Dr. Regina Elsner ist Theologin und seit September 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS. Von 1998 bis 2005 studierte sie katholische Theologie in Berlin und Münster. Danach arbeitete sie bis 2010 als Projektkoordinatorin für die Caritas Russland in St. Petersburg. Von 2010 bis 2013 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ökumenischen Institut der Universität Münster im „Kompetenznetz Institutionen und institutioneller Wandel im Postsozialismus“ tätig. In diesem Rahmen befasste sie sich mit den historischen und theologischen Aspekten der Auseinandersetzung der Russischen Orthodoxen Kirche mit der Moderne und schloss 2016 ihre Promotion zu diesem Thema ab. Am ZOiS untersucht Regina Elsner die sozialethische Haltung der Orthodoxen Kirchen in Osteuropa seit dem Ende der Sowjetunion mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Friedens- und Konfliktethik sowie der Gender-Thematik. Regina Elsner ist Co-Sprecherin der Fachgruppe Religion der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und Mitglied des PRO ORIENTE Steering Committee for the Orthodox-Catholic Dialogue.
Die katholische und evangelische Friedensethik schien mit der Entwicklung des Paradigmas vom Gerechten Frieden als „ökumenischer Grundkonsens“[1] in den vergangenen Jahrzehnten einen Punkt weitgehender Übereinstimmung angesichts der wachsenden Unwahrscheinlichkeit militärischer Konflikte in Europa erreicht zu haben. Fraglos hat auch die christliche Friedensethik in den Jahrzehnten während und nach dem Kalten Krieg zu einer Befriedung Europas beigetragen, unter anderem durch ihren Fokus auf der Menschenwürde und der humanitären Dimension kriegerischer Auseinandersetzungen. Dies sind Aspekte, die auch jetzt, im Entsetzen über den russischen Krieg in der Ukraine und die neue Gefahr atomarer Eskalation den Diskurs orientieren und eine neue Militarisierungswelle kritisch anfragen. Es ist wichtig, dass die überaus komplexen ethischen Fragen von Waffenlieferungen und Aufrüstung in Theologie und Kirche ausführlich diskutiert werden, statt ihnen mit einem für die Opfer des aktuellen Krieges blinden Pazifismus auszuweichen.
Dieser offene und kontroverse Diskurs ist vor dem Hintergrund der deutschen Debatte über den deutschen Umgang mit dem Krieg wichtig. Es ist jedoch auch zu fragen, inwiefern dieser Diskurs hilft, den Krieg selbst, seine Akteure und seine Ideologie adäquat einzuschätzen. Denn nicht zuletzt die Brutalität und Gnadenlosigkeit der russischen Kriegsführung und vor allem die offene Unterstützung dafür durch die Kirchenleitung der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) stellen unsere christlichen Friedensethiken und ihre ökumenische Dimension massiv in Frage. Ein schnelles Wegwischen dieser Infragestellung mit dem Hinweis auf eine unmoderne oder zu politisierte russische Orthodoxie ist vor allem nicht möglich vor dem Hintergrund, dass kein anderes Thema in ökumenischen Dialogen mit der ROK so intensiv diskutiert worden ist, wie die Friedensethik.
Dies ist nun allerdings rund 30 Jahre her und eine theologische Aufarbeitung dieser Dialoge und ihrer theologischen und politischen Implikationen steht nach wie vor aus.[2] Und dennoch sind die westlichen Kirchen in ihren ökumenischen Beziehungen zu der ROK immer davon ausgegangen, dass dieser Dialog auf einem gemeinsamen Verständnis von Frieden, Krieg, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit aufbaut. Auch die Bemühungen des Papstes in diesem Krieg sprechen diese Sprache einer gemeinsamen Sicht auf den Wert des Friedens. Die Position der russischen Kirchenleitung strafen diese Überzeugung allerdings Lügen, da sie mit den gleichen Worten über die gemeinsame Ausrichtung am Frieden das grausame Morden und die Zerstörung nicht verurteilen, sondern rechtfertigen. Was können dann die Gemeinsamkeiten sein? Ist diese Herangehensweise, die sich an einem gemeinsamen Verständnis orientiert, gerechtfertigt? Wofür nutzen die gemeinsamen Kommuniques der ökumenischen Dialoge, wenn sie im Ernstfall nicht tragen?
Ich verbinde damit auch eine grundsätzliche Anfrage an die Formate und Zielsetzungen der ökumenischen Dialoge, die sich spätestens nach der aktuellen Kriegsunterstützung durch eine Kirche, die seit Jahrzehnten die ökumenischen Gespräche auf verschiedenen Ebenen geprägt und auch dominiert hat, ihrer ganz eigenen Zeitenwende stellen müssen. Allerdings möchte ich an dieser Stelle vor allem auf die umfassenden und im Westen kaum wahrgenommenen Dynamiken der russischen Friedens- und Kriegstheologie der vergangenen Jahre hinweisen, die zu einem besseren Verständnis des aktuellen Krieges beitragen können – und im ökumenischen friedensethischen Diskurs weithin nicht vorkommen.
Die theologische Auseinandersetzung der ROK mit friedensethischen Themen hat sich zur Zeit des Kalten Krieges auf Fragen der Gerechtigkeit als Bedingung eines dauerhaften Friedens und das Thema der Abrüstung als zentralen Themen der Zeit konzentriert. In den Dialogdokumenten – Vorträgen und Kommuniques sowie Berichten in den kirchlichen Zeitschriften – werden diese Themen dezidiert als sozialethische Fragen besprochen und lieferten damit eine Grundlage, um den teilweise bis heute sehr am Individuum orientierten Zugang zu sozialen Fragen in der Orthodoxie in einer sozialethischen Dimension zu weiten. Allerdings lässt sich in beiden Fragen – Gerechtigkeit und Abrüstung - eine Dynamik in der Argumentation von einer sozialen Ebene während des Kalten Krieges zu einer geistigen, moraltheologischen Ebene nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beobachten, die das Individuum, seine Rechtschaffenheit und sein Streben nach der Vergöttlichung (Theosis) in den Mittelpunkt der Diskussion über ein gutes gesellschaftliches Leben stellt.
Diese Dynamik wird von Martin Illert für alle sozialethischen Themen der ökumenischen Gespräche zwischen EKD und ROK konstatiert.[3] Sie lässt sich zumindest teilweise begründen durch die enorme Herausforderung, die religiöse Wiedergeburt in den postsowjetischen Ländern pastoral und katechetisch zu meistern. Andererseits genoss die russische Theologie zum ersten Mal die Freiheit, ihre Themen nicht durch den ökumenischen Dialog als einzigen Freiraum theologischen Denkens bestimmen zu lassen, sondern die eigenen Quellen und Prioritäten zu verarbeiten. Dies hieß aber auch, dass Sozialethik als theologische Kategorie aus der theologischen Agenda der Kirche nahezu verschwand.
An ihre Stelle trat eine teilweise pastoral flexible, teilweise moralisch strenge Auslegung asketischer Ideale, die als Besonderheit und Kern russischer Orthodoxie wiederentdeckt wurden. Diese moraltheologischen und asketischen Ideale wurden in den folgenden Jahren zunehmend auf gesellschaftliche Fragen übertragen, auch, weil die russische Gesellschaft dringend Antworten auf die Herausforderungen einer modernen, globalen Welt forderte. Für das Thema der Gerechtigkeit bedeutete dies etwa, dass Patriarch Kirill 2017 die Suche nach sozialer Gerechtigkeit - unter Verweis auf die russische Revolution von 1917 - als Auslöser für Konflikte und sogar Kriege bezeichnete, weil diese Suche anthropozentrisch sei.[4] Im Jahr 2018 erklärte Patriarch Kirill, dass "die einzig mögliche universelle Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Kulturen und Nationen der moralische Konsens ist."[5]
Für das Thema der Abrüstung bzw. Waffenkontrolle bedeute diese Verschiebung zwischen individualethischen und sozialethischen Dimensionen eine "Theologie des Krieges"[6], in der die spirituelle theologische Argumentation des inneren Kampfes gegen das Böse auf ein äußeres, gesellschaftliches Verständnis der Bekämpfung des personifizierten-moralischen Bösen übertragen wird. Damit wird auch der Diskurs über strategische Allianzen und eine gemeinsame Front in einem Kampf der Zivilisationen und Wertesysteme forciert und schließlich militärisch aufgeladen. Wenn der Krieg nicht nur als Verteidigung des Vaterlandes, sondern auch als Kampf gegen das Böse und als Verteidigung des Nächsten gerechtfertigt wird, dann können die Gründe für einen „gerechten Krieg“ und den Einsatz von Waffen sehr weit ausgedehnt werden.
Bei einer Konferenz 2018 zum ökumenischen Friedensbegriff angesichts des Krieges in der Ukraine in der Akademie Loccum waren drei Vertreter der Kirchen des Moskauer Patriarchats anwesend. Auf die Frage, ob das Konzept des gerechten Friedens von der orthodoxen Tradition übernommen wurde oder ihr entspricht, sprachen alle drei nicht über Frieden, sondern über den Krieg. Sergej Čapnin, der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift des Moskauer Patriarchats, betonte, dass im Selbstbewusstsein der russischen Kirche wie auch der russischen Gesellschaft insgesamt nichts die russische Identität so sehr prägt und legitimiert, wie der Sieg im Zweiten Weltkrieg. In diesem Sinne konstruierte die Kirche gemeinsam mit dem Staat den Kult des Sieges über den Faschismus zu einem alles beherrschenden Narrativ russischer Identität, während die Frage nach den Opfern als „nutzbare Geschichte“ integriert und Fragen nach Schuld und Versöhnung ausgeklammert wurden. Symbolisch steht dafür etwa die im Jahr 2020 eingeweihte Kathedrale der Streitkräfte bei Moskau, die durch Militäroptik und Ikonen-artige Darstellung der Siege über den Faschismus oder die Annexion der Krim das sieghafte Russland mit dem siegenden Christus gleichstellen. Für eine Gesellschaft und eine Kirche, die sich durch den Krieg gerechtfertigt sieht, ist das Konzept des gerechten Krieges sehr viel näher als der gerechte Frieden oder gar der Pazifismus - obwohl beide in der orthodoxen theologischen Tradition gefunden werden können.
Die vorherrschende Auslegung der orthodoxen Tradition hat sich in den letzten 30 Jahren von einer Befürwortung des Pazifismus und der Abrüstung im Kalten Krieg zu einer Befürwortung der Rechtfertigung von Waffen und in einigen Fällen sogar des Krieges verschoben. Gleichzeitig entwickelte sich das Verständnis von Gerechtigkeit als Voraussetzung für den Frieden in einer sozialen Dimension hin zu einer Dimension der individuellen Rechtschaffenheit. Die Dynamik dieser Verschiebungen zeigt auch Parallelen zum Auf- und Abschwung des kirchlichen Engagements in den ökumenischen Dialogen. Seit den späten 1990er Jahren distanzierte sich die russische Kirchenleitung zunehmend von ihrem ökumenischen Engagement und vor allem von dem theologisch fundierten Diskurs über gesellschaftliche Transformation. Durch die Betonung des historischen Erbes und der spirituellen Traditionen in dieser Zeit und den gleichzeitigen Rückzug aus den ökumenischen theologischen Diskursen ging die Kirche ein offenes Bekenntnis zum Patriotismus ein, das mehr auf der historischen als auf der theologischen Tradition beruhte. Dieses Bekenntnis beinhaltete eine konsequente Unterstützung aller militärischen Aktivitäten des russischen Staates, ob offen oder nur symbolisch.
Nach dem Ende des Kalten Krieges war der Krieg gegen die Ukraine und auch die Beteiligung Russlands am Krieg in Syrien die ersten Anlässe für die Russische Orthodoxe Kirche, erneut zu Fragen des Friedens und des Krieges Stellung zu beziehen. Die Grundlagen dafür, u.a. mit einer Integration des Konzepts des gerechten Krieges und einer Rechtfertigung von Krieg und Waffen im Kampf gegen das Böse und zum Schutz des Vaterlands finden sich allerdings bereits in den „Grundlagen der Sozialkonzeption der ROK“ aus dem Jahr 2000. Moralische Maßstäbe wurden zum entscheidenden Faktor für die Rechtfertigung von Konflikten und Kriegen, während Fragen der strukturellen sozialen Gerechtigkeit, der Wahrheit oder der Abrüstung in Bezug auf die theologische Argumentation keine Rolle spielten. Bei der Analyse der Aussagen der Russischen Orthodoxen Kirche in dem Diskurs über Krieg und Frieden findet sich sowohl eine dezidierte Theologie des Krieges als auch ein Verstummen der kirchlichen Verantwortung für die Friedensethik im öffentlichen Diskurs und in den offiziellen Institutionen der Kirche. Der Frieden wird in die Verantwortung des Einzelnen und Gottes gestellt, während der Krieg im Sinne der Verteidigung des Guten als Verantwortung des Staates und der Armee angesehen wird.
Schließlich weist diese Situation auf ein Grundproblem der aktuellen russischen orthodoxen Theologie hin: Zwischen dem Individuum und seiner oder ihrer spirituellen Verantwortung einerseits und dem Staat als Verteidiger des Gerechten und Guten andererseits fehlt die soziale Dimension: die Gesellschaft als ein Raum für die Aushandlung und Einübung von Frieden, Gerechtigkeit und Wahrheit. Der wertvollste Nutzen der Ökumene und der Friedensbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand darin, dass die ROK ihr theologisches Potenzial entdeckte, sich in sozialen Fragen eher an die Gesellschaft als an den Staat oder das Individuum zu wenden. Die ROK hat dieses Potenzial nicht genutzt, seit sie ihre Tradition des symphonischen Lebens mit einem autoritären Staat wiederentdeckt hat. Die ökumenischen Partner haben die ROK aus Respekt und Rücksicht für die postsowjetischen Herausforderungen aus der gemeinsamen Verantwortung für den Frieden in Europa entlassen. Es wird angesichts des Krieges in der Ukraine und der Unterstützung von Mord und Zerstörung in ihrem Namen schwer werden, gemeinsam an diesen Tisch ökumenischer Dialoge zurückzukehren.
[1] Johannes Frühbauer: ‚Gerechter Friede‘ – Mehr als ein kirchliches Leitbild? In: Amos international 14:3, 25-33.
[2] Nur eine akademische Monografie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gezielt damit beschäftigt, die Dissertationen von Heiko Overmeyer in Münster (Frieden im Spannungsfeld zwischen Theologie und Politik. Die Friedensthematik in den bilateralen theologischen Gesprächen von Arnoldshain und Sagorsk. Frankfurt/Main: Lembeck, 2005). Heta Hurskainen (Ecumenical Social Ethics as the World Changed. Socio-Ethical Discussion in the Ecumenical Dialogue between the Russian Orthodox Church and the Evangelical Lutheran Church of Finland 1970–2008, Turku: Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft, 2013) und Martin Illert (Dialog – Narration – Transformation. Die Dialoge der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Bundes der Evangelischen in Kirchen in der DDR mit orthodoxen Kirchen seit 1959, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 106, Leipzig 2016.) streifen das Thema in ihren Arbeiten zu den Dialogen insgesamt.
[3] Martin Illert: Dialog – Narration – Transformation. Die Dialoge der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Bundes der Evangelischen in Kirchen in der DDR mit orthodoxen Kirchen seit 1959, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 106, Leipzig 2016.
[4] Patriarch Kirill: Slovo posle liturgii. 19.2.2017, www.patriarchia.ru/db/text/4808057.html.
[5] Patriarch Kirill, “Doklad na otkrytii XXVI Meždunarodnych Roždestvennskich obrazovatel’nch čtenii”, January 24, 2018, accessed January 17, 2019, www.patriarchia.ru/db/text/5136032.html.
[6] Boris Knorre, “Bogoslovie vojny v postsoietskom rossijskom pravoslavii, Stranicy 19:4 (2015), 559-578.