Hamburg - 03.04.2020

Resilienz und Nachhaltigkeit in der Corona-Krise

Prof. Markus Vogt, Lehrstuhl für Christliche Sozialethik der LMU München

Zielkonflikte

Gegenwärtig werden alle finanziellen, politischen und gesellschaftlichen Ressourcen auf die Corona-Bekämpfung umgebucht. Aufgrund des aktuellen Eskalationsrisikos ist dies notwendig und richtig. Zugleich sollten dabei langfristige Ziele sowie die Standards von Demokratie, Transparenz und internationaler Solidarität nicht verloren gehen. Hinsichtlich der Abschottung von Grenzen wird es viel Mühe kosten, wieder Vertrauen und Offenheit herzustellen. Es wird schwer werden, die massive wirtschaftliche Überschuldung sowie die erhöhte Rate an Arbeitslosigkeit zu bewältigen. Viele Unternehmer sind trotz staatlicher Hilfen finanziell am Ende. Die Lasten sind ungleich verteilt: Obdachlosen brechen die letzten Existenzchancen weg; in kinderreichen Familien, die in kleinen Stadtrandwohnungen eingesperrt sind, eskalieren Konflikte; viele Länder haben keine krisenrobusten Gesundheitssysteme. Die Angst vor Kontrollverlust kann die Bereitschaft zum wirtschaftlichen und ökosozialen Wandel auch langfristig blockieren. Absehbar werden finanzielle Mittel für Investitionen beim Umbau des Energiesystems fehlen. Die Autoindustrie ruft nach Erleichterungen der Klimaschutzauflagen, um die Krise überstehen zu können. Es wird nicht leicht sein, beim Öffentlichen Nahverkehr gleiche Akzeptanz wie vor der Krise zu erzeugen, da im Kontext von Corona viel Misstrauen gegen den engen Kontakt im öffentlichen Raum entstanden ist. Im Krisenmodus werden Themen wie Klimaschutz und Nachhaltigkeit als nachrangig erscheinen. Wird der Green Deal der EU zurückgenommen, weil die Ressourcen für die Corona-Bewältigung verbraucht sind?

Langfristig Weichen stellen

Die Gesellschaft wird nach Corona eine andere sein. Es geht nicht darum, in den früheren Zustand zurückzukehren, sondern die Gesellschaft braucht eine innovative Zukunftsperspektive. Dabei sind jedoch vielschichtige Zielkonflikte zu bewältigen. Das Corona-Krisenmanagement sollte sich nicht in defensiven ad-hoc-Maßnahmen erschöpfen, sondern Perspektiven aufzeigen, wohin sich die Gesellschaft entwickeln muss, um künftig bei multiplen Krisen robuster und resilienter zu sein. Dafür kann Nachhaltigkeit, also die systemische Integration sozialer, ökologischer und ökonomischer Entwicklungen, eine entscheidende Horizonterweiterung anbieten. Jetzt werden langfristige Weichen gestellt. Der Wiederaufbau sollte ein Umbau sein und nicht ein Streben danach, wieder die alten Muster herzustellen. In der Finanzkrise 2008/2009 haben wir es weitgehend versäumt, den Umbruch für systemische Innovation zu nutzen. Dies hat zur Folge, dass das Risiko einer wiederkehrenden Krise besteht. Es gilt, die Krise als Chance für einen Wandel zu nutzen. In Bezug auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz muss sich zeigen, ob sie als Luxusdiskurs für bessere Zeiten wahrgenommen werden, oder ob sie problemorientiert als Change-Management ins Gespräch kommen. Die deutsche EU Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 wird im Zeichen der Corona-Krisenbewältigung stehen. Der angekündigte Green Deal wird sich darin bewähren müssen, dass er die Dynamik des Umbruchs nutzt und eine weniger krisenanfällige Gesellschaft fördert.

Die Corona-Pandemie als systemisches Problem

Es gibt ganz unmittelbare thematische Verknüpfungen von Corona-Krise und Nachhaltigkeit bzw. Nicht-Nachhaltigkeit, beispielsweise im Bereich von Globalisierung und dem Umgang mit Grenzen, Mobilität und Entschleunigung, Konsum und der Akzeptanz von Einschränkungen, Solidarität und dem Schutz der Schwachen oder nicht zuletzt beim Thema Gesundheit. Corona hat deutlich gezeigt, wie entscheidend Präventionsmaßnahmen zur Bekämpfung von Krisen sind. Das hat viel mit dem Konzept von Nachhaltigkeit zu tun, insofern man dieses als Übergang von der Nachsorge zur präventiven Problembehandlung sowie vom Einzelproblem-Management zur systemischen Sicht definieren kann. Nachhaltigkeit ist die konzeptionelle Antwort auf die Corona-Krise und muss selbst in der Krise strategisch weiterentwickelt werden. Lernerfahrungen im erfolgreichen Ausbau der Gesundheitssysteme zu hoher Elastizität und Resilienz können auch für andere Bereiche genutzt und international ausgetauscht werden. Krisen haben oft ein hohes Mobilisierungspotenzial für Veränderungen. Die Corona-Pandemie ist eine Zeit des radikalen Wandels. Alles dreht sich darum, vom Modus des Wandels by desaster zum Wandel by design, also zielorientierter Planung, zurückzufinden. Jedenfalls ist die Corona-Krise ein Härtetest für weniger idealistische Nachhaltigkeitskonzepte, die unter ökonomisch prekären Bedingungen voranzubringen sind. Dafür muss man lernen, Problemhierarchien in komplexen Systemen einzuschätzen und positive Rückkopplungsprozesse, die mit exponentiellen Kurven Probleme eskalieren lassen, zu vermeiden. Es kommt darauf an, systemrelevante Faktoren zu erkennen und rechtzeitig zu handeln, bevor die Kontrolle entgleitet. Wie gehen wir künftig mit multiplen Krisen um? Es gibt viele Lektionen für die Stärkung sozioökonomischer, politischer und kultureller Immunsysteme, die wir in der gegenwärtigen Pandemie lernen können.

Resilienz: an Krisen wachsen

Katastrophale soziale Bedingungen müssen nicht zwangsläufig zu einer desolaten Entwicklung führen. Es gibt immer wieder Menschen und Gesellschaften, die an Krisen wachsen. Schlüsselelemente sind dabei soziale und kulturelle Ressourcen der Kommunikation, Netzwerke von Solidarität, aber auch Fähigkeiten kreativer Verarbeitung widriger Erfahrungen (z.B. das Balkonsingen der Italiener). Das Konzept der Resilienz sucht nach Faktoren, die Systeme, Individuen oder Gesellschaften befähigen, radikale Umbrüche zu überstehen oder sogar an ihnen zu wachsen. Resilienzforschung beschäftigt sich mit psychischen, sozialen oder biologischen „Immunsystemen“: So wie sich ein Immunsystem erst entwickelt, wenn es mit Viren, Bakterien und Schmutz konfrontiert ist, brauchen auch soziale Systeme Störungen, um zu reifen und zu wachsen. Eine solche Reifung ist aber kein Selbstläufer, sondern entsteht aus Auseinandersetzung und gelingt nicht immer. Es gibt nicht wenige Menschen und Gesellschaften, die eine schwere Krise durchlebt haben und daraus verstärkt Empathie für die Nöte und Sorgen des Nächsten entwickelt haben. Die räumliche Metapher des social distancing wäre missverstanden, wenn man sie im Sinne einer sozialen Isolation und Abschottung interpretiert. Dies ist eine latente Gefahr im Umgang mit den Alten unserer Gesellschaft. Auch Kommunikation und Nähe gehören zu den existenznotwendigen „Lebensmitteln“. Solidarität ist eine der wichtigsten Ressourcen für eine resiliente Gesellschaft. Hierbei können kulturelle und religiöse Traditionen helfen, die grundlegenden Einstellungen und Sinnmuster zu bestimmen, derer es bedarf, um mit einer solidarischen Perspektive nach Lösungen zu suchen und in Krisen zu reifen.

Für die Christen*innen erweist sich in der Krise, ob ihr Glaube eine existentielle Kraftquelle ist, oder ob er schon genauso leer ist wie die Kirchen erstmals seit Jahrhunderten an Ostern. Es wird sich zeigen, ob sie in ihrem Glaubensvollzug schon ganz vom klerikalen Personal abhängig sind, oder ob sie vermögen in den Familien und Hausgemeinschaften auch geistig, geistlich und kreativ trotz aller Einschränkungen und Nöte etwas von der Freude des Osterfestes spürbar werden zu lassen. Ostern in der Coronakrise ist ein Test für die Zukunft der zunehmend priesterlosen Kirche. Vielleicht hat die Fastenzeit in den (post)christlichen Gesellschaften erstmals wieder eine existenzielle Dimension erhalten. Jedenfalls war es eine Zeit des Innehaltens und des Gewahrwerdens, dass die scheinbaren Sicherheiten unserer Welt ganz plötzlich wegbrechen können. Welche Wegweisung und Ermutigung jenseits theologisch dummer Deutungen als Strafe Gottes vermögen die Religionen in einer solchen Situation zu geben? Ist die Kirche als „Feldlazarett“ (Papst Franziskus) bei denen, die am meisten verlassen sind? Ostern ist das Fest, das in der denkbar größten Krise (Karfreitag), Spuren des neu aufbrechenden Lebens zu entdecken vermag. Dies bleibt aber unverfügbar. Christliche Hoffnung ist „durchkreuzte Hoffnung“: Zuversicht im Angesicht von Abgründen des Daseins, weil Gott auch dort ist. Eine der ältesten Definitionen des Glaubens bei Jesaja lautet: „sich festmachen an dem, was Bestand hat“. Das ist nicht weit entfernt von dem, was Resilienz bedeutet. Es zielt nicht auf Besitzstandswahrung, sondern setzt im Gegenteil immer neu Umkehr und Transformation voraus. Die Corona-Pandemie fordert dazu heraus, darüber nachzudenken, was sich ändern muss, damit wir bleiben und an der Krise wachsen.

Potenziale für einen sozialen Wandel

Der Umgang mit der Corona-Krise zeigt, wie in erstaunlich kurzer Zeit eine radikale Transformation der Gesellschaft möglich ist. Eine so drastische Reduktion von Konsum sowie von internationalem Waren- und Personenverkehr wurden lange für unmöglich gehalten. Die Krise ist ein Experimentierfeld für Coping-Strategien im Umgang mit einem Phasensprung im Alltags- und Wirtschaftsleben. Viele entdecken digitale Kulturtechniken für Konferenzen, Internet-Teaching und persönliche Kommunikation. Mitten in der Krise ist auch eine Kultur der Muße, der Erreichbarkeit, der „stabilitas loci“ und der familiären Nähe gewachsen. Die drastische Reduktion des CO2-Ausstoßes ermöglicht das Erreichen von Klimaschutzzielen. Die enorme Entschlusskraft für Konjunkturprogramme, damit Wirtschaft und Gesellschaft nicht in der Krise zerfallen, wecken Hoffnungen: Warum sollte dies nicht auch möglich sein für einen Umbau der Gesellschaft, damit diese künftig resilienter, klimaverträglicher und robuster wird? Es ist eine Willensfrage.

Die positiven und negativen Erfahrungen des Changemanagements sollten für die Transformationsforschung genutzt werden. Krisenbewältigung braucht einen großen Zusammenhalt der Gesellschaft, der sich teilweise sehr positiv und kreativ entwickelt hat, beispielsweise mit Nachbarschaftshilfe und einem enormen, weit über das Maß der Pflicht hinausgehenden Engagement der Pflegekräfte. Die Entdeckung, dass diese systemrelevant sind, sollte sich künftig in besserer Bezahlung der Care-Berufe ausdrücken. Die hohe Qualität des medizinischen Systems in Deutschland hat Vertrauen erzeugt. Die rasche und radikale Digitalisierung der Lehre an Schulen und Hochschulen war und ist eine beachtliche soziale Leistung. Die Virtualisierung von Konferenzen hat viel Reisezeit gespart. Die breite Zustimmung zum Krisenmanagement der Politik ist eine positive Erfahrung in schwierigen Zeiten. Die Bereitschaft der Bevölkerung, harte Einschnitte mitzutragen, war und ist sehr hoch. Die gute mediale Berichterstattung ist Ausdruck und Motor einer lebendigen Demokratie. International hat sich gezeigt: Die Verdrängungsversuche populistischer Politik wurden rasch entlarvt. In Corona-Zeiten haben Lügen kurze Beine.

Die Corona-Pandemie hat eine neue Nachdenklichkeit in Bezug auf Lebensstile erzeugt. Sie ist ein gesellschaftliches Experiment radikaler Entschleunigung. Darin liegt ein großes Potenzial für Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt. Die Digitalisierung ist rasant vorangekommen. Nun gilt es zu unterscheiden, welche Strukturveränderungen sinnvoll über die Krise hinaus beibehalten oder weiterentwickelt werden sollen. Wirtschaftliche Nachhaltigkeit jenseits gigantischer Verschuldung, muss neu gelernt werden. Dabei wissen wir, dass wir erst am Anfang der Krise sehen. Die Gesellschaft wird eine andere sein. Es gibt vieles, was wir lernen können und müssen, um die sozialen Immunsysteme gegen künftige Krisen nachhaltig zu stärken.

Erstveröffentlichung in der sozialethischen Online-Zeitschrift „Feinschwarz“.