart begegnen zu können. Woher sonst, als aus der Gesellschaft, sollen die resilienten Soldatinnen und Soldaten auch herkommen?

In diesem Sinne richtig definiert und vom scharfen Ende her zu Ende gedacht, trägt Resilienz maßgeblich dazu bei, besser durch Krise und Krieg zu kommen. Ich lade Sie daher ein, mit uns im Zentrum Innere Führung in den Dialog zu treten und gemeinsam unser Mindset zu entwickeln. Nutzen Sie die Gelegenheit. Ich bin sicher, das neue „Handbuch Innere Führung“ mit all seinen Bausteinen wird neue Impulse setzen.