Hamburg - 02.03.2022

Literatur als Krisenseismograf, das „Cassandra-Projekt“ und der Krieg in der Ukraine

Prof. Dr. Jürgen Wertheimer

Jürgen Wertheimer, Professor für Internationale Literatur und Autor in Tübingen. Von 2017 bis 2020 leitete er das von ihm initiierte Forschungsprojekt „Cassandra: Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung“ im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung.

Bei dem Dramatiker Georg Büchner heißt es einmal: „… wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren—“.

Das ist drastisch ausgedrückt, aber es kommt der Realität sehr nahe, denn auch wir wissen so gut wie nichts voneinander. Vielleicht kann uns die künstliche Intelligenz, ja in ein paar Jahren tatsächlich die „Gedanken aus den Hirnfasern zerren“ … gegenwärtig müssen wir uns mit dem Zustand wenig und schon gar nicht das Entscheidende voneinander zu wissen abfinden. Die derzeitige politische Situation in Europa, die aufreibende Hängepartie um die Ukraine, zeigt dies schmerzlich auf. Wechselseitige Vermutungen, Zuschreibungen, Annahmen bestimmen unser Denken unsere Reaktionen und trotz Big Data, globaler Überwachungssysteme und anderer High Tech Tools stochern wir im Nebel. Sollten wir etwas vergessen haben? Ist unser Werkzeugkasten nicht komplett?

Ich meine in der Tat ein Teil fehlt: Das der Literatur. Tatsache ist, dass das Medium der Literatur schlicht nicht vorkommt, wenn es um Prognostik, Prävison, proaktives Handeln geht. Gelegentlich hört man, sei zu langsam, zu kompliziert, textlastig, weltfern. Das Gegenteil ist der Fall. Literatur ist extrem realitätsnah, ja realitätssüchtig. Wenn sie das nicht wäre, würde sie nicht seit Jahrhunderten von Zensoren und Inquisitoren verfolgt werden?

Sie ist nicht textlastig, sondern sprachgenau. Sie ist das größte Archiv verschriflichter menschlicher Erfahrungen, gesprochener Worte und verborgener Gedanken. Sie ist Fußabdruck unseres kulturellen Genoms.

Sie schreibt nicht Geschichte, sondern erzählt Geschichten. Interessiert sich nicht für große Namen, sondern einzelne Schicksale, spricht nicht im Namen der „Menschenrechte“, sondern menschlicher Wesen und sie interessiert sich weniger für theoretische Visionen als für alltägliche Emotionen. Ihr größter Vorteil aber ist darin zu sehen, dass sie Zusammenhänge vermittelt, Perspektiven aufweist, Hintergründe ausleuchtet. Wir alle sind ja in Gefahr von Faktenlawinen überflutet zu werden und die Orientierung zu verlieren.

Aus all diesen Gründen haben wir vor fünf Jahren das „Cassandra Projekt“ gestartet: unter dem Titel „Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung“. Denn je mehr man über sich und den anderen in Erfahrung bringt, auch über seine verborgenen Motive und Abgründe, desto besser ist man vorbereitet, desto weniger vulnerabel wird man. Herta Müller hat das vor mehreren Jahren sehr schön ausgedrückt: „man kann dann nicht mehr überrascht werden, man hat das alles schon einmal lesend (oder schreibend) durchgespielt.“

Unser Ansatz konzentriert sich deshalb auf das Vorfeld, die Phase, in der sich Konflikte langsam aufbauen, vorbereiten. Die Phase, in der es noch nicht brennt. Wir neigen leider häufig dazu, uns in dieser Zeit blind zu stellen und reagieren notorisch erst dann, wenn es fast zu spät ist.

Beispiel Ukraine; jetzt sind alle alarmiert und einmal mehr überrascht, so als ob man die acht Jahre zwischen den Aufständen auf dem Maidan und jetzt nicht produktiv hätte nutzen können, ja MÜSSEN! Autoren wie Serhij Zhadan Chronist der Ereignisse in Donbass hat immer wieder skizziert wie aufschlussreich es sein kann „zu sehen, wie Geschichte entsteht.“

Seit Sommer 2014 notiert er, was ihm auf seinen Reisen ins ostukrainische Kriegsgebiet widerfährt. Momentaufnahmen, die das Essentielle jäh aufscheinen lassen, Kurzgeschichten über Menschen, die plötzlich auf zwei verfeindeten Seiten stehen oder nicht mehr wissen, wo sie hingehören und was aus ihnen werden soll.

Sein Kollege Jurij Andruchowytsch macht in seinen Büchern seiner Enttäuschung über „Europa“ immer wieder Luft. Im Februar 2014 wurde er von Anrufen aus dem Westen überschüttet. Aber alle interessierten sich nur für die „Nazis“, „ultrarechten Faschisten“, - nicht für die komplexe Wirklichkeit auf dem Platz und hinter den Kulissen. 

Was Belarus betrifft, so denke ich an Svetlana Alexijewitsch ,die isoliert in ihrer Berliner Exilwohnung sitzt und auf eine höchst unwahrscheinliche Rückkehr in ihre Heimat hofft. Eine unermüdliche Stimmensammlerin des Krieges. Sie beschreibt in ihren Büchern immer wieder das Banale, das Grauen, das Faszinosum und das gefährliche Pathos des Kriegs. Irgendetwas hindert uns immer wieder daran das Offensichtlichste zu erkennen, erkennen zu wollen. Wir laufen einfach genauso blind weiter, wie SvetlanaAlexijewitsch es beschreibt:

„Im Donbass wurde ich verwundet. Ein Splitter drang ein und saß fest wie ein Stein. Ich blutete - blutete ...und lief weiter, Verwundete zu verbinden. Ich lief weiter bis ich durch den Blutverlust ohnmächtig wurde. Meine Stiefel waren voller Blut…“.