Dr. Oliver Müller ist promovierter Theologe und Politikwissenschaftler. Nach Studien in Freiburg im Breisgau und Lima/Peru begann er seine berufliche Laufbahn in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising. Seit Herbst 2006 ist er Leiter (International Director) von Caritas international, dem Not- und Katastrophenhilfswerk des Deutschen Caritasverbandes mit Sitz in Freiburg. Dr. Oliver Müller befasst sich schwerpunktmäßig mit der Humanitären Hilfe, globaler sozialer Entwicklung und mit dem Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in Osteuropa wie auch im Süden.
Bis zur russischen Invasion im Februar 2022 beschränkte sich die geringe internationale Präsenz in der Ukraine auf die östliche Donbass-Region. Schwerpunkte im „eingefrorenen Konflikt“ bzw. in der „vergessenen Krise“ waren der Aufbau von Sozialstrukturen, psychosoziale Betreuung, kleinere Wiederaufbauprojekte und sogenannte „winterization“ Programme.[1] Die Anzahl ziviler Todesopfer, die in den vergangenen sechs Wochen (1.430) die Gesamtzahl der letzten sieben Jahren des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine (1.320) übertraf, zeigt, wie sehr sich die Lage verschärft hat. Die Angriffe treffen zunehmend Wohnviertel, zivile Infrastrukturen wie Strom-, Gas- und Wasserleitungen und Krankenhäuser. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation fanden in diesem Jahr fast zwei Drittel aller weltweiten Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen (103) und drei Viertel aller Todesfälle von medizinischem Personal (73) in der Ukraine statt.[2] Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind rund 11,4 Millionen Menschen intern bzw. grenzüberschreitend vertrieben - mehr als ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung.[3] Bargeldunterstützung, einschließlich des Zugangs zu Notunterkünften, Nahrungsmitteln, Medikamenten und Gesundheitsdiensten sowie Transportmöglichkeiten sind die dringendsten Bedürfnisse - und zwar landesweit, sodass internationale Hilfsorganisationen in Städten und Gebieten, in denen sie zuvor nicht präsent waren, erst noch aufschlagen müssen. Ersthelfende sind lokale zivilgesellschaftliche Gruppen und Organisationen. Sie mobilisieren und vergrößern sich in unglaublicher Geschwindigkeit. Ebenso in Polen, Moldawien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn. Die Situation ist ein Beispiel für die zentrale Rolle lokaler Akteure bei allen Hilfsmaßnahmen und eine Erinnerung and einen der sieben ursprünglichen Grundsätze der Humanitären Hilfe: Freiwilligkeit.[4]
Caritas Ukraine leistet seit drei Jahrzehnten Unterstützung für Menschen und benachteiligte Gemeinden. Die landesweiten 27 Sozialzentren sind in allen Regionen an der aktuellen Hilfe beteiligt. Im Sinne des Nexus konnten bestehende Sozialdienstleistungen in akute Nothilfemaßnahmen umgewandelt oder flexibel durch diese erweitert werden. Welch humanitäre Ausmaße der Krieg in der Ukraine hat wird im ersten Flash Appeal der Vereinten Nationen über 1,14 Milliarden Dollar deutlich, die größte veranschlagte Summe der vergangenen fünf Jahre.[5] Allerdings sind die Finanzmittel für lokale Akteure kaum zugänglich und im Vergleich zu denen von UN-Organisationen und internationalen Hilfswerken sehr gering. Das ist problematisch, da viele Internationale oftmals gerade erst dabei sind, ihre Tätigkeit aufzunehmen und sicherlich wieder vor den lokalen Akteuren abziehen. Daher arbeitet die Caritas Ukraine mit subsidiärer Unterstützung und Finanzierung durch das internationale Caritasnetzwerk. Die langjährige Zusammenarbeit geht über eine ad-hoc bzw. rein strategische Partnerschaft hinaus. Durch einen Caritas-Dispositionsfund konnten Sofortmittel zur Verfügung gestellt werden, um schnelle unbürokratische Hilfe zu realisieren. Durch die große Spendenbereitschaft konnten die Nothilfemittel aus Deutschland bereits am dritten Tag des Kriegs um 500.000 Euro erhöht und Anfang März mit 1,2 Millionen Euro aufgestockt werden. Ende März beziffert sich die Solidarität auf 52 Millionen Euro. Eine Summe, die in Anbetracht der akuten Bedürfnisse sowie der langfristigen Kriegsfolgen gesehen werden muss. Darüber hinaus reißen Solidaritätsaktionen nicht ab. Anfang April sind beispielsweise 300 Freiwillige einem Aufruf der Caritas Münster gefolgt und haben insgesamt 20.000 Nothilfepakete mit haltbaren Lebensmitteln gepackt. Die 150 Tonnen Lebensmittel wurden mit insgesamt 13 Lastwagen nach Lwiw gebracht und vor Ort von lokalen Caritas-Mitarbeitenden verteilt.
Leuchtturm-Instrumente der Europäischen Union
Die Anfang März aktivierte „Massenzustromrichtlinie“, die bisher großzügig von den EU-Mitgliedstaaten das erste Mal umgesetzt wird, ist ein Leuchtturm-Instrument um Menschen, die vor Krieg fliehen, rasch und wirksam zu schützen.[6] Die zunächst einjährige Aufenthaltserlaubnis in der EU kann um insgesamt zwei weitere Jahre verlängert werden und wird samt Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt und zur Sozialhilfe gewährt. Das Recht, einen Asylantrag zu stellen, besteht darüber hinaus. Zudem ist ein gemeinsamer Plan zur Bekämpfung von Menschenhandel und Ausbeutung vorgesehen. Allein zwischen 2017 und 2018 gab es mehr als 14.000 registrierte Fälle in der EU. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.[7] Die Erfahrungen anderer Fluchtrouten zeigen, wie stark Menschen der Gefahr ausgesetzt sind, abgegriffen und in Prostitution oder in andere prekäre Lebensverhältnisse als sogenannte „forcibly immobilised persons“ festgesetzt zu werden.[8] Die europäische Abstimmung über diese Maßnahmen und der Ausblick auf eine hinreichend sichergestellte Finanzierung zur Versorgung der Menschen ist ein Erfolg.
In Sachen Finanzierung sind die Kohäsionsmittel zugunsten von Flüchtlingen in Europa (Cohesion Action for Refugees in Europe/CARE) beispielhaft zu nennen. Die Vorschriften für den Zeitraum 2014-2020 erhalten die notwendige Flexibilität, damit die noch verfügbaren Mittel rasch auf Soforthilfen umgewidmet werden können.[9] Darüber hinaus können die für 2022 vorgesehenen Mittel in Höhe von zehn Mrd. Euro aus der Aufbauhilfe für den Zusammenhalt und die Gebiete Europas (REACT-EU) für die neuen Anforderungen verwendet werden. Finanzmittel wie diese helfen den Mitgliedstaaten dabei, die Deckung der Grundbedürfnisse von aus der Ukraine geflüchteter Menschen zu leisten. Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten diese Mittel nutzen, um passgenaue Lösungen für die langfristige Integration durch Investitionen in Wohnraum, Bildung, Beschäftigung, Gesundheit, soziale Inklusion und Pflege oder andere soziale Dienstleistungen zu entwickeln.
Problematische Vermischung von Finanzmitteln und Maßnahmen
So sehr diese Mittel jetzt dringend gebraucht werden, so sehr haben sie einen ursprünglichen Zweck, der durch die innovative Flexibilität nicht ins Leere laufen darf. REACT-EU wird im Rahmen von „NextGenerationEU“ finanziert und leistet Unterstützung bei der Krisenbewältigung im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie und ihren sozialen Folgen sowie bei der Vorbereitung einer grünen, digitalen und stabilen Erholung der Wirtschaft. Die Umwidmung, ist notwendig, höchst begrüßenswert und soll ohnehin jeweils im Einklang stehen mit dem übergeordneten Ziel des Wiederaufbaus nach der Pandemie. Aber die nicht einkalkulierten Sondermaßnahmen könnten insofern problematisch sein, als dass grüne, digitale und stabile Wirtschaftspotenziale zukünftig unterambitioniert finanziert werden. "Wenn wir die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius begrenzen wollen, heißt es jetzt oder nie", so der Kommentar von Jim Skea, Co-Vorsitzende der Arbeitsgruppe III des Weltklimarats, zum kürzlich erschienen 2.900 Seiten starken IPCC-Bericht. "Ohne sofortige und tiefgreifende Emissionsreduzierungen in allen Sektoren wird das unmöglich sein."[10] Der Krieg ereignet sich zu einem Zeitpunkt, an dem alle Staaten zusammenarbeiten müssten, um die Klimakrise noch in den Griff zu bekommen. Natürlich haben der Schutz und die Versorgung von Vertriebenen Priorität, aber die Klimakrise und grüne Potentiale dürfen nicht aufgekündigt werden.
Die Solidarität und Finanzmittel für die Hilfe in der Ukraine sind beträchtlich. Die US-Regierung kündigte ein Finanzierungspaket in Höhe von 13,6 Milliarden Dollar an. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds schaffen fast elf Milliarden US-Dollar an Darlehen und anderen rückzahlbaren Finanzmitteln. Unter den Spendeneingängen für das Flüchtlingshilfwerk der Vereinten Nationen (UNHCR) sind mehrere Unternehmen aus dem Privatsektor gelistet. Von der Öffentlichkeit sollen weltweit schätzungsweise drei Milliarden Dollar gespendet worden sein.[11] Allerdings sind manche verlautbarten Mittel nicht ausschließlich für humanitäre Zwecke vorgesehen. Von den 13,6 Milliarden Dollar der US-Regierung für die „Soforthilfe zur Unterstützung des ukrainischen Volkes“ sind lediglich vier Milliarden für Humanitäre Hilfe vorgesehen. Der Großteil ist für die „Verteidigung der weltweiten Demokratie“ bereitgestellt, einschließlich militärische Verteidigung, Energie- und Cybersicherheitsmaßnahmen sowie Bekämpfung von Desinformationen.[12] So berechtigt und relevant diese Punkte sind, dürfen sie nicht mit Humanitäre Hilfe vermischt und sollten klar getrennt werden. In dieser Hinsicht problematisch ist auch die „Ukraine-Soli-Liste“ der TAZ, welche „Anregungen zu eigenem Engagement“ gibt, da sie neben der medizinischen und humanitären Unterstützung für die Zivilbevölkerung auch die „Unterstützung für die Armee“ bewirbt.[13] Die Vermischung von Maßnahmen ist ein generelles Problem der offiziellen Overseas Development Assistance (ODA).[14] Der Aufbau der Grenzsicherheit ist zu einer der wichtigsten Formen der Unterstützung des globalen Nordens für Länder des globalen Südens geworden im unverdächtigeren entwicklungspolitischen bzw. humanitären Jargon.[15] Die im Koalitionsvertrag erwähnte „ressortübergreifende Evaluierung der Verwendung der ODA-Mittel“[16] sollte künftig eine transparente Rechenschaftslegung sein.
Formen der Ungerechtigkeiten
Einkommensstarke Länder sollten keine Mittel von bestehenden Programmen abziehen, sondern neue Finanztöpfe bereitzustellen, wie z.B. die Sondermittel der Bundesregierung über 350 Millionen Euro. Einige Regierungen erwägen allerdings, Hilfsgelder, die für andere Krisen vorgesehen sind, zu verwenden, um die neuen Ausgaben zu stemmen. So wird die Unterstützung aus Dänemark aus dem bestehenden Hilfsbudget geleistet, woraufhin der dänische Entwicklungsminister vor „harten Entscheidungen“ und einer „Neu-Priorisierung“ warnt, weil es wahrscheinlich zu Verzögerungen und Streichungen von Programmen in anderen Krisengebieten führt. Es gibt Anzeichen dafür, dass die EU die humanitären Mittel für Timor-Leste um mehr als die Hälfte senkt und dass einige Geber andeuten, die Entwicklungsgelder für Burkina Faso um 70 Prozent zu streichen.[17]
Laut der UN-Welternährungsorganisation (FAO) haben derzeit 820 Millionen Menschen nicht genug zu essen und zu trinken. Im FAO Jahresbericht zur weltweiten Ernährungssicherheit 2021 heißt es: "Schon lange vor der COVID-19-Pandemie waren wir nicht auf dem richtigen Weg, um unser Ziel zu erreichen, den Hunger und die Unterernährung in der Welt in all ihren Formen bis 2030 zu beenden".[18] Die weltweiten Preise für häufig gehandelte Lebensmittel wie Pflanzenöle, Zucker und Getreide erreichten bereits im vergangenen Mai den höchsten Wert seit September 2011 und lag nominal nur 7,6 Prozent unter dem historischen Höchststand.[19] Mit dem Ukrainekrieg fallen nun die Lieferungen von Nahrungs- und Düngemitteln sowie Energieträger aus. „Was wir so intensiv diskutieren über den Benzinpreis in Deutschland“, verdeutlicht Ralf Südhoff vom Centre Humanitarian Action, „muss man sich ausmalen für Länder, wo jede Energie und jedes Weizenkorn wichtig sind, um überhaupt überleben zu können.“[20] Mehr als die Hälfte der Nahrungsmittel, die das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) in Krisenregionen verteilt, kommt eigenen Angaben zufolge aus Russland und der Ukraine. Für Mosambik sind empfindliche Folgen in der Nahrungsmittelversorgung prognostiziert.[21] Dabei hat das Land kürzlich mehr als 91.000 Hektar Ernten durch Zyklon „Gombe“ verloren.[22] UN-Generalsekretär António Guterres warnt vor einem „Hurrikan des Hungers“. Der Libanon, in dem ein Viertel der Bevölkerung Flüchtlinge sind und der 90 Prozent seiner Weizenimporte aus der Ukraine und Russland bezieht, hat eine Debatte über die globale Ernährungssicherheit angestoßen und fordert eine UN-Resolution. Bereits 2011 waren gestiegene Preise von Grundnahrungsmitteln auf globalisierten Märkten ein Katalysator für Aufstände in einer Reihe von Staaten. Daher warnt das Friedensgutachten 2020: „In Ländern, die stark von der Landwirtschaft oder von Lebensmittelimporten abhängen, können plötzliche Preisschwankungen als wirtschaftliche und politische Schocks wirken, die zu Brotprotesten, Hungerrevolten und Gewalt führen.“
Eine Entscheidung, den Menschen in der Ukraine zu helfen, darf keine Entscheidung gegen andere Regionen sein, nur weil diese regional entfernter liegen oder geopolitisch weniger ins Gewicht fallen. Auch wenn es Stimmen gibt, die argumentieren, „dass es gerechtfertigt ist, dass der Westen heute seine Ressourcen auf die Ukraine konzentriert… Wie alle Teile der Welt hat auch Europa besondere moralische Pflichten gegenüber den Menschen, die uns nahestehen"[23], gilt: „Politische Schwerpunktsetzungen sollten nur dann erfolgen, wenn durch eine intensive Koordinierung mit anderen Gebern ein Ausgleich geschaffen werden kann“, wie es in einer VENRO Stellungnahme 2019 heißt.[24] Das ist eine Lehre aus dem Kontext der „Syrienkrise“, in dem zwischen 2014 und 2017 fast 40 Prozent der deutschen Mittel verausgabt wurden auf die Gefahr hin, andere humanitäre Krisen zu vernachlässigen und unterschiedliche Standards zu etablieren. Das macht ein grundlegendes Dilemma deutlich: Formen der Ungerechtigkeiten - als ungleiche Verteilung von finanziellen Ressourcen und politischer Aufmerksamkeit bezüglich Regionen, Sektoren und Menschen – sind unvermeidlich.[25] Das stellt Humanitäre Hilfe vor eine innewohnende normative Spannung: Während der Narrativ eine Verpflichtung zum humanitären Imperativ im Sinne der Unparteilichkeit impliziert, ist die Realität von Faktoren bedingt. Die Aufgabe der Unparteilichkeit ist: Hilfe dort zu realisieren, wo Bedarf ist, auch ohne politische oder mediale Aufmerksamkeit. In diesem Moment sinken zivilgesellschaftliche Fördertitel im Bundeshaushalt 2022 ab, was zu „harten Entscheidungen“ führen wird.
Eher Alleinstellung statt Präzedenzfall
Die unbürokratische Aufnahme der EU von aus der Ukraine geflohener Menschen darf nicht über vergangene Diskrepanzen hinwegtäuschen, die es in Fragen der Solidarität und des Schutzes für geflüchtete Menschen aus anderen Regionen der Welt gibt mit zum Teil Abschottung, Abschreckung und illegalen Pushbacks als Antworten. Im vergangenen Jahr starben jeden Tag durchschnittlich vier Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer von Nordafrika nach Europa zu überqueren. Mehr als 90 Menschen wurden täglich von der EU-unterstützten libyschen Küstenwache in Haftanstalten gebracht, in denen sie Folter, Erpressung und sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind.[26] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits 2012 entschieden, dass Flüchtlinge nicht zurück nach Libyen gebracht werden dürfen. Anstatt Leben zu retten und Menschenrechte zu schützen, „haben sich die europäischen Länder auf einen Wettlauf nach unten eingelassen, um Menschen, die unseres Schutzes bedürfen, außerhalb unserer Grenzen zu halten", schreibt Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarates.[27] Auch wenn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im November 2021 erklärte, es könne kein EU-Geld für Mauern, Zäune und Stacheldraht geben,[28] was zwischenzeitlich debattiert wurde, ist zu erinnern: „Immer mehr Staaten gehen dazu über, die Flüchtlingskonvention zu missachten und irreguläre Migration auch mit Gewalt zu stoppen.“[29]
Die gute Abstimmung der Leuchtturm-Projekte scheint kein Präzedenzfall zu sein, der mit einer globalen Perspektive für zukünftiges Handeln verknüpft werden kann. Dr. Olaf Kleist, Politikwissenschaftler am DeZIM-Institut, beobachtet einen „Rückfall in die ideologische Flüchtlingspolitik“.[30] Berichte über Zurückweisungen von Nicht-Weißen Schutzsuchende an Grenzübergängen, etwa afrikanische und asiatische Studierende und afghanische Flüchtlinge, die in der Ukraine gelebt haben, bestätigen den Eindruck einer erwünschten Differenzierung. „Alliierte Flüchtende“, so Kleist, „sind präferierte und die vermeintlich wahren politischen Flüchtlinge.“ Die Solidarität für die einen darf nicht zum sogenannten "Othering" von anderen verleiten. In diesem Sinne ist auch von einer allgemeinen Verurteilung russischsprachiger Menschen in Deutschland und anderswo Abstand zu nehmen. Das wäre eine Kompromittierung in den Bemühungen um eine offene und wertebasierte Gesellschaft.
Richtige Konsequenz oder eigene Anliegen?
Ein größerer Rüstungshaushalt kann eine Lehre aus dem aktuellen Krieg sein. Damit sollten aber keine falschen Heilsversprechen bedient werden. VENRO fordert „eine politische und gesellschaftliche Debatte über alle Präventionsinstrumente, mit denen wir die nationale und globale menschliche Sicherheit steigern können“ und erinnert: „Eine verbesserte Verteidigungsbereitschaft trägt nicht zur Lösung weltweiter Konflikte und der Minderung der Folgen der Klimakrise oder wirtschaftlicher Folgen der Corona-Krise bei.“[31]In den vergangenen Jahren hat Deutschland den Verteidigungsetat bereits drastisch erhöht. Den Sondervermögen von 100 Milliarden Euro und dem Wehretat von mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts stehen Entwicklungen wie der Absenkung des Sozialhaushalts im Haushaltsplan 2022 von fünf Mrd. Euro (minus drei Prozent) gegenüber. ODA sinkt um drei Milliarden. Durch den langjährigen Rüstungsboom[32] steigern Rüstungskonzerne den Umsatz trotz Corona-Krise entgegen dem Trend der Wirtschaft.[33] Es ist kritisch zu überprüfen, ob und inwieweit der größere Rüstungshaushalt eine richtige Konsequenz aus der aktuellen Situation ist oder damit eher altgehegten Aufwuchssehnsüchten entsprochen wird. Schon vor dem Amtsantritt als Außenministerin hat Annalena Baerbock für die Fortsetzung der Aufrüstung plädiert.[34] Ein Ausnahmezustand kann auch für eigene Anliegen dienlich gemacht werden, wie das Beispiel Brasilien zeigt, wo der aus dem Ukrainekrieg resultierende Düngemittelengpass als Ausrede für mehr Raubbau im Amazonas benutzt wird mit dem Versuch der gesetzlichen Absicherung. Mit solch schwerwiegenden und unumkehrbaren Langzeitfolgen ist den Menschen in der Ukraine und anderswo in der Welt ganz sicher nicht geholfen.
[1] Vorkehrungen, um einen anstehenden Winter in zerschossenen Gebäuden zu überstehen.
[2] Siehe: WHO records 100th attack on health care in Ukraine - Ukraine | ReliefWeb
[3] Siehe: Ukraine Internal Displacement Report: General Population Survey, Round 2, 1 April 2022 - Ukraine | ReliefWeb
[4] Auf der Basis des humanitären Völkerrechts entwickelte die Rotkreuz- und Rothalbmond Bewegung 1965 sieben Grundsätze: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einigkeit, Universalität. Die Prinzipien Menschlichkeit, Unparteilichkeit und Neutralität wurden 1991 mit der Resolution 46/182 der VN-Generalversammlung als Basis der weltweiten humanitären Hilfe anerkannt. 2003 wurden sie mit der Resolution 58/114 um das Prinzip der Unabhängigkeit erweitert. Siehe: Strategie des Auswärtigen Amts zur humanitären Hilfe im Ausland, S. 15
[5] Die USA stellten bis zum 23. März 169,8 Mio. USD zur Verfügung (36,2 % der bereitgestellten Mittel); die Europäische Kommission folgt mit 80,3 Mio. USD (17,1 % der Mittel); siehe: Ukraine Flash Appeal.
[6] Siehe auch: We must welcome people fleeing Ukraine - www.caritas.eu
[7] Siehe: EU strategy on combatting trafficking in human beings 2021-2025.pdf, p. 1
[8] Siehe auch die Dokumentation „The Last Shelter“ und das Gespräch mit dem Regisseur Ousmane Zoromé Samassékou und Sonja Hövelmann (CHA): https://www.youtube.com/watch?v=hK8FFUok82w. Markus Rudolf vom BICC geht auf das Konzept „forcibly immobilised persons“ ein: https://www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/BICC_Working_Paper_1_2020.pdf
[9] Am 16. März 2022 hat der Rat den Kommissionsvorschlag ohne Änderung angenommen. Das Europäische Parlament hat den Vorschlag in einer Plenarsitzung am 24. März 2022 angenommen. Siehe: Ukraine: Kohäsionsmittel zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht (europa.eu)
[10] Siehe: One Last Climate Warning in New IPCC Report: ‘Now or Never’ - Inside Climate News
[11] Siehe: Funding tracker: Who’s sending aid to Ukraine? | Devex
[12] Siehe: The Ukraine Supplemental Appropriations Act provides $13.6 billion in emergency funding to support the Ukrainian people and defend global democracy in the wake of Russia’s unprovoked attack on Ukraine.
[13] Siehe: Hilfe für die Menschen in der Ukraine: Spenden und Support - taz.de
[14]Deutschland erreichte 2020 und 2021 das Ziel, die Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe mit 0,7 Prozent seines Bruttonationaleinkommens (BNE) zu finanzieren - im Bundeshaushalt 2022 sind drei Milliarden weniger als im Vorjahr eingeplant. Siehe: COVID-19 assistance to developing countries lifts foreign aid in 2021 - OECD - OECD; der Anstieg der vergangenen Jahre in Deutschland hängt auch damit zusammen, dass seit 2016 mehr Leistungen, die mit Ausgaben für Geflüchtete im Inland verbunden sind, als ODA angegeben werden.
[15] Siehe: Border Externalization to West Africa: Three Logics of Border Security Technologies | Oxford Law Faculty
[16]Koalitionsvertrag (bundesregierung.de), S. 153
[17] Siehe: Some governments contemplating raids on aid funds earmarked for other crises to pay for new costs of Ukrainian support - Ukraine | ReliefWeb
[18]The State of Food Security and Nutrition in the World 2021 (fao.org)
[19]FAO Food Price Index | World Food Situation | Food and Agriculture Organization of the United Nations
[20]Humanitäre Lage in der Ukraine - Centre for Humanitarian Action (chaberlin.org)
[21] Siehe: Exportstopp durch Ukraine-Krieg: Wer statt Russland und Ukraine nun Weizen gegen den Hunger exportieren muss - manager magazin (manager-magazin.de)
[22] Treffen durschnittlich 1,6 Zyklone pro Jahr das Land, waren es dieses Jahr bereits drei. Siehe: 20220324_acaps_start_briefing_note_mozambique_cyclone.pdf
[23]https://twitter.com/HSlim_Oxford/status/1502943137433636866
[24]VENRO-Standpunkt: Umsetzung und Überprüfung der Agenda 2030 effektiv und partizipativ gestalten. Hochrangiges Politisches Forum der Vereinten Nationen stärken
[25] Siehe: Andrea Binder, Kai Koddenbrock, András Horváth (2013) Reflections on the inequities of humanitarian assistance. Possible courses of action for Germany
[26] Siehe: The New Humanitarian | Interactive: The European approach to stopping Libya migration
[27] Siehe: European countries must urgently change their migration policies which endanger refugees and migrants crossing the Mediterranean - View (coe.int)
[28] Siehe: Flüchtlingspolitik: EU erwägt, Geld für einen Mauerbau zu geben - Politik - SZ.de (sueddeutsche.de)
[29] Siehe: Migration und Abschottung: "Krise des Flüchtlingssystems wird verschleiert" | tagesschau.de
[30] Siehe: Wie die EU geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern unbürokratisch Schutz gewährt: Die „Massenzustrom-Richtlinie“ – Demokratie und Gesellschaft | IPG Journal (ipg-journal.de)
[31]KRIEG IN DER UKRAINE Wie kann eine angemessene Reaktion auf die humanitäre Katastrophe mitten in Europa aussehen?
[32] Auch Schweden hat sich beispielsweise seit einigen Jahren einem massiven Aufrüstungsprogramm verschrieben. Bis 2025 soll das Militärbudget um 40% steigen.
[33]https://www.dw.com/de/sipri-globaler-r%C3%BCstungsboom-trotz-corona-krise/a-57285378
[34] Siehe: "Damit Gewehre schießen" - GERMAN-FOREIGN-POLICY.com; Indes warnt ein ehemaliger Bundeswehrgeneral, die außen- und militärpolitischen Konzeptionen der Grünen senkten die "Einsatzschwelle" für künftige Militärinterventionen deutlich ab. Zuckerbrot und Peitsche - GERMAN-FOREIGN-POLICY.com