Dr. Karl-Heinz Kamp war Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und Sonderbeauftragter im Bundesministerium der Verteidigung
Wenige Monate vor dem 75. Jubiläum der Nordatlantischen Allianz herrscht in vielen sicherheitspolitischen Analysen geradezu Untergangsstimmung. Putin scheint in der Ukraine kaum zu stoppen und die russische Kriegsmaschinerie wirft trotz internationaler Sanktionen immer weiter Menschen und Material auf die Schlachtfelder in der südlichen und östlichen Ukraine. Im Mittleren Osten droht ein Flächenbrand und im asiatisch-pazifischen Raum hat sich China zu einem autokratischen Regime entwickelt, dessen Großmacht-Ambitionen nicht nur die Stabilität in der Region bedrohen, sondern auch die internationale Ordnung generell in Frage stellen. Offenbar findet sich die Achse der Autokratien, zu der Russland und China ebenso gehören, wie der Iran oder Nordkorea, zu einer Allianz zusammen, die dem politischen „Westen“, also der Kombination von Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft, immer aggressiver entgegentritt.
Als wäre dies noch nicht genug, kommen offenbar die Gefahren für diesen Westen, dessen transatlantischer Kern die NATO darstellt, nicht nur von außen, sondern auch von innen. Die Möglichkeit eines US-Präsidenten Donald Trump, der Bündnissen im Allgemeinen und die Atlantische Allianz im Besonderen verachtet, bereitet in vielen europäischen Hauptstädten Kopfschmerzen. Ein NATO-Mitglied Türkei, dessen Präsident der Hamas zu ihren abscheulichen Gräueltaten in Israel gratuliert ist ebenso wenig mit der Idee von der „westlichen Wertegemeinschaft“ in Einklang zu bringen, wie Ungarns Viktor Orban, der sich offen als Sprachrohr Moskaus geriert. Kein Wunder, dass sich angesichts dieser Entwicklungen in vielen NATO-Staaten das Gefühl von einem Problem-Overkill breitmacht, dem man nicht mehr Herr wird.
Allerdings trübt ein allzu großer Pessimismus den Blick für die Realitäten und vor allem befördert er die Gefahr der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Keine der genannten Entwicklungen ist zwangsläufig und es ist an den handelnden Personen – ob Regierungen, Medien oder Öffentlichkeit – entsprechend zu agieren, um die befürchteten Prozesse nicht eintreten zu lassen.
Russlands Krieg in der Ukraine ist ein gutes Beispiel dafür, dass Fatalismus nicht angebracht ist. Zunächst sollte man sich erinnern, dass es am 24. Februar 2022 als nahezu gesichert galt, dass die Ukraine dem russischen Angriff nur wenige Tage oder Wochen wird standhalten können. Der Gedanke, dass man ein Jahr später sogar einen möglichen „Sieg“ der Ukraine ins Auge fassen würde, wäre damals als Phantasterei abgetan worden.
Auch heute ist Russland alles andere als in einer komfortablen Position. In mittlerweile über neun Jahren Krieg gegen die Ukraine haben die russischen Streitkräfte gerade einmal 19 Prozent des ukrainischen Territoriums besetzt. Der gezahlte Blutzoll ist unvorstellbar. Vor einigen Wochen veröffentlichte der amerikanische Geheimdienst Schätzungen von 315 000 Opfern auf russischer Seite, das sind fast 90 Prozent der 360 000 Mann starken Invasionsarmee, mit denen Russland den Angriff begonnen hatte. Der Verlust an Soldaten und Material, so der amerikanische Bericht weiter, würde Russland militärisch um 18 Jahre zurückwerfen. Auch hat Russland keinen einzigen Zug oder Konvoi, der westliche Hilfe über Polen in die Ukraine bringt, abfangen können. Die Schwarzmeerflotte hat einen großen Teil ihrer Schiffe aus Sewastopol abziehen und weiter nach Osten verlagern müssen, weil nur wenige britische Storm Shadow Marschflugkörper eine erhebliche Gefahr darstellen. Die von Nordkorea gelieferte Munition soll erhebliche Sicherheitsprobleme mit sich bringen und kaum einsetzbar sein. Weitere Sanktionspakete der Europäischen Union oder der USA stopfen Schlupflöcher, durch die Russland moderne Technologie bezogen hatte.
Die Kosten des Krieges sind für Russland ebenfalls gewaltig und werden im kommenden Jahr fast 40 Prozent der gesamten Staatsausgaben verschlingen. Gazprom, dessen Gewinne einst zehn Prozent des Staatshaushalts ausmachten, hat 80 Prozent seiner Märkte in Westeuropa verloren, ohne dies mit Lieferungen nach Indien oder China kompensieren zu können – es fehlen schlicht die Pipelines. Öl an Indien zum Preis von 64 Dollar pro Barrel liefern zu müssen, ist ebenfalls keine Goldgrube. Auch steht man mit der NATO einer Allianz gegenüber, deren Bruttoinlandsprodukt etwa zwanzigmal höher ist, als das Russlands – von den übrigen Unterstützern der Ukraine im Rahmen der G 7 ganz zu schweigen.
Aber, so heißt es, Russland ist leidensfähig und kann die eigenen Nöte aussitzen, bis dass die westliche Unterstützung für die Ukraine schwindet. Auch danach sieht es bislang nicht aus. Die Mitglieder der Europäischen Union haben die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine beschlossen und gerade ein neues Hilfspaket von 50 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass sich Deutschland vom anfangs nur peinlichen Angebot von 5000 Helmen zum zweitgrößten Unterstützer der Ukraine entwickelt hat. Auch das dürfte Putin von einer Rot-Gelb-Grünen Bundesregierung kaum erwartet haben
Heißt das alles, dass im Umkehrschluss der Erfolg der Ukraine gesichert ist? Keinesfalls, auch dort sind die Verluste gewaltig und ohne die große internationale Unterstützung hätte das Land dem Druck Russlands nie so lange standhalten können. Es ist an der Ukraine zu entscheiden, wie lange sie die eigenen Opfer noch bringen kann und will und ob sie unter „Sieg“ die Rückeroberung ihres gesamten Staatsgebiets versteht oder irgendeine Form von Kompromiss. Bis dahin ist weitere westliche Hilfe für die Ukraine sicherheitspolitisch, militärisch und auch moralisch zwingend erforderlich. Die transatlantische Gemeinschaft hat es selbst in der Hand, das Überleben einer freien und unabhängigen Ukraine zu sichern und Russlands imperialen Träume zu beenden.
Aber ist es um den Westen im Allgemeinen und das euro-atlantische Bündnis im Besonderen nicht angesichts von Erdogan, Orban oder vielleicht bald Donald Trump allzu zu schlecht bestellt, um solche Kraftakte zu erwarten?
Auch hier kann die reine Empörung über den Störenfried vom Bosporus oder den Russland-Freund aus Budapest eine nüchterne Analyse nicht ersetzen. Zunächst war das wertegebundene Selbstverständnis der NATO nie lupenrein, gehörten doch in den 1970er Jahren mit Portugal und Griechenland Militärdiktaturen dem Bündnis an. Auch ist es ein Grundpfeiler der Atlantischen Allianz, dass Entscheidungen nur mit der Zustimmung aller getroffen werden können – qualifizierte Mehrheiten wie in der EU sind nicht möglich. Dies gibt jedem NATO-Mitgliedsland, ob groß oder klein, die Möglichkeit, missliebige Entscheidungen zu blockieren und nahezu jeder NATO-Staat hat davon schon zum Ärger aller anderen Gebrauch gemacht. Auch Deutschland wurde oft als schwieriger Partner gesehen, der seine Zustimmung zu Einzelfragen trotz heftiger Proteste der Bündnispartner verweigerte. So umständlich das Einstimmigkeitsprinzip manchmal sein mag, so schützt es doch davor, dass bei Fragen von Leben und Tod – und darum geht es oft bei militärischen Einsätzen – NATO-Regierungen sich einem Mehrheitswillen beugen müssen, den sie gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung nicht vertreten können.
Natürlich rechtfertigt das nicht die anti-demokratischen Tiraden in der Türkei oder in Ungarn. Allerdings ist gerade die Türkei – ob es gefällt oder nicht – in einer ganz entscheidenden geostrategischen Position, kontrolliert sie doch den Zugang zum Schwarzen Meer und damit zu den Häfen der Ukraine und Russlands. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Türkei im Einklang mit dem Vertrag von Montreux und sehr zum Ärger Moskaus die Durchfahrt durch die Meerengen für russische Kriegsschiffe gesperrt. Diese Entscheidung kann Erdogan jederzeit widerrufen und damit Russland militärische Vorteile verschaffen.
Ist die NATO, immerhin das stärkste Militärbündnis auf dem Globus, also der Willkür von Autokraten oder religiösen Extremisten ausgeliefert? Nicht ganz, denn sowohl Erdogan als auch Orban agieren ja nicht aus einer Position der Stärke heraus, sondern der Schwäche. Der türkische Präsident hat sein Land mit kostspieligen Großprojekten, Nepotismus und inkompetenten Wirtschaftsentscheidungen heruntergewirtschaftet und auch um die ungarische Wirtschaft ist es nicht allzu gut bestellt. Das gibt der NATO aber auch der Europäischen Union einige Hebel in die Hand, sind doch 23 Staaten Mitglied in beiden Organisationen. Für die Türkei ist die EU wichtigster Handelspartner und Ungarn ist dringend auf die Finanzhilfen aus Brüssel angewiesen, die derzeit wegen Ungarns Demokratiedefiziten zurückgehalten werden. Auch die USA können, etwa über die Blockade von Waffenlieferungen die Haltung der Türkei und Ungarns, wenn schon nicht zu ändern, so doch mit hohen Kosten zu versehen.
Und was, wenn mit Donald Trump ein Präsident ins Weiße Haus einzieht, der selbst autokratischen Vorstellungen folgt und gar behauptet, eine diktatorische Politik verfolgen zu wollen? Auch hier hilft verbales Abrüsten. Ohne Zweifel könnte eine weitere Amtszeit Trumps gewaltigen transatlantischen Schaden anrichten. Das Ende der NATO oder eine amerikanische Diktatur ist aber kaum zu erwarten, hat sich doch der amerikanische demokratische Grundkonsens nach beim Sturm auf das Kapitol vor drei Jahren als überaus resilient erwiesen. Auch haben sich in Trumps erster Amtszeit gerade die amerikanischen Streitkräfte allzu abstrusen Entscheidungen des Präsidenten entgegengestellt. Der amerikanische Generalstabschef Mike Milley gab zu Protokoll, dass er einem ungerechtfertigten Befehl des Präsidenten zum Einsatz von Nuklearwaffen verweigert hätte.
Heißt das Entwarnung für die Gemeinschaft der Demokratien? Sicher nicht, aber sie können die Lage entschärfen. Höhere Verteidigungsausgaben der Europäer würde die Sicherheit vor Russland erhöhen und Trumps Klagen über das Trittbrett-Fahren der Europäer den Wind aus den Segeln nehmen. Eine NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine würde Putin endgültig klarmachen, dass sein Ziel einer Moskau-hörigen Regierung in Kiew nicht mehr erreichen kann. Ein schrittweiser Abbau gefährlicher Abhängigkeiten der europäischen Wirtschaftsunternehmen vom Handel mit China würde Peking Druckmittel nehmen, sollte es zu einer ernsten Krise um Taiwan kommen. Und schließlich würde eine noch engere Partnerschaft mit den Demokratien im asiatisch-pazifischen Raum – konkret mit den sogenannten Asia-Pacific-Four (Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea) verdeutlichen, dass der „Westen“ keinesfalls auf die transatlantische Dimension beschränkt ist.
Derart vorbereitet muss man der Auseinandersetzung mit der „Achse der Autokratien“, die sich von Asien (China und Nordkorea) über den Mittleren Osten bis hin nach Südamerika (Venezuela) erstreckt, nicht mit Sorge entgegensehen, zumal es sich bei dieser Achse – mit Ausnahme Chinas – eher um eine Achse der wirtschaftlich Schwachen handelt.