Hamburg - 29.08.2022

Krieg, Frieden und das Böse dazwischen

Prof. Dr. Hans-Joachim Sander

Prof. Dr. Hans-Joachim Sander, geb. 1959, verheiratet, Universitätsprofessor für Dogmatik an der Universität Salzburg. Studium von Mathematik, Theologie, Philosophie und Geschichte in Bonn, Trier, Jerusalem und Würzburg; Dipl.-Theol. 1985, Dr. theol. 1991 and Dr. theol. habil. 1998. Visiting Scholar am Center for Process Studies in Los Angeles 1987-1988. Assistent und Privatdozent an der Universität Würzburg von 1990-2001. Seit 2002 Univ.-Prof. in Salzburg; Dekan der Fakultät 2006-2007 und 2011-2013. Dissertation über Whiteheads Prozessphilosophie, Habilitation über die Semiotik der Zeichen der Zeit in Gaudium et spes. Arbeitsschwerpunkte: die räumliche Gravitation in der Rede von Gott, Konzil und Transformation der Kirche, Relation von Macht und Ohnmacht in religiösen Identitäten, die Zeichen der Zeit als thirdspace und Heterotopien, Glaubensräume und ihre Topologien.

Der Ukraine-Krieg hat das öffentliche Leben im Griff und greift immer stärker auf die existentielle Ebene. Am meisten und stärksten sind die Menschen in der Ukraine betroffen, deren Menschenrechte vom Aggressor Russland missachtet und auch mit Füßen getreten werden. Sie müssen kämpfen, fliehen, mit großer Unsicherheit zurechtkommen und können überhaupt nicht abschätzen, wann und ob überhaupt sich wieder eine Normalität einstellen wird. Er trifft auch viele Menschen in Russland, die als Soldaten sterben, als Angehörige Tote zu beklagen haben, als Bürger:innen massivster Propaganda ausgesetzt sind und als Oppositionelle um Leib und Leben fürchten müssen. Er trifft mittlerweile in vielen anderen Ländern auch völlig unbeteiligte Menschen, deren Versorgung mit Nahrungsmitteln zu schwanken beginnt. Und mittlerweile geht es nun auch um wirtschaftliche Folgen und um die Sorgen breiter Bevölkerungsteile hierzulande durch massiv steigende Energiepreise und hohe Inflationsrate.

Mit dem Krieg geht es nicht nur um militärische Unterstützung für das angegriffenen Volk in der Ukraine. Es rücken Realitäten und Unterscheidungen den Menschen auf den Leib, die durch Krieg zugespitzt und massiv verschärft werden: Gewalt und Hass, Bosheit und Feindschaft auf der einen Seite, Widerstand und Solidarität, Güte und Freundschaft auf der anderen Seite. Werden sie kombiniert, entstehen sehr prekäre binäre Codierungen: Gewalt oder Widerstand, Solidarität oder Hass, Bosheit oder Gutheit, Freundschaft oder Feindschaft. Diese Codes sind sowohl politisch hochgradig virulent wie religiös überaus einschlägig. Und sie hebeln lange gehegte Illusionen eines friedlichen Zusammenlebens in Europa aus.

Die Erfolgsgeschichte des sich vernetzenden und sogar einenden Europas bestand darin, dass aus Feinden schließlich Freunde wurden. Bis zum 24. Februar 2022 haben wir gedacht, das sei die vorrangige Richtung von Geschichte, Politik, Kultur, Wirtschaft und sogar Religionen. Wir gingen davon aus, dass sich diese Grammatik auf lange Sicht gesehen überhaupt ausdehnen würde in der globalisierten Zivilisation. Aber das war blauäugig. Seit langem ist bekannt, dass im Entweder-Oder von Freund und Feind die Musik der Macht spielt. Jetzt lernen wir ziemlich hautnah und bedrängt, dass das auch für die Richtung gilt, wenn aus Freunden und Nachbarn Gegner und Feinde werden. Aus der deutschen Geschichte heraus hätten wir es eigentlich wissen müssen, wie durchschlagend es für einen Willen zur Macht sein kann, Minderheiten und vulnerable Gruppen einfach zu Feinden zu stempeln. Wie viel Hass, Gewalt und schließlich sogar Massenvernichtung sind damit zu wecken. Leider sind das keine bloßen Beschreibungen, sondern hochgradig gefährliche Aktivitäten, die nicht einfach in der Vergangenheitsform bleiben, weil ihre Gefährlichkeit offenkundig und bekannt ist. Sie können jederzeit eine Gegenwart kontaminieren.

Jetzt kommt offenbar noch eine weitere Variante auf das Feld der Macht. Überlegene oder auch nur scheinbar überlegene Mächte können andere so massiv unter Druck setzen, mit Unverschämtheiten, Nachteilen, Ressentiments belegen, dass die kaum mehr eine andere Möglichkeit sehen, als gute Nachbarschaft und Freundschaft aufzukündigen und sich zu wehren. Man zwingt ihnen Feindschaft auf, um sie dann umso besser attackieren und unterjochen zu können. Das war das Kalkül in Moskau – die Ukraine als Vorposten eines dekadenten Westens zu deklarieren, der sich des Faschismus bedient, um seine Unterlegenheit zu verstecken. Die Oligarchen in Wirtschaft und Politik, aber auch im Medienbusiness und auch in der Religion waren stets bei der Hand, um das willfährig zu stützen und zu verbreiten. Nicht damit gerechnet hat diese Politik der Feindschaft, wie effektiv Widerstand sein kann, der sich nicht von Kriegspropaganda einschüchtern lässt, wie schnell sich Bündnisse und sogar Freundschaftslinien dagegen organisieren lassen, die unter Normalbedingungen lange Jahrzehnte für den gleichen Vorgang benötigt hätten. Daher wird in der Ukraine um die Ukraine, aber auch um ein Bollwerk gegen die schamlose Politik der Feindschaft gekämpft. In diesem Sinn schrieb Anne Applebaum im März 2022 im The Atlantic: „Ukraine must win“ (https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2022/03/how-democracy-can-win-ukraine/627125/).

Die konservative Journalistin ist als gelernte Historikerin auf Osteuropa spezialisiert und warnte schon nach der Annexion der Krim, dass der Putinismus damit nicht stoppen würde. Damals blieb das vereinte Europa noch bei seiner bevorzugten Grammatik, keine Feindschaft zu akzeptieren, sondern auf wirtschaftlich effektiv geschmierte Freundschaft zu setzen. Applebaum lebt in den USA und in Polen und ist mit dem ehemaligen polnischen Außenminister Radosław Sikorski verheiratet. Dieser hatte 2014 zu „Politico“ gesagt, Putin hätte Donald Tusk 2008 vorgeschlagen, die Ukraine zwischen Russland und Polen aufzuteilen. Lviv, so Putin, sei nun einmal eine polnische Stadt und die Ukraine sowieso ein künstliches Staatsgebilde. Die Empörung in der EU über die Enthüllung zwang Sikorski einzuräumen, es sei wohl ein schlechter Scherz gewesen.

Aber oft genug äußerte der russische Gewaltherrscher auch anderswo sein Kalkül, es sei global notwendig, Russland gegen die Dekadenz einer pluralistischen amoralischen westlichen Welt wieder groß zu machen. Das Supermachtmonopol einer wortbrüchigen USA sei selbstherrlich und wolle alle Völker geistig und kulturell, politisch und wirtschaftlich unterjochen. Putin nutzt dafür nicht zuletzt 2007 eine der Münchner Sicherheitskonferenzen. Eigentlich müssten wir also über Russlands Angriff auf die Ukraine als westlichen Vorposten nicht die Hände über den Kopf zusammenschlagen. Doch jetzt stehen wir wie angewurzelt vor einem Krieg, der jeden Tag ein weiteres Stück liebgewordenen Frieden aufzehrt. Und wir reiben uns die Augen, wie leicht Spannungsgebiete nicht nur gegenüber Russland, sondern auch im Verhältnis zu China in potentielle Aufmarschräume einer komplexen Politik der Feindschaft werden können.

Es scheint, als schwände sogar von heute auf morgen die Überzeugungskraft von lang gehegten Wahrheiten des christlichen Glaubens: Gerechte Kriege gibt es eigentlich nicht, wohl aber den Gerechten Frieden, an dem ständig global gearbeitet werden muss. Feindesliebe verläuft auf der gleichen bekannten Linie, aus Feinden Freunde zu machen. Daher, so die oft bemühte Annahme, verlangt die jesuanische Feindesliebe die Ablehnung jeglichen Krieges und, sollte es doch dazu kommen, dann müssen beide Parteien gleichermaßen im Namen Gottes und der Menschheit vom Krieg abgehalten werden. Das bestimmt auch nach einem halben Jahr massiver russischer Aggression die Politik des Heiligen Stuhles, immer beide zu beschuldigen und stets von beiden zugleich Umkehr anzumahnen. Und Papst Franziskus scheint an die Freundschaftsverbrüderung mit dem Moskauer Patriarchen immer noch zu glauben, gleich wie oligarchisch, arrogant, intransigent der sich auch verhält. Schließlich, so die basale Idee, gehören wir doch alle zu einer einzigen großen Menschheitsfamilie, deren Geschwisterlichkeit prinzipiell allen Konflikten überzuordnen sei. Das sagten nicht nur die letzten Päpste unisono, das war auch die großökumenische Überzeugung über alle religiösen Unsäglichkeiten antimodernistischer Denominationen hinweg.

Entsprechend war die christliche Friedensethik in postheroischen Zeiten unmissverständlich platziert: Auch einem unterlegenen angegriffenen Opfer, das ein international verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung hat, dürfen keine zusätzlichen Waffen in die Hand gegeben werden, die das menschliche Leid auf beiden Seiten nur verlängern und verschärfen. Im Namen der Humanität muss auch eine angegriffene unterlegene Gesellschaft sich auf gewaltlosen Widerstand und Dialog verlegen, die das angreifende Volk irgendwann umstimmen werden. Offen blieb dabei, ob das unbedacht oder kaltschnäuzig kalkuliert auch bedeutet, politische Unterwerfung und kulturelle Unterjochung hinnehmen zu müssen. Erst Vergebung der Opfer und Versöhnung mit den Tätern können dauerhaft einen Frieden sichern, der aus Feindschaft Freundschaft machen kann.

Und jetzt das: „Ukraine must win“, weil die Alternative einer Politik der Feindschaft ebenso grausam wie furchtbar ist. So argumentierte Applebaum schon im März 2022: “In Mariupol, authorities report that citizens are being forcibly deported to Russia, just as Soviet secret police deported Balts, Poles, and others to Russia after the invasions of 1939 and 1945. In the case of a Russian victory, these tactics would be applied all over Ukraine, creating mass terror, mass violence, and instability for years to come. And, yes, if we accept that outcome, autocrats from Minsk to Caracas to Beijing will take note: Genocide is now allowed.”

Was nun? Stecken wir ungemütlich zwischen Pazifismus und Bellizismus fest wie zwischen Baum und Borke? Und was immer wir machen, ist immer die falsche Wahl? Ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Aber dafür müssen wir die Frage nach Krieg und Frieden komplexer fassen als in der binären Codierung von Freund und Feind. Nicht länger tauglich sind gut gemeinte Appelle von der einen großen Menschheitsfamilie. Seit Kain und Abel weiß der biblische Glaube, wie es um den friedfertigen Nimbus von Geschwisterlichkeit wirklich steht. „Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick?“ (Gen 4,6) fragt schon Gott ernüchtert Kain. Gegenüber familialer Sprache wäre auch beim päpstlichen Lehramt mehr postkoloniale Zurückhaltung geboten, wird doch der eigene Gott dabei allen anderen als Übervater aufgenötigt.

Ebenfalls zu kurz greift die schiere Aufteilung Krieg oder Frieden. Bei diesem binären Code wählt ein normaler Mensch natürlich den Frieden. Was auch sonst? Aber damit ist man noch keinen Schritt weiter, weil die Feindschaft der Unterlegenen durch andauernde Bedrückung immer noch zu erreichen ist. Die so einfach auftretende Wahl zwischen Krieg und Frieden bleibt so lange belanglos, wie die Angreifer in ihrer Brutalität unbeeindruckt bleiben und die Anormalität des Krieges wählen, die ihnen die Machtvorteile der Feindschaft geben.

Zudem enthält die Aufforderung an alle, endlich Frieden zu halten, eine vielleicht zwar ungewollte, aber doch indirekte Beschuldigung jener, die sich gegen den ihnen aufgezwungenen Krieg mit Waffengewalt verteidigen. Mit Beschuldigungstheologien an die falsche Seite ist aber die Politik der Feindschaft nicht aufzubrechen. Das Problem wird man sogar dann nicht los, wenn doch noch ein Recht auf Selbstverteidigung eingeräumt wird; auch Abwehrkrieg tötet Unschuldige. Möglicherweise hat wegen des unterkomplexen Entweder-Oder bisher kein Pazifismus historisch so richtig funktioniert. Die binäre Codierung legt sich die Lage der Dinge zu einfach zurecht und kann keine Friedensordnung der Dinge entwickeln, die nicht in einem derart brutalen Angriffskrieg wie jetzt zynisch wird. In jedem Entweder-Oder triumphiert immer die Macht von jenen, die auf der scheinbar richtigen und überlegenen Seite stehen, während es der anderen kaum möglich ist, das umzukehren.

Ebenfalls erweist sich die lang gehegte politische Hoffnung als untauglich, mit wirtschaftlichen Verflechtungen, gemeinsamen ökonomischen Interessen und auch (hoch-)kulturellen Vernetzungen ließe sich ein Bollwerk vom Frieden her gegen den Krieg errichten, weil so dauerhaft und untrennbare Freundschaften zu schließen wären. Das sind wohl doch nur deals, die sich je nach Angebotslage auch ganz anders machen lassen. Oligarchische Ökonomie und Mäzenatentum der Reichen stehen leider nicht zwischen Krieg und Frieden, weil sie auf beiden Seiten Gewinne verbuchen und ihren Schnitt machen.

Die Öffnung nach Osten hat dort bisher stets eine Sehnsucht nach Westen geweckt, die sich auch von dessen unübersehbaren Schwächen nicht abschrecken lässt. Die potentielle Freundschaft zu diesem Westen bleibt auch dann noch attraktiver, wenn der um seine demokratische Linie kämpfen muss. Die Voraussetzung dafür ist nun aber wohl, dass dieser Westen vor der potentiellen Durchschlagskraft der Politik der Feindschaft nicht die Augen verschließt. Dann kann man auch dem Ressentiment wehren, mit dem man überzogen wird. Denn die Sehnsucht nach einer freien, auf das Individuum achtenden Welt erweckt zugleich Ressentiments dort, wo eine autoritär aufgebauschte Homogenität fürchten muss, mit den diversen, pluralen, offenen, ständig mit sich ringenden Gesellschaften des Westens nicht mithalten zu können. Der Putinismus hat dieses Ressentiments offen zur Kriegswaffe gemacht, auch wenn es sich als nicht zu übermächtig erwiesen hat wie in Moskau kalkuliert. Dem muss sich auch die katholische Ökumene mit der russischen Orthodoxie stellen. Sonst wird man sich fragen, ob in der katholischen Hochhierarchie am Ende nicht doch ähnliche Ressentiments gegen den nichthomogenen Westen geteilt werden.

Und nun? Vielleicht kommt man weiter, wenn man sich nicht vorrangig damit befasst, wie Freundschaft, die alte Feindschaften beseitigt, den Frieden vor dem Krieg schützen kann, sondern was Frieden in und unter Menschen innerlich und äußerlich zersetzt. Vielleicht sehen wir klarer, wenn die Kalküle der Macht nüchtern betrachtet werden, die im Krieg triumphieren. Dafür gibt es einen Grund, der jenseits der einfachen binären Codierungen liegt. Zwischen Krieg und Frieden stehen weder Geschwisterlichkeit noch Entweder-Oder, weder Wirtschaft noch Hochkultur als Bollwerke. Zwischen ihnen steht das Böse. Wird Böses im Krieg nicht benannt, erkannt und bekämpft, breitet es sich unaufhaltsam aus und kontaminiert die ganze Zivilisation. Im Krieg ist Böses nicht wählerisch; es kann immer auf beiden Seiten triumphieren.

In diesem Krieg über die Ukraine tritt Böses so klar hervor, dass man schon die Augen davor sehr fest verschließen muss, um es nicht zu sehen. Das erschöpft sich nicht in der Sorte von Bosheiten wie dem langen Kremltisch Putins oder die Winkelzüge seines Außenministers, wie die metaphysischen Hasspredigten eines Kyrill I. über gay-pride oder die auf Rüstungswerbung getrimmten Einsätzen von Superraketen neuester Bauart. Sie gehören allesamt noch zu dem, was Hannah Arendt als Banalität des Bösen identifiziert hat; die Akteure wären vor Gericht Hanswurste wie Eichmann in Jerusalem. Sie sind keine Monster und haben auch nichts mit der Figur des Teufels zu tun; die entsteht dort, wo Menschen davon besessen sind, besessen zu sein, weil sie darin eine negative Auszeichnung anstreben, die sie sonst positiv nicht erreichen. Das ist nicht das Thema dieser Banalität.

Aber dieser Krieg ist gleichzeitig viel schlimmer. Es offenbart sich über die Banalität hinaus zugleich der monströse Charakter des Bösen. Überforderte Truppen werden auf Kompensationen zu ihren mangelnden Erfolgen losgelassen wie beim Vergewaltigen und Ermorden in Butscha und anderswo. Demonstrativ wird Europas größtes Atomkraftwerk in sehr gefährliche Lagen gebracht, damit sich Wellen der Angst von Europa bis nach Washington ausbreiten. Eine ganze Stadt, Mariupol, wird zerstört und das, was den umzingelten Truppen im dortigen Stahlwerk blühte, soll allen vor Augen führen, was sie bei Nicht-Unterwerfung erwartet. Alle Friedliebenden und vorrangig auf Freundschaft ausgerichteten Akteure von Warschau über Paris bis Washington spüren den Pesthauch von etwas Bösen, das sich weiter bis in die Kapillare der jeweiligen Gesellschaften ausbreiten wird, wenn es nicht gestoppt wird.

Mit dem christlichen Glauben lässt sich solches Böses nicht ungeschehen machen, aber auch unter keinen Umständen verharmlosen. Mit dem Bösem dieser Kategorie darf man keine Kompromisse machen, auch nicht eine Andeutung davon. Böses lebt auf in allem, wo und wie und warum man ihm entgegenkommt. Jede Form der Hinnahme einer Politik der Feindschaft gibt ihm Raum, während mit einer vorrangigen Politik der Freundschaft dieser Raum noch nicht versiegelt und verschlossen ist. Jeder Nicht-Widerstand zum Bösen ist sein Lebenselixier. Die Klage an Gott, wie er ein solches mysterium iniquitatis – wie es die theologische Tradition immer nannte – zulassen kann, liegt nahe und sie muss theologisch auch verhandelt werden.

Aber auch sie erreicht nicht die Komplexität dieser Verstrickung, in der wir uns angesichts dieses Krieges befinden. Sie wird in der Frage deutlich, wie der entschiedene Widerstand und offene Widerspruch zu diesem Bösen sich überhaupt mit Frieden und Freundschaftshoffnungen verträgt. Weder Frieden noch Freundschaft fallen vom Himmel, sondern entstanden gerade in Europa aus Kompromissen derer, die direkt und indirekt durch einen elementar zerstörerischen Krieg verstrickt waren. Auf der einen Seite ist vollständige Kompromisslosigkeit nötig, auf der anderen dagegen die Fähigkeit zu Kompromissen.

Ist das ein Widerspruch? Immerhin entsteht mehr als ein bloßer Zielkonflikt. „Ukraine must win“, weil es nicht genügt, wenn Russland diesen Krieg bloß jetzt nicht gewinnt, sondern eben dann in der nächsten Runde. Diesem Krieg muss das Böse ausgetrieben werden, was die Menschen in der Ukraine auf Leben und Tod attackiert, was die Anrainer der Ukraine auf Dauer klein machen will, was die Lebensweise von Menschen in einer freien demokratischen Welt und darüber hinaus auch in nicht-demokratischen Gesellschaften global bedroht. Dieser Krieg ist kein Regionalkonflikt und auch kein Territorialdisput, sondern signifikant für die Art und Weise, wie die Menschen in der Gegenwart weiterleben wollen: autoritär mit Zugeständnissen an die Macht eines wie auch immer gearteten Bösen oder widerständig und souverän gegen die Versuchungen dieser Macht.

Aber ist das zu erreichen, wenn man Russland nicht entgegenkommt? Natürlich ist das nicht zu erreichen ohne die Fähigkeit zum Kompromiss mit diesem Staat und seinen Bewohnern. Aber diese Fähigkeit beinhaltet zugleich die Wahrnehmung, dass gerade auch der Aggressor tatsächlich und glaubwürdig selbst wider das Böse aufsteht, die ihn zum Krieg getrieben hat. Russland hat diese Potentiale, das hat es schon früher bewiesen. Aber es wird eine prekäre Selbstrelativierung von Supermachtmythen und anderen, religiös unterfütterten Überlegenheitsphantasien durchführen müssen. Ohne diese Selbstkonfrontation Russlands wird sich dieser Krieg hinziehen. Solange die Ukraine, ihre politische Führung und ihre Truppen, aber auch die Menschen dort, die bleiben oder fliehen, mit der Bosheit keine Kompromisse machen, werden sie sich die überlegene Glaubwürdigkeit erhalten, die aus ihrem Widerstand gegen die Politik der Feindschaft entsteht. Das löst eine elementare humane Solidarität aus und darauf haben sie auch ein Recht. Das schließt Waffenhilfe nicht aus, sondern in dem Modus ein, mit dem diese Feindschaftspolitik nicht triumphieren kann.

Wenn zwischen Krieg und Frieden ein Drittes steht, eben das Böse der Kriegsgewalt, dann ist die Glaubwürdigkeit des Widerstands gegen dessen Macht ein entscheidendes Moment. Die Angreifer besitzen diese Glaubwürdigkeit nicht und alles, was sie sagen, belegt das. Auf die Glaubwürdigkeit hin hätten die Christen und Christinnen, ihre Kirchen und deren Hierarchien einen wirklichen Beitrag zu leisten. Schließlich steht man hier vor einem elementaren Ort des Evangeliums, der Umkehr, deren Glaubwürdigkeit eine Bedingung der Möglichkeit des Glaubens ist.

Darum möchte ich auch Applebaum zustimmen: „Ukraine must win“, weil die Umkehr vom Bösen notwendig ist und ein Gewinn für alle wäre.