Hamburg - 20.04.2023

Resilienz: Ein Containerbegriff mit strategischer Bedeutung

Prof. Dr. Herfried Münkler

Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2009, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse), sowie „Der große Krieg“ (2013), „Die neuen Deutschen“ (2016) und „Der Dreißigjährige Krieg“ (2017), die alle monatelang auf der Bestsellerliste standen. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship.

Containerbegriffe entstehen, wenn ein Wort mit einem Mal derart en vogue ist, dass alle irgendwie etwas damit anfangen können und es nutzen, um neue Herausforderungen, veränderte Problemlagen sowie Unbekanntes und Ungewisses damit zu bezeichnen. Das Wort dient dann als ein großer Behälter, in den die Vorbeikommenden ganz unterschiedliche Bedeutungen einwerfen, weil sie das Gefühl haben, Bedeutung und Bedeutetes könnten irgendwie zusammenpassen. Wenn eine um präzise Begrifflichkeit bemühte Wissenschaft sich nach einiger Zeit daranmacht, die diversen Bedeutungen auseinander zu sortieren, um wieder Ordnung zu schaffen, indem sie einige Bedeutungen streicht und andere mit präzisierenden Adjektiven versieht, heißt das keineswegs, dass damit Klarheit geschaffen würde. Im Gegenteil: nicht selten ist die Unordnung des Containerbegriffs für die Problemwahrnehmung hilfreicher als die starre Ordnung des Setzkastens, um die sich die Wissenschaft bemüht. Wo Bedeutungsdiffusion angezeigt ist, schafft Separation zumeist nur Unverständnis. So ist es auch bei dem Begriff der Resilienz.

Ursprünglich der Psychologie entstammend, steht der Begriff für ein Bedeutungsfeld zwischen Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit. Beides wurde schon bald von Einzelpersonen auf Gruppen oder ganze Gesellschaften übertragen, und dabei nahm der Begriff die Bedeutung an, deren Fähigkeit im Umgang mit ihrer Verwundbarkeit zu bezeichnen, was den Begriff dann auch für die Sicherheitsforschung interessant machte. Im Unterschied zu einer starren Verteidigung, Abwehr und Zurückweisung, Befestigung und Panzerung, steht der Begriff für einen flexiblen und geschmeidigen Umgang mit Vulnerabilität, der sich auf Verarbeiten und Lernen, Erneuern und Verheilen, Verändern und Anpassen oder Ähnliches bezieht. Der Bedeutungserweiterung sind hier keine Grenzen gesetzt. Im weiteren Sinn beschreibt Resilienz eine Disposition, eine Fähigkeit, eine Strategie, die Verwundbarkeit nicht unter allen Umständen zu schließen und zu versiegeln sucht. Sie hat eine starke Vorstellung davon, dass solche Befestigungen und Panzerungen oftmals größere Nachteile haben als das Zulassen bestimmter Verwundbarkeiten und dass Schutz vor auf sie gerichteten Attacken andersweitig hergestellt werden muss als durch die Stählung der bedrohten Stellen. Oder allgemeiner formuliert: Die Ausbildung von Resilienz ist der praktische Umgang mit der theoretischen Beobachtung, dass „mehr“ nicht unbedingt „besser“ ist, dass Optimierung anderen Regeln folgt als Maximierung.

Das klingt einfach, ist aber alles andere als selbstverständlich. In der Regel hat bewusstes Lernen nämlich die Tendenz, jene Stellen, die sich als Schwachpunkte herausgestellt haben, auf dieselbe Weise zu verstärken, wie sich das an anderen Stellen als Garant von Unverwundbarkeit bewährt hat. Das aber ist, wie man am Beispiel der Panzerung eines Ritters sehen kann, nicht immer hilfreich weil die zusätzliche Panzerung ihn schwerer und weniger beweglich macht, was die Dauer seiner Kampffähigkeit einschränkt und dazu führt, so dass er, ist er erst einmal vom Pferd gestoßen, tendenziell wehrlos ist. Ein neueres Beispiel ist die nach dem Ersten Weltkrieg gebaute französische Maginotlinie, die dazu dienen sollte, die Widerstands- und Abwehrleistung der französischen Truppe bei Verdun im Jahre 1916 auf einen ganzen Grenzabschnitt zu übertragen, und 1940 zur Folge hatte, dass ein Großteil der französischen Armee in der entscheidenden Phase des Feldzugs immobil war und in den Kampf nicht eingreifen konnte. So kann man etwa die kritische Infrastruktur sehr viel besser schützen, als das in Deutschland gegenwärtig der Fall ist, indem man sie tief in den Boden verlegt oder mit Stahlbeton ummantelt, aber man läuft dann Gefahr, dass die Kosten für deren Schutz dann derart in die Höhe schießen, dass die Mittel an anderer Stelle fehlen oder das Gemeinwesen zahlungsunfähig wird. Resilienz dagegen heißt, nach flexibleren Lösungen zu suchen, die daran orientiert sind, dass Schließung von Verwundbarkeit nicht zu neuen, zuletzt viel riskanteren Verwundbarkeiten werden zu lassen.

Als Strategie stellt Resilienz einen der Natur abgeschauten Umgang mit Verwundbarkeit dar, einen, der Verwundungen in Kauf nimmt, weil bezweifelt wird, dass die Konzentration auf Unverwundbarkeit, auf längere Sicht betrachtet, der Widerstandsfähigkeit und dem Überleben eines Habitats oder einer Gesellschaft dienlich ist. Bei der Zulassung von Verwundbarkeit kann es sich um eine Maßnahme der politischen Vertrauensbildung handeln, um die Voraussetzung dafür, dass man nicht in eine folgenreiche Aufrüstungsspirale eintritt, ebenso aber auch um eine strategische Reaktion auf veränderte Rahmenbedingungen, in deren Folge sich die zuvor klaren Trennlinien zwischen Krieg und Frieden auflösen und an die Stelle eines Hochfahrens der Verteidigungsbereitschaft angesichts drohenden Krieges eine durchgängige Abwehrfähigkeit auch dann gegeben sein muss, wenn man sich offiziell und dem allgemeinen Eindruck nach im Zustand des Friedens befindet. Ersteres, der US-amerikanische Verzicht auf die Herstellung von Unverwundbarkeit gegen ballistische Raketenangriffe, hat bei der Einstellung der zuvor von US-Präsident Reagan veranlassten Forschungen für ein Raketenabwehrsystem eine Rolle gespielt, dessen erfolgreicher Aufbau die politische Ordnung des Gleichgewichts zwischen Ost und West aufgelöst und im Gegenzug zu einer exponentiellen Vermehrung der Angriffswaffen auf Seiten der Sowjetunion geführt hätte. Ein tendenziell unverwundbares Nordamerika hätte die Welt nicht sicherer, sondern unsicherer gemacht. Das zielte freilich nicht unmittelbar auf die Entwicklung von Resilienz, sondern bloß auf das Offenhalten von Verwundbarkeiten – freilich unter der Annahme, man sei hinreichend resilient, um sich solche Verwundbarkeit leisten zu können.

Deutlich anders stellt sich das dar, wenn in Reaktion auf das, was inzwischen als „hybride Kriegführung“ bezeichnet wird, systematisch Fähigkeiten der Resilienz entwickelt werden. Bei ihnen geht es um eine flexible Durchhaltefähigkeit, die nicht unmittelbar an den Kriegsfall gebunden und auch nicht als Maßnahme zu dessen Verhinderung gedacht ist, sondern mit der, unabhängig von Krieg und Frieden, die Überlebensfähigkeit einer politischen Ordnung und einer entsprechenden Gemeinschaft gesichert werden soll. In früheren Zeiten, präziser: vor der Entwicklung des Terrorismus zu einer globalen Strategie und vor der schleichenden Ausbreitung des Cyberwar, in Zeiten also, in denen die Staaten noch Monopolisten des Krieges waren und sich gegenseitig bedrohten oder in Bündnissen miteinander befreundet waren, stellte man sich in Friedenszeiten auf denkbare Kriege ein, indem man die Art der Bedrohung analysierte ebenso wie die Fähigkeiten des potentiellen Angreifers, einen Krieg zu führen oder in erpresserischer Absicht damit zu drohen, um auf dieser Grundlage dann entsprechende Gegenmaßnahmen zu treffen. Je präziser man die jeweilige Bedrohung analysieren konnte, desto genauer konnte man darauf reagieren, um den Gegner von einem Waffengang abzuschrecken oder in einem solchen ihn an der Erreichung seiner Zwecke und Ziele zu hindern. Beide Seiten gaben sich wechselseitig das Maß ihrer Vorbereitungen und Anstrengungen vor. Es herrschten symmetrische Konstellationen beziehungsweise beide Seiten waren an der Aufrechterhaltung oder Herstellung von Symmetrien orientiert. Entscheidend war der Blick auf den angenommenen Gegner.

Seitdem Staaten nicht mehr einigermaßen zuverlässig wissen, von wem sie bedroht werden, und seitdem Angriffe, wie im Fall von Terror- oder Cyberattacken, überraschend erfolgen und nicht sogleich festgestellt werden kann, wer der Angreifer ist und welche Ziele er verfolgt, ist die Konzentration auf den angenommenen Gegner und die von ihm ausgehende Bedrohung keine verlässliche Sicherheitsstrategie mehr. Und weil das Ziel des Angriffs auch nicht länger die Sicherheitskräfte selbst sind, sondern diese umgangen oder übersprungen werden und der Angriff der labilen Kollektivpsyche postheroischer Gesellschaften gilt, lässt sich die Vorbereitung zu seiner Abwehr oder Eindämmung weder auf eben diese Spezialisten begrenzen noch als Ausnahmezustand terminieren, sondern die Gesellschaft als Ganzes muss darauf jederzeit vorbereitet sein, und es ist davon auszugehen, dass eine solche Attacke überall erfolgen kann. Unter diesen Umständen muss man den Blick auf den eigenen body politic richten und dessen Vulnerabilität analysieren, um möglichst durchhaltefähig zu sein. Dafür steht der Begriff der Resilienz, und deswegen ist es sinnvoll und angemessen, ihn nicht weiter zu spezifizieren. Der diffusen Bedrohung wird eine vielgestaltige und flexible Resilienz gegenübergestellt. Sie kann in Puffern und Reserven im Bereich der kritischen Infrastruktur bestehen, in schnell verfügbaren Fähigkeiten zur Reparatur, in einem umsichtigen Schutz von Steuerungs- und Kommunikationssystemen oder auch in der Unaufgeregtheit, mithin also Gelassenheit, mit der die Bevölkerung auf solche Angriffe reagiert. In diesem Sinn reicht Resilienz von Reserveequipment über eine möglichst breite Palette von Fähigkeiten bis zur mentalen Verfassung der Bevölkerung.

Das heißt freilich nicht, dass damit die herkömmliche Bedrohung durch Staaten und der Einsatz klassischer Waffensysteme verschwunden wären. Der Krieg in der Ukraine, der an den Fronten und bei den russischen Angriffen auf die ukrainische Infrastruktur mit kinetischer Energie geführt wird, ist jedoch von einer hybriden Kriegführung begleitet, die auch gegen die Ukraine, aber vor allem gegen die westlichen Unterstützer der Ukraine gerichtet ist. Sie ist Bestandteil einer Politik der Destruktion, die vor allem auf den Willen zum Gebrauch von Waffen und Fähigkeiten abzielt und nicht so sehr auf diese selbst. Dabei zeigt sich, dass die deutsche Gesellschaft an der erforderlichen Resilienz erheblich zu wünschen lässt: Sie ist nervös, lässt sich durch Drohungen, zumal solche mit dem Einsatz von Atomwaffen, einschüchtern und ist offen für Verschwörungsnarrative, mit denen der russische Angriffskrieg in einen Akt der Verteidigung umerzählt wird. Das zeigt, dass Politik wie Gesellschaft noch nicht begriffen haben, wie umfassend und vielgestaltig Resilienz als Strategie ist.