Sabine Barz studierte Geschichte und Islamwissenschaften (M.A.) an der Universität zu Köln und absolvierte ein Weiterbildungsstudium Deutsch als Zweitsprache. Seit 2022 ist sie zivile Arbeitnehmerin im Dezernat Interkulturelle Einsatzberatung am Zentrum Operative Kommunikation der Bundeswehr in Mayen. Im Juni 2023 wurde sie zum Gender Advisor am Nordic Centre for Gender in Military Operations (NCGM) in Schweden ausgebildet. Von Ende Juli 2023 bis Mitte Februar 2024 war sie Gender Advisor in EUMAM UA MN ST-C in Strausberg.
In der Bundeswehr ist ihre Position ein Novum: Seit Sommer 2023 ist Sabine Barz als Gender Advisor (GENAD) in der Mission EUMAM ST-C (European Union Military Assistance Mission Ukraine Special Training Command) tätig. Die von der EU in Deutschland und anderen Ländern durchgeführte Mission dient der militärischen Ausbildung der ukrainischen Soldatinnen und Soldaten. Im Interview mit dem zebis erklärt sie, wie ihre Arbeit aussieht, wie sie auf gängige Vorbehalte reagiert und was sie sich für die Zukunft wünscht.
Frau Barz, wie sind Sie auf Ihren aktuellen Dienstposten gekommen?
Mein eigentlicher Dienstort ist das Dezernat Interkulturelle Einsatzberatung am Zentrum Operative Kommunikation in Mayen, dort wird die Genderperspektive in der Ausbildung mit abgebildet. Im Juni 2023 habe ich den Gender-Advisor-Lehrgang am „Nordic Centre for Gender in Military Operations“ in Schweden besucht. Die Tinte auf dem Zertifikat war noch nicht ganz trocken, als ich gefragt wurde, ob ich nicht in diese Ausbildungsmission gehen möchte – und das war für mich eine berufliche Selbstverständlichkeit. Nun bin ich als Gender Advisor zu EUMAM STC abgeordnet.
Gibt es denn einen typischen Arbeitstag? Und wenn ja, wie sieht der aus?
Den typischen Arbeitstag gibt es für Gender Advisor nicht. Wenn ich morgens in mein Dienstzimmer komme, prüfe ich erst mal die Nachrichten und andere OSINT-Informationen (Open Source Intelligence) über aktuelle Vorfälle in der Ukraine. Außerdem nehme ich jeden Tag an der Morgenlage mit dem Chef des Stabes teil, genauso wie am wöchentlichen „Commander’s Update Briefing“. All diese Informationen und die Meldungen der einzelnen Abteilungen bewerte ich aus der Genderperspektive: Inwiefern kann ich vielleicht einschreiten oder Hinweise geben? Außerdem beschäftige ich mich intensiv mit genderbasierter sexueller Gewalt im Konflikt.
Da EUMAM ST-C eine Inlandsmission ist, kann ich eine Aufgabe des GENADs, die Genderanalyse im Einsatzgebiet zu erstellen, natürlich nicht erfüllen. Auch da bin ich auf die Informationen beispielsweise der UN oder CARE International angewiesen und prüfe, inwieweit die das Mandat betreffen.
Stehen für die ukrainischen Kräfte nicht erst einmal harte Bedarfe wie die Gefechtsausbildung im Vordergrund? Wie sehr müssen Sie für die Genderperspektive oder Gender Mainstreaming als wichtigen Bestandteil von militärischen Missionen überhaupt erst Verständnis schaffen, um beraten zu können?
Aus meiner Sicht gibt es da zwei wichtige Punkte. Erstens, um es klar zu sagen: Ich bin tatsächlich eine Nuance. Es geht hier um das Überleben der ukrainischen Soldatinnen und Soldaten, die sich im scharfen Szenar befinden. Ich muss dabei immer abwägen: Ich habe ja eine Friedensperspektive, möchte keinesfalls belehren und als „alte weiße Frau“ dastehen. Bescheidenheit und ein ethisches Bewusstsein gehören bei meiner Rolle dazu.
Trotzdem kann ich überlegen, inwieweit Informationen aus der Ukraine unsere eigenen Trainees und natürlich auch den Schutz der eigenen Kräfte betreffen. Dazu kann ich in den Austausch mit den entsprechenden Verantwortlichen gehen. Ich überlege dann zum Beispiel: Welche besonderen Herausforderungen gibt es für Soldatinnen in voller Kampfmontur im Schützengraben? Mittlerweile weiß ich aber auch, dass die ukrainischen Streitkräfte da eigene Lösungen gefunden haben.
Weil es eine multinationale Mission ist, muss sie laut UN-Resolution 1325 einen GENAD haben. Die Bundeswehr stellt diesen Posten nun zum ersten Mal selbst. Laut Anweisungen sollen GENADS „Gender Mainstreaming“ gewährleisten. Aber wie gesagt, ich muss einschätzen, was in dieser angespannten Situation realisierbar ist, ohne zusätzliche Belastungen für die Trainees zu erzeugen. Themen, die ich für wichtig erachte, kann zum Beispiel auch der Rechtsdozent einbringen.
Das kling sehr bescheiden. Und der zweite Punkt?
Gleichzeitig ist es notwendig, die Fähigkeit Gender Advisor erst einmal bekannt zu machen. Ein Großteil meiner Arbeit bestehen darin, auch bei jeder Rotation in der Mission, immer wieder neu zu erklären, wer ich bin und welche Anliegen und Aufgaben ich habe. Ich arbeite auf Basis sozial konstruierter Geschlechterrollen, die in Konflikten reaktivierbar sind. Welche Veränderungen haben wir dadurch im Konflikt, welche Gefährdungen resultieren daraus? Beim GENAD geht es nicht ums Geschlecht, sondern um die „awareness“.
Ich versuche, das mal an einem Beispiel zu erläutern: Ein Nachrichtenoffizier im Einsatz vermeldet, im Ort XY sind 20 Männer erschossen worden. Wir zählen ja oft nur die unmittelbaren Opfer; aber ich verstehe daraus: 20 getötete Männer hinterlassen 20 schutzlose Ehefrauen, die keinen Zugang zu Ressourcen haben, zu Nahrungsmitteln, zu Bildung für ihre Kinder. Sie hinterlassen Söhne, die möglicherweise als Kämpfer rekrutiert werden, und Töchter, die sexuell versklavt werden können, um wieder neue Kämpfer zu gebären. Das meine ich mit sicherheitspolitischem Faktor. Mit Blick auf die eigenen Streitkräfte kann ich also zeigen, dass der Gender Advisor ein wichtiges sicherheitspolitisches Hilfsmittel ist. Ein konkretes Faktum: Auch in diesem Krieg fallen Männer, und sie werden teilweise durch Frauen ersetzt. Das müssen wir berücksichtigen, etwa indem wir mehr Kleidergrößen für Frauen zur Verfügung stellen.
Von Mitte Februar bis Mai werde ich übrigens durch einen männlichen Soldaten abgelöst. Ich finde das vorteilhaft, weil dadurch eine weitere Perspektive eingebracht wird.
Welche Genderaspekte halten Sie derzeit in der Ukraine für besonders wichtig?
Sozial konstruierte Rollenbilder werden in jedem Konflikt verschärft. Russland nutzt das bewusst für seine Propaganda, in Narrativen vom „Gayropa“, in dem sich alles wild durchmischt, während Russland als reines, unverbrauchtes Land dargestellt wird, wo Frauen noch Frauen und Männer Männer sind. In St. Petersburg gibt es an der Straße Plakate, auf denen zu lesen ist: „Das Beste, was du als Mann werden kannst, ist Soldat“. Gegenüber hängt ein Plakat mit einer bildhübschen jungen Frau, die die Hände gefaltet hat und das Haupt andächtig zum Himmel hebt – und daneben steht sinngemäß „Kinder, Küche, Kirche“.
Auffällig ist ebenfalls der Rückgang von Fertilität aufgrund von Kriegsgeschehen, Angst und Traumatisierungen.[1] Traumatisierung ist ein wesentlicher Punkt. Wir wissen aus der eigenen Geschichte, wie zersetzend sie in Gesellschaften wirkt. Auch bei sexueller Gewalt geht es nicht um Lust, sondern sie stellt einen zentralen Angriff auf die Fertilität, auf die Nation dar. Sexuelle Gewalt wirkt im Übrigen durch Scham, man spricht nicht darüber. Dass gerade nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 viel über sexuelle Gewalt berichtet wurde, das ist für mich vor diesem Hintergrund eine positive Entwicklung. Wir lassen das nicht mehr in der „Schmuddelschublade“.
Trotzdem, sind schambesetzte Themen aufgrund vieler kultureller Besonderheiten nicht auch in der Bundeswehr immer noch ein Tabu?
Ich hatte anfangs selbst aufgrund meiner Erziehung Schwierigkeiten, über manche Themen zu sprechen. Aber es hilft nichts, Frauen sind Menschen, sie gehören zur Gesellschaft und in wichtige Entscheidungsprozesse. Wir sind laut UN-Sicherheitsratsresolution 1325 verpflichtet, sie in die Streitkräfte zu integrieren, und dann muss ich auch über Dinge wie Menstruationstassen reden. Als ich bei meiner militärischen Ausbildung in Hammelburg in voller Montur im Gelände war, habe ich mir am ersten Tag den Toilettengang verkniffen. Später sagte mir ein Offizier, dass das auch für manche Soldatinnen ein Problem ist. Sie verzichten auf Trinken und gefährden damit ihre Gesundheit. Das zeigt mir: Man muss ganz offen drüber sprechen, dann erfährt man auch etwas und kann idealweise Änderungen herbeiführen.
Wie sehr haben Sie noch mit Vorbehalten oder Ressentiments zu tun?
Ich stoße zum Teil noch auf massive Ablehnung. Gender ist einfach ein „Triggerwort“, da denken viele an Spracherziehung und das Sternchen. Ich sage dann immer: Es ist mir nicht wichtig, wie Sie Ihre Sprache anpassen – sofern Sie verstanden haben, dass wir absolute Gleichberechtigung und eine „Zero-Tolerance-Policy“ haben. Und dass Frauen in der Bundeswehr eine ganz wichtige Rolle spielen und wir sie brauchen, weil sie ganz andere Erschließungsräume haben. Als Frau darf ich in manchen Gesellschaften beispielsweise dahin, wo Männer nicht hindürfen, das bedeutet einen Informationsgewinn. Also: mein Ziel ist es nicht, Frauen vor bösen Männern zu retten – ich will dazu beitragen, Frieden zu schaffen und zu sichern.
Aber ich will auch nicht falsch verstanden werden und zu schulmeisterlich auftreten. Ich bezeichne mich manchmal scherzhaft als „Suffragette der Genderperspektive“, um dem Thema den Ernst zu nehmen. Die Welt ist ernst genug! (Anm. d. Red.: „Suffragetten“ ist eine Bezeichnung für die militanten Frauenwahlrechtsaktivistinnen in Großbritannien Anfang des 20. Jahrhunderts.)
Wenn Ihr Dienstposten so neu ist in der Bundeswehr, wie sind Sie denn vernetzt?
Mein Netzwerk befindet sich noch im Aufbau, aber ich arbeite daran. Zum Zentrum Innere Führung und anderen hilfreichen Stellen habe ich bereits eine Standleitung. Ich bin auf Informationen und Austausch angewiesen, mit Experten für Traumatisierung ebenso wie mit dem Legal Advisor. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass jeder, dem ich etwas über das Thema erzählt habe, mir im Anschluss Informationen zugeschickt hat, beispielsweise Zeitungsartikel. Je mehr diese Fähigkeit verbreitet wird, umso besser wird auch der Informationsfluss innerhalb der Bundeswehr. Alle, Soldatinnen und Soldaten genauso wie Zivilangestellte, sollten über die Genderperspektive zumindest Bescheid wissen.
Die beste Unterstützung bekomme ich momentan noch über das internationale Netzwerk. Zum Beispiel aus den Niederlanden und den skandinavischen Ländern, die da Vorreiter sind. Im Vergleich dazu stecken wir noch in den Kinderschuhen.
Haben Sie eine Idee, woran das liegen könnte?
Ich kann nur spekulieren. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass wir uns dabei mit unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen müssen. Wir kennen massive sexuelle Gewalt auch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Es ist sehr unbequem, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Es bindet natürlich auch zusätzliche Kapazitäten.
Wie kann die Militärseelsorge Ihrer Meinung nach eine Rolle für Ihre Arbeit spielen?
Traumatisierung ist eines der Themen, die mir sehr am Herzen liegen. Bei Flucht und Konflikten steigt bekanntermaßen das Bedürfnis nach psychologischer oder spiritueller Hilfe, und da kann die Militärseelsorge sehr wichtige Angebote machen – auch mit Bezug auf sozial konstruierte Rollenbilder wie Männer als heldenhafter Kämpfer, Frauen als potenzielle Opfer. Zum Heldentum gehört schließlich auch, Menschlichkeit zu bewahren und den Kameraden anzubieten, sich auszutauschen. Das sind zum Beispiel Anregungen, die ich geben kann.
Wie viele Frauen sind eigentlich in den ukrainischen Streitkräften?
Wir haben keine genauen Zahlen. Laut OSINT-Quellen sind es wohl rund 60.000 Frauen. Hier in der Ausbildung haben wir sehr wenige, aber es bleibt zu beobachten, wie sich das verändern wird. Das hängt damit zusammen, dass Männer wehrpflichtig sind, während sich Frauen freiwillig melden können. Da sehen wir die meisten wieder in klassischen Bereichen wie der Sanität oder als Sprachmittlerinnen. Es gibt aber auch Frauen, die sich freiwillig zum Militärdienst melden, die sagen: „Ich will meine Heimat verteidigen, ich will meinen Beitrag als Mensch dazu leisten.“
Was wünschen Sie den Menschen in der Ukraine?
Den Ukrainerinnen und Ukrainern – und uns allen – wünsche ich erst mal Frieden, also Selbstbestimmung in einer eigenständigen Nation im Frieden. Keinen Frieden um jeden Preis. Ich wünsche ihnen eine Entwicklung nach ihren eigenen Notwendigkeiten und Erkenntnissen. Sie sollen ihre eigenen Fehler machen dürfen. Auch wir hier in Deutschland haben in unserer Geschichte Fehler gemacht, die wir heute anders reflektieren. Ich wünsche ihnen, dass sie Wege finden, die erlittenen Traumata, die ja über Generationen hinweg gehen, nicht in Schweigen zu ersticken. Vielleicht ein frommer Wunsch …
… jedenfalls ein wichtiger …
Eine Ukrainerin erzählte mir mal: In den 1990ern – als in Deutschland noch Wiedervereinigungseuphorie herrschte – haben in der Ukraine Staatsfindungsprozesse stattgefunden; das waren dort eigentlich die wildesten Jahre. Ihr Vater sage immer: „Wir schlittern von einem Konflikt in den anderen, und jetzt haben wir halt Krieg.“ Da gibt es gar nicht diesen „Zeitenwende“-Effekt. Wir müssen irgendwann mal einsehen: Die Welt ist nicht so friedlich, wie wir sie uns wünschen würden. Auch hier sehe ich die Militärseelsorge als Ort, um Demut und Bescheidenheit zu entwickeln und trotz aller Konflikte Momente der Dankbarkeit zu erleben und unsere eigene Komfortzone noch einmal neu zu bewerten.
Wenn wir in Richtung Frieden denken, wird die Ukraine ihre eigenen Lösungen finden müssen. Andererseits möchte die Agenda „Women, Peace and Security“ Frauen als starke Kraft in Friedensprozessen fördern. Wie kann man darauf einwirken, ohne zu bevormunden?
Die Ukraine wird erst mal ganz andere Probleme haben, aber ich würde mir wünschen, dass wir begleiten und unterstützen können, vielleicht in Form einer „Task Force“ auf EU-Ebene, mit „lessons learned“ aus der eigenen Geschichte, aus Ruanda und den Jugoslawien-Zerfallsprozessen, aus dem Zweiten Weltkrieg, wo wir die Massenvergewaltigungen aus Scham totgeschwiegen haben. Ich würde der Ukraine auch eine Art Marshallplan wünschen, mit einer WPS-Beratungsfunktion zur Unterstützung von Frauen und zivilen Netzwerken. Nach dem Motto: Macht euer eigenes Ding draus, aber lasst uns drüber sprechen – wir haben die Zeit, den Raum, den Frieden.
Frau Barz, herzlichen Dank für das Gespräch.
Das Interview wurde von mehreren zebis-Mitarbeitenden am 18.1.2024 geführt und redaktionell bearbeitet.
Weitere Beiträge zum Thema finden Sie auch in der Ausgabe 1/2022 von „Ethik und Militär“:
„Women, Peace and Security – Der lange Weg zur Geschlechtergerechtigkeit“.
Äußerst lesenswert zum Thema sexualisierte Gewalt in Konflikten ist das Buch von Christina Lamb:
Unsere Körper sind euer Schlachtfeld, 2021.
Eine weitere Buchempfehlung zur Genderperspektive im Ukraine-Konflikt:
Sofi Oksanen, Putins Krieg gegen die Frauen, 2024
[1] Vgl.: CARE International: Rapid Gender Analysis UKR 2023, S. 17 ff.