Hamburg - 27.03.2022

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine: Welche Folgen hat der russische Aggressionsakt für das Völkerrecht?

Prof. Dr. Stefan Oeter

Prof. Dr. Stefan Oeter, 1979-1983 Studium der Rechts- und Politikwissenschaften in Heidelberg und Montpellier; nach Referendarzeit von 1987-1999 wiss. Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg; 1990 Promotion zum Dr. iur., Heidelberg; 1997 Habilitation in Heidelberg; seit 1999 Prof. für Öff. Recht und Völkerrecht und Direktor des Instituts für int. Angelegenheiten Universität Hamburg; deutsches Mitglied des Unabhängigen Expertenkomitees für die Europ. Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats (Vorsitz 2006-2013); Vorsitz der Historical Commission der Int. Society for Military Law and the Laws of War; Mitglied des Permanent Court of Arbitration, Den Haag; Forschungsschwerpunkte: vergleichende Föderalismusforschung; Schutz von Sprach- und Kulturminderheiten; Humanitäres Völkerrecht; Europäisches und int. Wirtschaftsrecht; Theorie des Völkerrechts und der int. Beziehungen.

Der am 24. Februar 2022 in Gang gesetzte Angriff der Russländischen Föderation auf die Ukraine erscheint in der normativen Perspektive des Völkerrechts zunächst als ein recht simpler Fall, ohne ernsthafte Punkte streitiger Bewertung. Es handelt sich unter dem Blickwinkel des modernen Völkerrechts, wie es mit der UN-Charta 1945 seine Gestalt gefunden hat, um einen unverhohlenen und offenen Akt der Aggression, unter Verletzung des in Art. 2 (4) UN-Charta statuierten Gewaltverbots. Die von Russlands Präsident Putin angeführten Versatzstücke einer Rechtfertigung hätten vielleicht im diskursiven Referenzrahmen des 18. oder 19. Jahrhunderts noch einen gewissen Sinn ergeben können, weisen aber keinerlei nennenswerten Bezug zum normativen Referenzrahmen des heutigen Völkerrechts auf. Es hat keinen vorausgegangenen Angriff der Ukraine auf Russland gegeben, was jegliche Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht ausschließt, und auch sonstige Aspekte, die auch nur den Ansatz einer Rechtfertigung ergeben könnten, sind nicht ersichtlich. Es handelt sich um einen völlig offenen Angriffskrieg – woran auch die Titulierung als ´special military operation´ nichts zu ändern vermag, die bewusst ignoriert, dass jede Form militärischer Gewaltanwendung gegen einen fremden Staat der Rechtfertigung bedarf. Hatte sich Russland 2014 noch Mühe gegeben, seine Aggression notdürftig zu kaschieren, mit dem Einsatz der ominösen ´grünen Männchen´ und der doppelten Abstimmungsscharade auf der Krim sowie der Inszenierung eines ´Volksaufstandes´ im Donbass, der allerdings nur durch massiven Einsatz regulärer russischer Truppen konsolidiert werden konnte, so erfolgte dieses Mal zunächst eine unverhohlene Drohung mit einer an den Grenzen zur Ukraine zusammengezogenen Angriffsstreitmacht russischer Truppen und dann der offen zelebrierte militärische Überfall. Das Putin-Regime schien sich seiner Sache so sicher zu sein, dass man keinerlei Mummenschanz mehr zu brauchen meinte.

In derart unverfrorener Form ist der auf Zerstörung der bestehenden Staatenordnung gerichtete Angriffskrieg der Staatengemeinschaft seit Hitlers Überfall erst auf die ´Rest-Tschechei´ und dann auf Polen 1939 nicht mehr vor Augen getreten – mit Ausnahme vielleicht der Angriffskriege Saddam Husseins erst gegen den Iran 1980 und dann gegen Kuweit 1990. Dieser manifest alle Kernelemente der ´Aggressionsdefinition´ erfüllende Gewaltakt fällt in der Folge auch ganz klar unter den Tatbestand des Verbrechens der Aggression, wie er 1945 erstmals im Statut des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals formuliert wurde und nun in Art. 8 bis des Römischen Statuts ausbuchstabiert wird, auf der Grundlage des sogen. ´Kampala-Kompromisses‘ der Konferenz der Vertragsparteien. Das Putin-Regime scheinen all diese normativen Grundfesten der Nachweltkriegsordnung nicht mehr zu bekümmern – man wähnt sich im historischen Recht, Gebiete des ´Russkiy Mir´ heim ins Reich zu holen. Die Mitte März erlassene einstweilige Anordnung des Internationalen Gerichtshofes, die Russland zur Einstellung aller feindlichen Gewaltakte verpflichtete, wird diesen Befund nur bestätigen. Gestützt ist die Jurisdiktion des IGH auf die vertragliche Streitbeilegungsklausel der Völkermordkonvention von 1948. Dass Russland kein Recht hat, unter Rückgriff auf Vorwürfe des Völkermords gegen die Ukraine diese mit schrankenloser Gewalt zu überziehen, wie der IGH konstatierte, stellt völkerrechtlich eigentlich eine Trivialität dar. Das Putin-Regime wird diesen Ausspruch des Rechtsprechungsorgans der Vereinten Nationen aber – aller Wahrscheinlichkeit nach – genauso unverfroren ignorieren wie es die Grundnormen der UN-Charta ignoriert hat.

Dieser erste Zugriff einer dezidiert normativen Analyse wirft, sieht man genauer hin, eine Vielzahl von Fragen auf. Die wohl wichtigste, und inzwischen auch vielfach offen gestellte Frage lautet: Stellt eine derartig offene und frontale Anfechtung der Grundlagen der modernen Völkerrechtsordnung, die Geltung der grundlegenden Regeln des Systems der Friedenssicherung der UN-Charta in Frage? Man sollte diese Frage nicht vorschnell beantworten. Im Kern wissen wir aus der sozialwissenschaftlichen Normenforschung, dass Anfechtungen einzelner Normen oder auch ganzer normativer Ordnungen, im Fachjargon ´Kontestation´ genannt, nicht per se die Geltung der angefochtenen Normen beeinträchtigen, ja im Gegenteil sogar die normative Ordnung stärken können. Welche Wirkungen eine solche ´Kontestation´ hat, hängt von den Reaktionen der Agenten und Mitglieder der herausgeforderten normativen Ordnung ab. Nimmt man die Herausforderung und den damit häufig verbundenen Regelbruch achselzuckend hin und geht zur Tagesordnung über, lässt man also den Regelbrecher gewähren, so kann leicht ein Prozess der Erosion der (wahrgenommenen) Geltung der Norm einsetzen. Für das Völkerrecht bedeutet dies: Unverhohlene Akte der Aggression bedürfen der Gegenwehr, der konzertierten Reaktion der Staatengemeinschaft, um so die (tabuisierte) Erreichung politischer Ziele mit Gewalt zu durchkreuzen und eine Nachahmung als nicht empfehlenswert erscheinen zu lassen. Nicht zuletzt zu diesem Zweck wurde 1945 mit der UN-Charta das Organ des Sicherheitsrates mit seinen Zwangsbefugnissen nach Kapitel VII geschaffen. Leider hat sich aber eine zentrale Prämisse dieses institutionellen Arrangements als sehr prekär erwiesen – nämlich die Grundannahme, die Hauptsiegermächte des Weltkriegs seien unter dem Schock der unermesslichen Leiden des Kriegs und der den Krieg begleitenden Gräuel geläutert und zu verantwortungsvoller Wahrnehmung ihrer mit der UN-Charta zugewiesenen Aufgaben und Befugnisse befähigt. Die Empirie der Jahrzehnte seit 1945 spricht leider eine andere Sprache – die mit Vetobefugnissen ausgestatteten Ex-Siegermächte, die sogen. ´Permanent Five´, sind nicht die verantwortungsvollen Wächter der Friedensordnung und der kollektiven Sicherheit, sondern sind deren zentrale Gefährder (Großbritannien und Frankreich ausgenommen, die längst zu schwach sind für eine gewaltgestützte Machtpolitik). Die Staaten (und Gesellschaften) der Welt sind damit zurückgeworfen auf den Residualmechanismus, der in der Konstruktion der UN-Charta miteingebaut wurde – das Instrumentarium der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung.

Für die Staatengemeinschaft – oder zumindest die überwältigende Mehrheit von Staaten, die in der Sondergeneralversammlung der UN Anfang März ihrer Empörung über den Gewaltakt Russlands Ausdruck verliehen haben – tut sich damit ein schwerwiegendes Dilemma auf. Wollen wir nicht schulterzuckend mit ansehen, wie grundlegende normative Anforderungen des modernen Systems völkerrechtlicher Friedenssicherung mit Füßen getreten werden, müssen wir dem Opfer des Aggressionsaktes Hilfe leisten – und zwar nicht nur humanitäre Hilfe, sondern auch militärische Hilfe, die ihn tendenziell befähigt, die militärischen Pläne des Aggressors zu durchkreuzen. Völkerrechtlich ist diese Hilfeleistung für das Aggressionsopfer, bis hin zum Eintritt in den Konflikt mit eigenen Truppen, völlig unproblematisch, da Ausfluss des Rechts auf (kollektive) Selbstverteidigung. Die nun in großem Umfang von Staaten des Westens geleistete Militärhilfe, in Form der Lieferung von Waffen und militärischen Ausrüstungsgütern, ist unter dem Aspekt der im Kontext kollektiver Sicherheit geforderten Solidarität mit Opfern offener Aggression das Minimum dessen, was unter dem Gesichtspunkt der Bewahrung grundlegender Normen der Friedenssicherung geboten ist. Dass die Staaten der NATO nicht gewillt sind, mit eigenen Truppen an der Seite der Ukraine in den Krieg einzutreten, hat politisch gute Gründe, versetzt uns aber zugleich in eine schamvolle Rolle als Trittbrettfahrer der durch die Ukraine erbrachten Abwehr des Angriffes auf die Völkerrechtsordnung. Natürlich muss die NATO aufpassen, nicht eine fatale Eskalationsspirale in Gang zu setzen – ein Szenario, mit dem der Kreml unverfroren spielt. Zudem verfügt Russland eindeutig über die Eskalationsdominanz, kann den Konflikt jederzeit auch durch einen Angriff auf die baltischen Staaten ausweiten, dem die NATO nur schwer etwas entgegensetzen könnte, vermag außerdem glaubhaft über eine Drohung mit dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen Schrecken zu verbreiten, unterhalb des Horrorszenarios eines globalen Nuklearkriegs. Das Zögern der NATO, sich durch direkten Kriegseintritt militärisch zu exponieren, hat insofern nachvollziehbare Gründe. Es wird uns aber in die ethisch quälende Lage versetzen, mit zunehmender Dauer des Krieges tatenlos einem immensen Blutopfer Zigtausender, wenn nicht Hunderttausender von ukrainischen Zivilisten, aber auch erschreckend hoher Zahlen getöteter Soldaten beider Seiten zusehen zu müssen.

Die von diesem immensen Leid genährte moralische Intuition verlangt nach Bestrafung der Verantwortlichen. Der Blick richtet sich damit. und das zeigt sich heute schon in der völkerrechtlichen Diskussion, auf das Völkerstrafrecht. Rein normativ ist dies auch naheliegend. Wie oben schon erwähnt wurde, erfüllt der unverfrorene Angriffskrieg alle Tatbestandsmerkmale des Aggressionsverbrechens. Dies gilt allemal für die historisch noch recht grobschlächtige Fassung, die dieses Verbrechen in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen erfuhr, im Übrigen auf sowjetische Initiative hin, es gilt aber selbst für die kunstvoll eingegrenzte Fassung, die der Tatbestand mit dem ´Kampala-Kompromiss´ im Kontext des Römischen Statuts erfuhr. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt dabei anschaulich, warum das Aggressionsverbrechen 1945 als die ´Mutter´ der völkerrechtlichen Verbrechen qualifiziert wurde, als die ´Ursünde´ des Völkerrechts schlechthin („supreme international crime“). Das Lostreten der Gewaltdynamik eines Krieges, die von Niemandem mehr wirklich beherrscht werden kann, ist – wie der Fall der Ukraine zeigt – der eigentliche Sündenfall, der eiskalt und zynisch das Opfer von unzähligen Menschenleben in Kauf nimmt. An der Strafwürdigkeit dieses Verbrechens besteht kein Zweifel – doch hapert es an institutionellen Mechanismen, diese im Grundsatz konsentierte Strafwürdigkeit auch konkret in reale Strafverfolgung und Verurteilung umzusetzen. Der ´Kampala-Kompromiss´ hat die Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofes so kunstvoll eingekapselt, letztlich auf Betreiben der Großmächte, dass der IStGH im Ukraine-Fall eindeutig keine Zuständigkeit hat. Generelle Strafwürdigkeit nach Völkerstrafrecht und konkrete Strafverfolgung treten damit schmerzlich auseinander. Es hat sich zwar mittlerweile eine Initiative geformt, mit tatkräftiger Unterstützung renommierter politischer Akteure, ein ´hybrides Tribunal´ zur internationalen Verfolgung dieses Aggressionsverbrechens zu errichten. Rein rechtlich wäre dies ein durchaus gangbarer Weg – realpolitisch wird der aber solange nicht zu irgendeinem Ergebnis führen, solange Präsident Putin und seine Clique in Moskau an der Macht sind.

Rechtstechnisch vielversprechender ist eine internationale Strafverfolgung für die im Kontext des russischen Aggressionskriegs begangenen Kriegsverbrechen. Hier hat der IStGH auf Basis der ukrainischen ad hoc-Unterwerfung unter die Jurisdiktion des Gerichtshofes eine stabile Zuständigkeitsgrundlage, auch für Verfahren gegen russische Militärs und Offizielle. Selbst die deutsche Strafgerichtsbarkeit hätte insoweit auf der Basis des Weltrechtsprinzips nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) eine Zuständigkeit, so man denn konkreter Täter habhaft würde. Der Ankläger des IStGH hat in dieser Frage mittlerweile Ermittlungen eingeleitet, und auch der Generalbundesanwalt hat die Einleitung sogen. ´Strukturermittlungen´ verfügt. Der Fall des russischen Überfalls auf die Ukraine bestätigt wieder einmal die alte Erfahrung, dass Aggressionsverbrechen und Kriegsverbrechen fast notwendig Hand in Hand gehen. Versucht man, wie jetzt Russland, einem fremden Volk mit brutaler Gewalt seinen Willen aufzuzwingen, so bestärkt dies den Durchhalte- und Widerstandswillen des angegriffenen Volkes, und der Angreifer muss in der Logik militärischer Überwältigung zu immer brutaleren Methoden greifen, um den Krieg nicht zu verlieren und der anderen Seite seinen Willen aufzuzwingen. Besonders fatal ist dies bei Streitkräften – wie der russischen Armee – die nach Struktur und Einsatzdoktrin sowieso keinen großen Wert auf Unterscheidung von militärischen und zivilen Zielen (und implizit auf Präzision der Angriffe) legen – eine derartige Armee rutscht im Kontext eines Angriffskrieges unweigerlich in ein generelles Muster systematischer Kriegsverbrechen, wird strukturell damit (unter dem Blickwinkel des Völkerrechts) zu einer ´kriminellen Organisation´. Die Belege für unterschiedslose Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die letztlich einzig und allein dem Ziel der Terrorisierung der gegnerischen Bevölkerung dienen, sind inzwischen so zahlreich, dass man ohne Vorbehalt von einem ´gross and consistent pattern´ der Begehung von Kriegsverbrechen sprechen kann. Schwierigkeiten im Nachweis individueller Verantwortlichkeit werfen hier vor allem die Fragen der individuellen Zurechenbarkeit in der Kommandokette auf – man wird jedoch, angesichts des anhaltenden und offensichtlichen Charakters der Verbrechen in der Praxis der Kampfführung, mit Kategorien der Kommandoverantwortlichkeit operieren können. Auch hier stellen sich Fragen der praktischen Durchsetzung – doch führt die breit gestreute Verfolgungszuständigkeit insoweit zumindest zu der Folge, dass hohen russischen Militärs und Mitgliedern des engeren Führungszirkels, etwa aus dem Kreis des Nationalen Sicherheitsrats, Reisen in das westliche Ausland in Zukunft nicht mehr anzuraten sein werden, liefen sie doch das Risiko der Verhaftung zur Zuführung an den IStGH oder an nationale Strafgerichte.

Man sollte sich allerdings hüten, den normativen Bewertungsrahmen allein auf das Völkerstrafrecht zu fokussieren, so naheliegend dies emotional auch sein mag. Will man dem sinnlosen Massenmord und der Zerstörungsorgie in der Ukraine vor dem finalen Punkt allgemeiner Erschöpfung beider Seiten ein Ende bereiten, so bedarf es des Offenhaltens der Kanäle diplomatischer Verhandlungen – und das normative ´framing´ des Völkerstrafrechts ist vielleicht dann doch nicht der ideale Rahmen für Verhandlungen. Zwar spricht im Moment kaum etwas dafür, dass die Kreml-Führung in absehbarer Zeit zu ernsthaften Verhandlungen über ein Ende des Krieges bereit sein könnte. Trotz guter Gründe für die Annahme, im Grunde habe Russland den Krieg schon verloren, ist die Kreml-Führung (und insbesondere Präsident Putin) von einer derartigen Einsicht wohl noch weit entfernt. Ist man erst einmal – wie ganz offensichtlich Wladimir Putin – von dem tiefen Glauben an die historische Mission durchdrungen, die ´Russische Welt´ als eine politische Einheit unter russischer Führung wieder zusammenzuführen, in einem Imperium zumindest aller Ostslawen, so hat es die Einsicht in die begrenzten Ressourcen Russlands zunächst schwer. Der sich nun anbahnende ´Zermürbungskrieg´ wird erst ein Ende finden, wenn in den Köpfen der russischen Führung die Einsicht gereift sein wird, dass das immer weitere Ausbluten beider Seiten den Abstieg Russlands als einer (zunehmend dubiosen) Regionalmacht nur noch weiter beschleunigen wird.

Die in den letzten Wochen so häufig beschworene ´Zeitenwende´ ist, darauf hat an dieser Stelle Herfried Münkler in seinem Blogpost vom 7.3. hingewiesen, zunächst einmal eine epochale Wende in unserer (also der westlichen) Wahrnehmung der Situation. Die Vorstellung, wir lebten in einer strukturell friedfertigen Welt und der Krieg als Mittel der Durchsetzung politischer Interessen sei zumindest in Europa endgültig überwunden, hat sich als ein fataler Trugschluss erwiesen. Krieg ist in Europa als Mittel der Politik nicht nur denkbar, er wird von einem zentralen Akteur des europäischen Staatensystems offensiv als Mittel der politischen Zielerreichung eingesetzt. Die Zeichen dafür waren schon länger erkennbar, doch wir wollten sie in unserer (politischen wie intellektuellen) Bequemlichkeit nicht zur Kenntnis nehmen. Das Vertrauen in die Kraft der ´regelbasierten Weltordnung´ schien jegliche Anstrengung in die Gewährleistung von Sicherheit überflüssig erscheinen zu lassen – und auf einmal müssen wir für diese ´regelbasierte Weltordnung´ kämpfen, wollen wir sie nicht in den Orkus einer brutalen Welt des ´homo homini lupus´ entschwinden sehen. Die Zeit der ´Friedensdividenden´ ist damit zu Ende, uns wird bewusst, dass handlungsfähige und möglichst gut ausgestattete Streitkräfte zentraler Baustein einer realistischen Außen- und Sicherheitspolitik Europas sein müssen, zu der wir gefälligst unseren gewichtigen Beitrag zu leisten haben, wollen wir nicht als notorische ´Trittbrettfahrer´ in völlige Isolation geraten. Es ist noch nicht einmal mehr auszuschließen, dass wir im Endeffekt wieder die Armee alter Zeiten mit 500.000 Soldaten (und nun auch Soldatinnen) sowie Rüstungsausgaben von mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts benötigen werden – ein Gedanke, an den sich die deutsche Gesellschaft erst noch gewöhnen muss.

Die beschriebene ´Zeitenwende´ beschränkt sich allerdings nicht auf das politische Denken in Deutschland (und der EU), sie betrifft auch die Stellung Russlands in der internationalen Gemeinschaft. Russland hat sich als ein offen das Recht negierender Staat erwiesen, dessen Reputation als Vertragspartner ins Bodenlose abgestürzt ist. Verträge mit Russland, das weiß nun alle Welt, sind das Papier nicht wert, auf denen sie geschrieben sind. Ohne irgendein Vertrauen in die Seriosität der (bekundeten) Vertragstreue wird es auf längere Zeit schwer sein, mit Russland überhaupt noch vertragliche Abmachungen einzugehen, die über ganz punktuelle Formen transaktionaler ´Deals´ hinausgehen. Die Führung im Kreml verachtet ganz offensichtlich jegliche Form von Recht und Ethik – und alle Welt hat dies nun drastisch vor Augen geführt bekommen. Die Ukraine hatte eine Vielzahl vertraglicher Vereinbarungen mit Russland, in denen die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine garantiert wurden – alles Schall und Rauch! 

Besonders fatal ist dies im Blick auf die Garantien des Budapester Memorandums von 1994. Die Lektion, die viele Staatsführungen aus dem Exempel ziehen werden, ist das Gegenteil dessen, was seit Jahrzehnten mit dem NPT, also dem Nichtverbreitungsvertrag, angestrebt wird: Der Status als Nicht-Nuklearwaffenstaat bedingt – zumindest im Verhältnis zu Russland – radikale Unsicherheit, qualifiziert einen ersichtlich zum Opfer militärischer Aggression. Die Abgabe der sowjetischen Nuklearwaffen an Russland war in der Rückschau ein fataler Fehler der Ukraine, und die im Gegenzug erteilten Sicherheitsgarantien erweisen sich jetzt als praktisch wertlos. Das Nichtverbreitungsregime hat damit einen fatalen Schlag bekommen, noch gesteigert durch die unverhohlene Drohung der russischen Führung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Es wird beherzter Abrüstungsschritte der Nuklearmächte nach Ende des Krieges bedürfen, mit einer ernsthaften Orientierung auf das Leitbild des ´Global Zero´ (und einer möglichst raschen Ächtung aller nuklearen Gefechtsfeldwaffen), will man den sich in der Folge anbahnenden Trend zur Proliferation von Nuklearwaffen aufhalten.

Der ´Kollateralschaden´ der unverantwortlichen russischen Gewaltpolitik geht aber noch deutlich weiter. Die institutionelle Absicherung des mit der UN-Charta errichteten Systems kollektiver Sicherheit ist vor aller Augen als dysfunktional delegitimiert. Die Einsetzung der fünf Hauptsiegermächte von 1945 als institutioneller Garanten der kollektiven Sicherheit – darauf beruht letztlich deren Sonderstellung als der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates mit Vetobefugnis – hat sich als eine nicht tragfähige Fehlkonstruktion erwiesen. Die anderen vier ständigen Mitglieder werden diesen Befund zu kaschieren suchen, denn jede Neuaushandlung der institutioneller Architektur der Vereinten Nationen, auch nur im Sinne einer Reform, würde ersichtlich zeigen, dass ein derartiges Konstrukt heute nicht mehr zustimmungsfähig ist. Auf Dauer aufrechtzuerhalten wäre die privilegierte Stellung der ´Permanent Five´ nur gewesen, wenn diese im Ansatz ein Bemühen gezeigt hätten, ihrer Verantwortung als Garanten der kollektiven Sicherheit und des internationalen Friedens gerecht zu werden – eine Bedingung, die im gegenwärtigen ´Moment der Wahrheit´ als völlig illusionär entlarvt ist, zeigt Russlands Vorgehen doch ´in extremis´ die Abgründe eines zynischen Missbrauches der privilegierten Stellung.

Diese Versuchung ist nicht gerade neu, und Russland ist auch nicht der einzige Akteur aus dem Kreis der ständigen Sicherheitsratsmitglieder, der eine Vielzahl von fragwürdigen Gewaltakten auf dem Kerbholz hat – man denke nur an die US-amerikanischen Interventionen in Grenada, Nicaragua, Panama, Serbien/Kosovo, Irak und zuletzt in Libyen 2011. Doch so fragwürdig im Blick auf den (kaum zu rechtfertigenden) Einsatz von militärischer Gewalt diese Interventionen auch immer waren, so haben sie doch keinen nachhaltigen Schaden in der Völkerrechtsordnung geschaffen, im Sinne eines ´Dauerunrechts´. Letzten Endes wurden in all diesen Fällen fragwürdiger Interventionen nach kürzeren Wirren demokratisch vom Volk gewählte Regierungen etabliert, zum Teil unter tatkräftiger Mithilfe der Vereinten Nationen, und so das Selbstbestimmungsrecht gewahrt – bis auf Libyen, das seit nunmehr gut zehn Jahren in Anarchie und Bürgerkrieg versunken ist. Die parallele Sequenz russischer Gewaltinterventionen erweist sich in den Folgen als deutlich problematischer. Zwar hat auch Russland, einschließlich der eklatant rechtswidrigen Annexion der Krim und Friedloslegung des Donbass, immer Lippenbekenntnisse zur Grundnorm des Gewaltverbots abgelegt und seine Rechtsbrüche zu kaschieren gesucht – doch die Folgewirkungen tendierten mehr und mehr zur Schaffung auf Dauer gestellten Unrechts, von ´frozen conflicts´ über gewaltsam herbeigeführte Statusveränderungen streitiger Gebiete bis hin zur eklatant rechtswidrigen Annexion der Krim. Der neue Angriffskrieg gegen die Ukraine radikalisiert diese zunehmend offene Verachtung des völkerrechtlichen Regelsystems nun ins Extreme. Selbst Lippenbekenntnisse zu den normativen Grundlagen des UN-Systems der Friedenssicherung werden in Moskau offenbar nicht mehr für notwendig gehalten, die Rechtfertigungsrhetorik ist zur reinen Parodie verkommen. Russland zeigt damit ganz offen, dass es sich vom normativen Konsens der Nachkriegsordnung des Jahres 1945 verabschiedet hat, der expressiv seinen Ausdruck gefunden hatte in der Eingangspassage der Präambel der UN-Charta „to save succeeding generations from the scourge of war, which twice in our lifetime has brought untold sorrow to mankind“. Das Putin-Regime geht zurück hinter diesen Moment des Erschreckens über das unendliche Leid des Krieges und propagiert mehr oder weniger offen das ´Recht des Stärkeren´. Dieser Versuch, den Krieg – und gar noch als offenen Angriffskrieg mit imperialistischer Zielsetzung – wieder als Normallfall der internationalen Beziehungen zu etablieren, wendet sich frontal gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen. Nicht nur das Gewaltverbot, auch das für das moderne Völkerrecht mindestens so zentrale Grundaxiom der Selbstbestimmung der Völker wird dabei über den Haufen geworfen – nicht zu Unrecht empfinden die Ukrainer Russland als eine nachgerade ´faschistische´ Macht, die in völkisch-rassistischer Geringschätzung der ukrainischen Nation deren Selbstbestimmung der ´historischen Mission´ des russischen ´Herrenvolkes´ unterzuordnen sucht. Die in russischen Intellektuellenzirkeln modischen Anknüpfungen an Carl Schmitts Großraumtheorien gehen in die gleiche Richtung. Wäre Putin normativ konsequent, und nicht auf überaus zynische Weise ein Rechtsnihilist, müsste Russland eigentlich die Vereinten Nationen verlassen, deren normative Grundlagen Russland so offen ablehnt. Natürlich wird dies nicht geschehen, schon um des (aus Moskauer Sicht so wichtigen) ständigen Sitzes im Sicherheitsrat willen, als Attribut seiner reklamierten Großmachtstellung. Obwohl Russland evident nicht mehr die Grundvoraussetzung der UN-Mitgliedschaft erfüllt, die Qualität als ´friedliebender Staat´, wird es realiter wohl nicht aus der Organisation der Vereinten Nationen ausgeschlossen werden – die in Art. 6 UN-Charta dafür geforderte Empfehlung des Sicherheitsrates wird es nicht geben. Aber genau dieser Befund verdeutlicht noch einmal den Frontalangriff auf die Grundfesten der internationalen Ordnung, der im russischen Überfall auf die Ukraine liegt – und der nicht hingenommen werden darf, soll diese Ordnung nicht auf Dauer in ihrem Grundgefüge erschüttert werden. Man kann nur hoffen, dass aus diesem Moment des Erschreckens über den (durchaus möglichen) Zusammenbruch der Völkerrechtsordnung bei den Staaten des Westens eine Rückbesinnung auf den Sinn der zentralen Normen dieses Systems stattfindet, die dann aber auch – soll sie glaubhaft sein – in Zukunft gekoppelt sein muss mit Zurückhaltung beim Rückgriff auf militärische Interventionen am Rande oder gar jenseits der Legalität.