Hamburg - 07.07.2025

Sicherheit durch Unterwerfung?

Wie Europa seiner selbstgestellten Falle entkommen und seine Sicherheit im transatlantischen Rahmen gestalten kann

Prof. Dr. Sven Bernhard Gareis lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster.

Der NATO-Gipfel in Den Haag vom 24. und 25. Juni 2025 ist vorüber und die Allianz hat ihn auf den ersten Blick ohne die im Vorfeld befürchteten größeren Blessuren überstanden. In der kurzen Abschlusserklärung wurde der Kern des Bündnisses, das in Artikel 5 des Washingtoner Vertrages verankerte Bekenntnis zur kollektiven Verteidigung, nochmals bekräftigt – und auch US-Präsident Donald Trump beteuerte, dass er zu ihr stehe. Die Staats- und Regierungschefs verpflichteten sich, ihre Investitionen in Verteidigung und Sicherheit bis 2035 schrittweise fünf Prozent der Wirtschaftsleistung zu erhöhen, ein zweifellos gewaltiger Schritt. Bundeskanzler Friedrich Merz sprach von einem denkwürdigen Tag, der „ganz sicher in die Geschichte der NATO eingehen wird“.

Andererseits braucht es auch nach diesem Gipfel keinen allzu genauen Blick, um die Herausforderungen zu erkennen, vor denen die Allianz nach dem Beginn von Trumps zweiter Amtszeit im Weißen Haus steht. Dies fängt bei der Bewertung der gefährlichsten Bedrohung der europäischen Sicherheit an, der offenen Kriegsführung Russlands in der Ukraine und seinen dauerhaften hybriden Angriffen gegen NATO- und EU-Staaten, auch gegen Deutschland. Wurde Russland noch ein Jahr zuvor auf dem Gipfel zum 75jährigen Bestehen NATO als allein verantwortlicher Aggressor in der Ukraine genannt, der versuchten Zerstörung der europäischen Sicherheitsordnung geziehen und festgestellt, dass von ihm eine „alle Bereiche umfassende Bedrohung“ der Allianz ausgeht, fielen in Den Haag derart klare Aussagen auf Druck der USA vollständig weg. Der Ukraine wurde ein Platz am Katzentisch zugewiesen, in der Abschlusserklärung sind es die einzelnen Alliierten, die dem tapferen, geschundenen Land ihre weitere Unterstützung zusichern, nicht mehr – wie zuvor – die Allianz insgesamt mit ihrem Unterstützungspaket NSATU (NATO Security Assistance and Training for Ukraine) oder einer, wenn auch abstrakten „unumkehrbaren Beitrittsperspektive“.

Vor allem aber zeigte der Gipfel, in welchem Maße die Alliierten bereit sind, sich vor einer einzelnen Person in den Staub zu werfen. Der gesamte Zuschnitt des Gipfels war darauf ausgerichtet, Donald Trump persönlich bei guter Laune zu halten: nur Zuspruch, keine kritischen Anmerkungen, Abendessen mit dem König. Die einschmeichelnde Lobpreisung der persönlichen Verdienste Trumps um die Zukunft der Allianz durch deren Generalsekretär, waren ein Manifest der (weiteren) Selbstverzwergung der europäischen Verbündeten, auch wenn Marc Rutte sie später als wirksames Instrument für den Umgang mit Trump deklarierte.

Die Frage stellt sich: Ist dies das Bild, das die erfolgreichste Allianz der Geschichte, bestehend aus 32 souveränen Demokratien, von sich in der Welt vermitteln will? In Moskau und Beijing wurde dieser Gipfel sicher mit großem Interesse beobachtet und ausgewertet.

Nun waren die USA nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer die unumstrittene Vormacht der westlichen Welt im Allgemeinen und der NATO im Besonderen. Sie traten dabei stets als Sicherheitsgarant auf, nutzten ihre Verbündeten aber – verstärkt seit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 – auch als Plattformen und Instrumente zur Wahrnehmung ihrer globalen Dominanz.  

Dabei folgte die US-Politik immer einem wiederkehrenden Muster: In der NATO ist die Forderung der USA nach einer gerechten Lastenverteilung (burden sharing) fast so alt wie das Bündnis selbst. Wenn immer aber etwa die Europäer sich auch nur in Ansätzen anschickten, sich in der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die eigene Sicherheit besser zu organisieren, rief dies in Washington Abwehrreflexe hervor. Am deutlichsten wurde dies, als sich die Europäer in den 1990er Jahren angesichts des Staatszerfalls in Jugoslawien ihrer sicherheitspolitischen Unzulänglichkeiten bewusstwurden und über eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) nachdachten, die dann ab 1999 in die spätere Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik überging. Die USA reagierten unmittelbar mit den von ihrer damaligen Außenministerin Madeleine Albright und ihren drei No’s: duplication (Verdopplung von Strukturen), de-coupling (Ablösung von den USA) und discrimination (gegen Nicht-EU Staaten). Hintergrund der drei negativen D’s war aber ein positives: dependency, also die Abhängigkeit der Europäer von den USA.

Die USA waren nie an Verbündeten auf Augenhöhe interessiert und die strategische Fehlkalkulation der europäischen Staaten bestand darin, den Schutz durch die USA als eine Art Kollateralnutzen von deren globalen Interessen aufzufassen. Sie richteten sich in der bequemen Gewissheit ein, dass schon alles nicht so schlimm kommen und auf die USA immer Verlass sein würde. Hierzu ließen sie sich auf die Unterstützung erfolgloser Unternehmungen wie dem Krieg in Afghanistan als Antwort auf den 11. September 2001 ein, und erlaubten immer wieder ein divide et impera wie beim Angriffskrieg gegen den Irak 2003, zu dessen Beginn die Administration George W. Bushs  „alte“ gegen „neue“ Europäer ausspielte.

 Vor allem aber vernachlässigten die Europäer den Aufbau eigener Sicherheitsstrukturen zur Stärkung des eigenen Pfeilers innerhalb der NATO. Dabei tat sich nicht zuletzt Deutschland hervor, das sich seit der für Frankreich frustrierenden Annahme des Elysée-Vertrages 1963 im Deutschen Bundestag mit einer Bekräftigung der deutsch-amerikanischen Beziehungen immer wieder bevorzugt an die Seite Washingtons stellte.

Diese Haltung erweist sich in der längerfristigen Perspektive so naiv wie der Glaube an das Vergessen des russischen Phantomschmerzes über den Verlust der sowjetischen Großmacht durch eine gewinnbringende Energiepartnerschaft mit Europa oder an die Zufriedenheit Chinas mit seiner Rolle als billiger Werkbank der Welt und Markt für teure deutsche Produkte.

Spätestens nach dem NATO-Gipfel 2025 sehen sich Deutschland und Europa (und Kanada) mit einem aggressiven, in Europa Krieg führenden Russland und einer vermeintlichen Schutzmacht USA konfrontiert, deren Präsident mit den Sorgen und Ängsten seiner alten und verlässlichen Verbündeten brutal spielt. Sie sitzen in einer maßgeblich selbstgestellten Falle.

Zu den Ergebnissen des Gipfels in Den Haag zählt nämlich auch und vor allem, dass sich die europäischen Verbündeten praktisch nicht zu Wort gemeldet, sondern sich mit einem schwammigen Bekenntnis von Präsident Trump zur kollektiven Verteidigung zufriedengegeben haben. 

Betrachtet man den Vorlauf des Gipfels stimmt dies weiter beunruhigend: Trumps zwischen Bewunderung und moderater Kritik changierendes Verhältnis zu Wladimir Putin, die schäbige Vernachlässigung der Ukraine oder die Äußerungen von US-Vizepräsident JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2025, wonach die angeblichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Deutschland gefährlicher seien als die russische oder chinesische Bedrohung, werfen die Frage auf, mit welchem Partner Europa es jetzt und in Zukunft zu tun haben wird.

Zu den strategischen Fehlkalkulationen Europas gehört es, Trumps erste Amtszeit als eine Art Unfall der Geschichte betrachtet zu haben. Gerade in Deutschland gaben sich viele der Hoffnung hin, dass nach der Wahlniederlage Trumps 2020 unter Joseph Biden alles wie gehabt weitergehen könnte. Die hilflosen Reaktionen auf seine gestärkte Rückkehr ins Amt unterstreichen diesen Befund. Europa hat nicht erkannt, was sich in den USA politisch abspielt und keine Folgerungen daraus für seine eigene Zukunft gezogen. 

Die USA unter Trump sind auf dem Weg in eine Autokratie, die zentrale Werte wie Freiheit der Sprache, der Wissenschaft oder der selbstbestimmten Lebensführung immer weniger anerkennen. Was passiert, wenn Trump oder seine künftig an der Macht befindlichen Diszipeln internationale Sicherheitsgarantien etwa mit Forderungen zum Umgang mit verfassungsfeindlichen Kräften im Land verbinden? Das Erpressungspotential gegenüber den Verbündeten ist hoch – und wohl auch die Bereitschaft auf US-amerikanischer Seite, dies auszunutzen.

Was kann Europa tun? Zunächst wird es darum gehen, zu erkennen, dass Europa vor allem auf sich selbst angewiesen ist. Seine Freiheit, seine Demokratie, sein Leben in Vielfalt wird nicht mehr durch auswärtige Mächte geschützt – im Gegenteil. Die Gewissheiten eines amerikanischen Schutzes für den europäischen Kontinent sind wohl vorbei. Gleichwohl bestehen amerikanische Interessen in Europa fort. Hier sollten die europäischen Verbündeten ansetzen, um die USA wieder in die gemeinsame Sicherheitspartnerschaft hineinzuziehen. Europa ist und bleibt eine strategische Drehscheibe amerikanischer Machtprojektion.

Dazu gehört eine abgestimmte, echte europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Diese sollte klarmachen, dass eine enge transatlantische Partnerschaft auch weiterhin ein wichtiges europäisches Interesse ist, aber auf einem Umgang auf Augenhöhe beruhen muss. Diesen können die europäischen Verbündeten durch deutlich verstärkte eigene Sicherheitsanstrengungen dann auch selbstbewusster einfordern. Sie sollte aber auch darauf eingestellt sein, dass das US-amerikanische Interesse an und Engagement in Europa zurückgeht, weil sich die USA auf die Rivalität mit China und damit auf den indopazifischen Raum konzentrieren.

Zu den wichtigsten Aufgaben Europas gehört dabei, einen gemeinsamen Kurs für seine eigene Sicherheit zu finden. Zu lange haben sich Europas Staaten als eine Gemeinschaft verstanden, aus der es nur das meiste für die eigene Nation herauszuholen galt. Solange dies im Rahmen einer halbwegs friedlichen Lage in Europa geschah, erschien dies kurzsichtig, aber hinnehmbar, weil der insgesamt größere Nutzen überwog. Diesen Weg aber weiter zu verfolgen, wird eher früher als später in eine Art von autoritärer Knechtschaft führen – egal welcher Ausprägung. 

Wenn Europa auch weiterhin ein Raum von Demokratie und Freiheit sein will, muss es diesen als Gemeinschaft schützen. Dies ist angesichts der extremistischen Tendenzen in vielen Staaten, einschließlich Deutschland, schwer genug. 

Außenpolitisch geht es darum, eine einigermaßen geschlossene Position einzunehmen. Dazu hilft vielleicht die Monstrosität des auf dem NATO-Gipfel in Den Haag beschlossenen 5-Prozent-Ziels: Europas Sicherheit wird nicht dadurch besser, dass jeder Staat möglichst viel Geld für nationale und damit kurzsichtige Anstrengungen verbrennt. Vielmehr geht es darum, durch gemeinsame Anstrengungen größere Synergien und damit auch Einsparungen zu erzielen, die dann auch für die gesellschaftlichen Entwicklungen in den europäischen Staaten eingesetzt werden können. 

Die Schaffung einer europäischen Infrastruktur für gemeinsame Rüstungsbeschaffung wäre hier ein bedeutender Schritt. Die bestehende Vielzahl der europäischen Waffensysteme bedeutet nicht nur eine logistische, sondern auch eine strategische Herausforderung im Umgang mit einem zu allem entschlossenen Aggressor. 

Schließlich wird sich Europa auch Gedanken machen müssen über eine eigene nukleare Abschreckung. In der Europäischen Union ist Frankreich die einzige Nuklearmacht, im europäischen Rahmen der NATO auch das Vereinigte Königreich. Es wird das Ergebnis sehr sensitiver Konsultationen sein, ob und wie Deutschland – das den Besitz eigener Nuklearwaffen seit 1955 völkervertragsrechtlich ausgeschlossen hat – hieran eine Art von Teilhabe nach dem NATO-Vorbild haben kann. 

All dies wird kaum in einem synchronen Vorgehen der europäischen Verbündeten und Kanada erwartbar sein. Es wird auf Avantgarde-Formate von Staaten ankommen, die wie die von Frankreich, Deutschland, Italien, Polen und dem Vereinigten Königreich gebildete E5-Gruppe gemeinsame Sicherheitsanstrengungen unternehmen wollen und können.  Solche Formate müssen einerseits entschlossen und handlungsfähig, anderseits aber auch inklusiv, d.h. jederzeit offen für weitere Partner sein. Hoffnung auf bessere transatlantische Zustände allein, ist keine strategische Option.

Fazit:  Auf dem NATO-Gipfel in Den Haag haben die europäischen Staaten praktisch keine Rolle gespielt. Angesichts der gefährlichen Weltlage in Europa ist ihr gemeinsames Handeln aber erforderlicher denn je. Es geht schließlich um das eigene Überleben in Freiheit und Demokratie. Deutschland steht ebenfalls vor einer Weichenstellung: Sein entscheidender Handlungsrahmen ist Europa – bevorzugt als kräftigerer Pfeiler in der transatlantischen Allianz oder eben als ein eigenständiger Sicherheitsraum.