Generalmajor André Bodemann ist seit Ende März 2020 Kommandeur des Zentrums Innere Führung in Koblenz.
Der russische Präsident Putin hat am 24. Februar 2022 einen rücksichtslosen sowie durch nichts zu rechtfertigenden Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgelöst und damit unsere Hoffnung auf den Erhalt des Friedens in Europa zerstört. Im Zusammenhang mit dem weltpolitischen Umbruch einschließlich der Folgen insbesondere für Deutschland und die deutsche Sicherheitspolitik sprach Bundeskanzler Scholz im Rahmen der Sondersitzung des Deutschen Bundestages am 27. Februar 2022 von einer „Zeitenwende“ oder, wie wir es militärisch ausdrücken, von einer „grundlegenden Lageänderung“! Als ein Ergebnis daraus wurde u.a. der politische Wille deutlich, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Wiederherstellung der vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr einzurichten.
Jetzt, mit einem bewährten „Schritt Abstand von der Lagekarte“, gilt es, sich nun auch damit auseinanderzusetzen, was dies für die Innere Führung, deren Weiterentwicklung wie auch für die politische und ethische Bildung bedeutet.
Zunächst hört man hin und wieder die kritische Frage, ob die Innere Führung nun zugunsten der Umsetzung der Rüstungsvorhaben und einer möglicherweise noch intensiveren Ausbildung für Einsatz und Gefecht zu vernachlässigen oder sogar für die Erreichung der vollen Einsatzbereitschaft hinderlich sei!
Innere Führung und Einsatzbereitschaft sind für mich untrennbar. Sie sind zwei Seiten der selben Medaille einer leistungsfähigen und einsatzbereiten Bundeswehr. Innere Führung war, ist und bleibt kein Selbstzweck, sondern dient – im Grundbetrieb wie auch im Einsatz bewährt – vor allem der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Dieser Zweck und dieses Ziel finden sich bereits auch in der Himmeroder Denkschrift von 1950. Zugegebenermaßen wurde die Innere Führung leider immer wieder – vor allem in den vergangenen Jahren – fälschlicherweise auf Menschenführung und die so genannten „weichen Themen“ reduziert. Insofern war die Entscheidung richtig, dass wir am Zentrum die Innere Führung seit mehr als zwei Jahren wieder stärker auf deren Wert für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr ausgerichtet haben. Für mich lautet daher die Antwort auf die oben genannten Fragen sowie die darin verborgene Kritik an der Inneren Führung eindeutig: NEIN!
Nach wie vor bin ich zutiefst davon überzeugt, dass unsere Führungs- und Organisationskultur, insbesondere mit politischer und ethischer Bildung im Rahmen der gesamtheitlichen Persönlichkeitsbildung und -entwicklung, soldatischer Erziehung, sowie einem soldatischen Selbstverständnis und entsprechender Wertebindung, von besonderer Bedeutung ist. Die Innere Führung ist für die Wiederherstellung der vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr mindestens ebenso bedeutsam wie eine hinreichende Finanzierung, einsatzfähiges Material und eine professionelle Ausbildung. Die Innere Führung war, ist und bleibt gerade jetzt für mich ein bewährtes und beständiges Fundament für verantwortliches soldatisches Handeln unter Bindung an die Werte und Normen des Grundgesetzes als einzigen Bezugsrahmen. Sie stellt dazu den Kompass bereit, der in Zeiten einer erhöhten Bedeutung für Landes- und Bündnisverteidigung, ja sogar des Krieges, sowie der Verunsicherung und der Verwirrung der Begriffe die notwendige Orientierung und Verhaltenssicherheit für das eigene Handeln liefert. Es kommt vor allem auf das „Mindset“, die innere Haltung und das soldatische Selbstverständnis an! Gelebte Werte und die Erkenntnis des „Dienens wofür?“ aus Überzeugung sind Teil einer wirkungsvollen Inneren Führung als Beitrag zur Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Die Innere Führung ist eben nicht die Summe der weichen Themen. Ebenso wenig wie der Beruf des Soldaten / der Soldatin kein Beruf wie jeder andere ist. Innere Führung gibt Antworten auf die Kernfragen am scharfen Ende des Soldatenberufs: „Wozu bin ich bereit mein Leben oder das Leben meiner mir anvertrauen Soldatinnen und Soldaten einzusetzen? Wozu bin ich bereit, Leben zu nehmen, also zu töten? Und wann verbietet mir mein Gewissen, im Sinn des gewissengeleiteten Gehorsams im Gegensatz zum Kadavergehorsam vorheriger deutscher Streitkräfte, etwas zu tun?
Zu wissen, wofür man dient und am Ende auch wofür man kämpft, wenn es sein muss, erleben wir aktuell jeden Tag in der Ukraine. Die Moral und der Einsatzwille der ukrainischen Verteidiger zeigen deutlich, wie wichtig es ist, von den eigenen Werten, für die man kämpft, überzeugt zu sein.
In diesem Zusammenhang hört man gelegentlich auch die weitere Frage, ob die Wertebindung nicht für das „Überleben und Gewinnen im Kampf“ bzw. Erreichen von „Kriegszielen“ hinderlich sei. Auch hier antworte ich mit einem klaren NEIN!
Vordergründig mag eine nicht notwendige Wertebindung und damit ein skrupelloses Vorgehen im Einsatz, Kampf und Krieg für das Erreichen von Zielen hilfreich sein. Aber auch hier lohnt der Blick in die eigene Vergangenheit, ganz besonders aber auch auf den Krieg in der Ukraine und dessen Verlauf. Ebenso werteungebunden und skrupellos wie die russische Führung und Teile der russischen Truppen gegen die ukrainischen Streitkräfte sowie die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine vorgehen, so werteungebunden und skrupellos gehen sie selbst mit den eigenen Soldatinnen und Soldaten um. Diese werden zum Teil ohne Informationen oder mit Falschinformationen, unzureichend ausgebildet, ausgerüstet und vorbereitet in einen Krieg geschickt. Täglich sehen und hören wir, wie wenig Nahrung und Trinkwasser den russischen Soldatinnen und Soldaten zur Verfügung stehen sowie davon, wie mit eigenen Verlusten umgegangen wird. Verwundete werden nicht angemessen versorgt. Gefallene werden einfach liegen gelassen oder mit mobilen Krematorien vor Ort verbrannt. Die Familien und Hinterbliebene erhalten keine oder kaum Informationen über deren Angehörige. Was hat dies zur Folge? Eine nicht vorhandene oder zumindest erheblich geminderte Kampfmoral und damit ein mangelnder Erfolg. Zudem erhöht werteungebundenes Verhalten die Gefahr von Gräueltaten wie Plünderungen, Vergewaltigungen und Folterungen und damit Kriegsverbrechen. Auch dies wiederum verstärkt den ukrainischen Widerstand und die Kampfmoral. So ist es kaum verwunderlich, dass die in vielerlei Hinsicht unterlegenen ukrainischen Streitkräfte mit ihrer Wertebindung und dem Wissen wofür sie dienen und kämpfen bislang derart große Erfolge erzielen. Insofern bleibt es unverändert und äußerst wichtig, als Soldat die Werte selbst zu erfahren, für die man dann zu kämpfen bereit ist.
Die aktuelle und in der zeitlichen Dimension wahrscheinlich auch künftige sicherheitspolitische Lage hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der Inneren Führung. Dazu gehört z.B. Mentale Stärke in Bezug auf Landes- und Bündnisverteidigung sowie im Angesicht des Krieges und die Bereitschaft, die jetzt notwendigen Veränderungen zu akzeptieren und mitzugestalten. Die nun erforderlichen und nicht einfachen Veränderungen und Anpassungen an die neue Realität hat das Zentrum Innere Führung mit den eigenen Trainings, Seminaren und Produkten bereits selbst angegangen und wird diese auch darüber hinaus unverändert als Dienstleister für die Truppe aktiv und unterstützend begleiten. Dazu gehören u.a. eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Frage wofür wir dienen, eine intensive politische und ethische Bildung sowie die Wachsamkeit gegen „Angriffe“ auch im Frieden wie z.B. Falschinformationen, Fake News, Propaganda oder „Annäherungs- Zersetzungsversuche“ anderer Nachrichtendienste.
Jetzt, da Krieg in Europa wieder Realität ist, wird die Innere Führung als wesentlicher Beitrag für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr zur Verteidigung unserer Werte heute mehr denn je gefordert. Gerade deshalb kommt es jetzt darauf an, dies gerade jetzt auch deutlich zu kommunizieren.