Hamburg - 01.06.2023

Russlands Kriegführung in der Ukraine: Wie soll man mit einer Konfliktpartei umgehen, die alle ethischen und rechtlichen Standards unterbietet?

Prof. Dr. Stefan Oeter, 1979-1983 Studium der Rechts- und Politikwissenschaften in Heidelberg und Montpellier; nach Referendarzeit von 1987-1999 wiss. Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg; 1990 Promotion zum Dr. iur., Heidelberg; 1997 Habilitation in Heidelberg; seit 1999 Prof. für Öff. Recht und Völkerrecht und Direktor des Instituts für int. Angelegenheiten Universität Hamburg; deutsches Mitglied des Unabhängigen Expertenkomitees für die Europ. Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats (Vorsitz 2006-2013); Vorsitz der Historical Commission der Int. Society for Military Law and the Laws of War; Mitglied des Permanent Court of Arbitration, Den Haag; Forschungsschwerpunkte: vergleichende Föderalismusforschung; Schutz von Sprach- und Kulturminderheiten; Humanitäres Völkerrecht; Europäisches und int. Wirtschaftsrecht; Theorie des Völkerrechts und der int. Beziehungen.

Die Praxis der Kriegführung, die Russlands am 24. Februar 2022 mutwillig in Gang gesetzten Angriffskrieg gegen die Ukraine auf der operativen Ebene kennzeichnet, unterschreitet systematisch alle ethischen wie rechtlichen Standards, die sich im Verlaufe des 20. Jahrhunderts herausgebildet haben. Dies gilt nicht nur für die Wahl und den Einsatz der Kampfmittel und Kampfmethoden, sondern auch für den Umgang mit der Zivilbevölkerung in Kampfzonen, vor allem aber für die völlige Missachtung, die Russland gegenüber den völkerrechtlichen Regeln für besetzte Gebiete an den Tag legt. Bevor diese Abgründe an wissentlicher Missachtung, wohl häufiger noch der schlichten Ignoranz russischer Militärs und Sicherheitsbehörden gegenüber den etablierten Standards etwas näher erläutert wird, sei aber auf die historisch schon vielfach aufgetretene Grundfrage eingegangen, wie man eigentlich mit einer Konfliktpartei umgeht, die nachhaltig alle für richtig gehaltenen Standards ethischer wie rechtlicher Natur mit Füßen tritt. Die traditionell praktizierten Muster strikter Reziprozität halten wir heute gemeinhin für ethisch nicht mehr vertretbar – und auch das Humanitäre Völkerrecht hat Formen reziproker Missachtung basaler Standards heute weitgehend geächtet. Es bleiben damit nur kollektive Maßnahmen einer (hoffentlich möglichst großen) Gruppe von Staaten, die aus Empörung über die unverfrorene Negation ethischer wie rechtlicher Grundstandards Sanktionen ergreifen, um so Beugezwang auf den Rechtsbrecher auszuüben, wieder auf den Pfad des Rechts zurückzukehren. Ein weiterer Mechanismus, der auf einer ganz grundlegenden Ebene auf die Verletzung humanitärer Grundstandards reagiert, ist die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der handelnden (Staats-)Täter nach Völkerstrafrecht. Die dahinter stehende Idee der individuellen Rechenschaft für Verletzungen humanitärer Grundstandards ist nicht neu, hat sich in der heutigen Form aber erst in den vergangenen gut fünfundzwanzig Jahren zu einem (immer noch imperfekten) System der Durchsetzung basaler ethischer wie rechtlicher Standards entwickelt.

Die folgenden Bemerkungen setzen ethische und rechtliche Standards im Bereich der Kampfführung weithin gleich, obwohl eine solche Identität ethischer und rechtlicher Standards im Detail natürlich nicht durchgängig besteht. Allerdings lässt sich im Blick auf die Entwicklung dieser Standards eine weitgehende Konvergenz feststellen, die den Verzicht auf Differenzierung rechtfertigt, alles andere wäre im Format eines solchen Kurzbeitrags kaum zu leisten. Wie ging nun die Tradition (vor allem des Kriegsvölkerrechts) mit dem Phänomen um, dass in Kriegen immer wieder einzelne Konfliktparteien beschlossen hatten, die etablierten Regeln systematisch zu missachten? Das tradierte Kriegsvölkerrecht war auf einem Mechanismus strikter Reziprozität aufgebaut. Hielt sich die eine Seite nicht an die Regeln, so war es der anderen Seite erlaubt, die verletzten Regeln auch seinerseits beiseitezuschieben und die Gegenpartei ähnlich harsch zu behandeln, wie diese es (als Rechtsbruch) praktizierte. Nicht immer war dies im Blick auf kritische Öffentlichkeiten ratsam, auch vertrug sich eine solche Politik gezielter, reziproker Unterschreitung humanitärer Standards, nicht immer mit dem Selbstbild eines ´zivilisierten Staates´ und den eigenen ethischen Ansprüchen. Doch praktiziert wurde eine solche ´krude´ Reziprozität immer wieder, bis hin zu abscheulichen Massakern unter der Zivilbevölkerung in Reaktion auf vergleichbare Untaten der Gegenseite, man denke an den unmenschlichen Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Die Zeiten dieser ´kruden´ Reziprozität sind aber vergangen, in ethischer wie rechtlicher Perspektive. Unser sensibilisiertes ethisches Bewusstsein erträgt es nicht mehr als gerechtfertigte Gegenreaktion, der gegnerischen Zivilbevölkerung ähnliches Leid anzutun, wie dies der eigenen Bevölkerung widerfahren ist. Im Humanitären Völkerrecht hat sich dies in einer Serie von heute nahezu umfassenden Repressalienverboten niedergeschlagen, die archaische Reaktionen im Muster des ´Zahn um Zahn´ heute im Bereich humanitärer Grundstandards nicht mehr erlauben.

Dies ermöglicht es Konfliktakteuren, die zynisch mit dem systematischen Rechtsbruch kalkulieren, zunächst einmal weitgehend ungeschoren mit ihren Rechtsbrüchen davonzukommen. Die russische Praxis der Kriegführung ist ein Musterbeispiel derartigen Vorgehens. Sie steht in einer direkten Traditionslinie zum Völkerrechtsnihilismus der Sowjetunion, die immer wieder gezielt rechtliche Verpflichtungen einging, deren Missachtung im Ernstfall von vornherein eingepreist war.  Wir wissen um diese Doppelbödigkeit sowjetscher Völkerrechtspolitik dank zwischenzeitlicher Öffnungen der Archive. Der im KGB sozialisierte Wladimir Putin und seine ´homo sovieticus´-Clique aus Geheimdienstleuten und Sicherheitsapparatschiks setzt diese Haltung ungerührt fort, wie sich nicht nur am Grundfaktum des verbrecherischen Angriffskriegs zeigt, sondern auch am ´modus operandi´ russischer Streitkräfte. Fernwaffen wie Raketen, Lenkflugkörper, Drohnen und Artillerie werden unverhohlen in Form des eigentlich geächteten ´Terrorkriegs´ gegen zivile Ziele und die Zivilbevölkerung eingesetzt. Eine mordende, plündernde und vergewaltigende Soldateska vergeht sich in den Kampfzonen an allen Standards, die das Völkerrecht für den Umgang mit der Zivilbevölkerung aufgestellt hat, ohne irgendein erkennbares Bemühen der Militärführung, ihre zügellose Soldateska im Sinne der Achtung der Standards zu disziplinieren. Stichwort hierfür ist Butscha. Auch in den besetzten Gebieten der Ost- und Südukraine missachtet Russland systematisch alle Standards des Humanitären Völkerrechts zum Handeln in besetzten Gebieten. Personen, die der Besatzungsmacht gegenüber als feindselig eingestellt gelten, werden willkürlich verhaftet, gefoltert und getötet, bis hin zur Praxis des ´Verschwindenlassens´. Große Teile der Bevölkerung der besetzten Gebiete muss sogenannte ´Filtrationslager´ durchlaufen. Teile davon werden dann nach Russland deportiert, Kinder von den Familien getrennt und nach Russland entführt, um dort zu ´patriotischen Russen´ umerzogen zu werden; die Eigentumsordnung der besetzten Gebiete wird systematisch missachtet, Eigentum in großem Umfang umverteilt, Museen und Kulturdenkmale in den besetzte Gebieten systematisch geplündert, wehrfähige Männer der Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete werden, unter Missachtung von Grundregeln des Humanitären Völkerrechts, zum Wehrdienst in den Streitkräften der Besatzungsmacht gezwungen. Die Liste der Verstöße gegen grundlegende Regeln ließe sich noch um einiges verlängern. Das Bild, das sich dem auswärtigen Betrachter bietet, spricht dafür, dass russisches Militär und Behörden sich schlicht und einfach für die Regeln nicht interessieren, denen Russland sich formal unterworfen hat, denn die russische Praxis spricht für eine völlige Ignoranz gegenüber den Grundregeln des Völkerrechts und schon gar der Ethik.

Was bleibt nun als Reaktion auf diese unverfrorenen Rechtsbrüche, wenn die klassischen Muster reziproker Außerkraftsetzung der einschlägigen Normen versperrt sind? Der direkt von den Rechtsbrüchen betroffene Staat kann immer noch zu Gegenmaßnahmen greifen, zwar nicht ´in kind´, sondern in Aussetzung von rechtlich garantierten Vorteilen in anderen Bereichen. Bei einer Machtasymmetrie wie im Fall Russland-Ukraine wird dies allerdings nur sehr bedingt zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung beitragen. Der Opferstaat ist in derartigen Situationen zu schwach, um ernsthaft Zwang auf den Täterstaat auszuüben. Die Aufrechterhaltung der ethischen wie rechtlichen Standards ist in einer solchen Situation auf entsprechende Reaktionen der Drittstaaten angewiesen. Zunächst einmal sollten Drittstaaten alles ihnen Mögliche tun, um dem Opfer der Rechtsbrüche beizustehen und ihn nach Möglichkeit zu befähigen, die Rechtsverletzungen abzuwehren. Darüber hinaus ist es sinnvoll, ja im Interesse der Bewahrung der internationalen Rechtsordnung geradezu geboten, über koordinierte Pakete politischer wie wirtschaftlicher Sanktionen Druck auf den Täterstaat auszuüben, von den Rechtsbrüchen abzulassen und wieder einen rechtskonformen Zustand herzustellen. Wirkung wird dieser Weg koordinierter Sanktionen natürlich nur zeitigen, wenn eine genügend große Zahl von Staaten sich der Empörung über die Rechtsbrüche anschließt und teilnimmt an den gemeinsam beschlossenen Sanktionsmaßnahmen. Solche Sanktionen haben zunächst ein symbolisch-expressives Ziel, nämlich der Empörung und Besorgnis über die Rechtsbrüche Ausdruck zu verleihen. Darüber hinaus können sie, schließt sich eine kritische Masse der Sanktionspolitik an, auch so etwas wie Beugezwang auf den Rechtsbrecher ausüben. Häufig wird beklagt, Sanktionen seien weitgehend wirkungslos. Die einschlägige Forschung zeigt, dass derartige Behauptungen häufig mit zu verkürzten Zeithorizonten arbeiten und dass breit getragene Sanktionspakete auf mittlere Sicht tatsächlich negative Wirkungen für Politik und Wirtschaft der Zielstaaten haben werden. Dies gilt im Besonderen, wie im Fall der Ukraine, für ein in seinen Dimensionen historisch nahezu einmaliges Sanktionspaket, wie das der EU gegen Russland.

Es bleibt ein Reaktionsmodus, der in jüngerer Zeit erheblich an Prominenz gewonnen hat, die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Systemtäter nach Völkerstrafrecht. Der Gedanke, dass staatliche Amtsträger für Verstöße gegen grundlegende Standards, insbesondere humanitärer Natur, persönlich als Täter von Verbrechen gegen fundamentale Belange der Menschheit, wie Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden sollten, ist eigentlich schon recht alt. Halbwegs klare Konturen gewonnen hat dieser Gedanke mit den Kriegsverbrechertribunalen von Nürnberg und Tokio nach 1945.   Als regulärer Bestandteil des völkerrechtlichen Reaktionsmusters auf Verstöße gegen fundamentale Standards hat dieses Konzept dann mit den Sondertribunalen für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien Bedeutung erhalten. Auf breiter Front regularisiert wurde es mit der Verabschiedung des Römischen Statuts und der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes Ende der 1990er Jahre. Seitdem ist der Gedanke fest im Völkerrecht verankert, dass politisch und militärisch Verantwortliche, die für systematische Verstöße gegen grundlegende Standards humanitärer Natur schuldig sind, individuell als Völkerrechtsverbrecher strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen sind. Das System ist zwar bis heute lückenhaft, insbesondere im Blick auf die fehlende Bindung der großen Militärmächte, doch können auch diese sich den Auswirkungen des modernen Völkerstrafrechts nicht in Gänze entziehen, wie die Ermittlungen des Anklägers beim IStrGH gegen US-amerikanische Verantwortliche für Untaten in Afghanistan und gegen russische Verantwortliche für Völkerrechtsverbrechen in der Ukraine zeigen. Trotz fehlender Unterwerfung der USA und Russlands unter den IStrGH, bleibt dieser zuständig für Taten auf dem Boden von Staaten, die sich dem System unterworfen haben (wie Afghanistan und die Ukraine). Allerdings hat ein Haftbefehl des IStrGH gegen Herrn Putin, wie im Frühjahr 2023 erlassen, zunächst wiederum nur symbolisch-expressive Funktionen.  Er signalisiert die tiefe normative Missbilligung der Staatengemeinschaft für frevlerische Missachtungen grundlegender Regeln der Kriegführung, eine Form der ausdrücklichen Ächtung, die eine spätere Rückkehr zum ´business as usual´ sehr schwierig werden lässt, wenn nicht unmöglich macht. Hyperrealisten werden einwenden, dies behindere im Ergebnis die über diplomatische Verhandlungen hergestellte Beendigung des Konflikts, doch übersieht diese realpolitisch grundierte Position, dass diplomatische Lösungen unter Hinnahme der, durch fundamentale Rechtsbrüche bewirkten, Status quo-Änderungen rechtlich eigentlich nicht mehr gangbar sind, will sich die globale Rechtsgemeinschaft in ihren normativen Grundfesten nicht selbst aufgeben. Die gegenwärtige russische Führung mag noch längere Zeit im Amt verbleiben, sie wird, solange sie nicht Bereitschaft zur Umkehr zeigt und Reue für die begangenen Rechtsbrüche signalisiert, als eine Art ´Paria´ eine Randexistenz unter den Ausgestoßenen der globalen Rechtsordnung führen. In einer normativen Perspektive muss dies auch so sein, kann doch nur auf diese Weise die Wunde der Missachtung grundlegender humanitärer Standards offengehalten werden und dem Grundsatz des ´ex injuria jus non oritur´ Geltung gesichert werden. Ein produktiver Umgang mit fundamentalen Rechtsbrüchen, wie denen Russlands im Angriffskrieg gegen die Ukraine, setzt mithin die Gegenwehr einer ausreichend großen Zahl von Drittstaaten voraus, die sich von der systematischen Missachtung grundlegender Standards in ihrem Rechtsgefühl herausgefordert sehen und die mit allen erdenklichen Mitteln ihrer Grundhaltung Ausdruck verleihen, radikale Unterschreitungen grundlegender Standards, nicht akzeptieren zu können.  Nur so können grundlegende Kontestationen des Normensystems eingedämmt und die drohende Erosion des normativen Gefüges aufgehalten werden.