Hamburg - 02.08.2022

Gedanken zum Ukrainekonflikt

Oberst a.D. Wolfgang Richter

Oberst a. D. Wolfgang Richter ist Mitglied der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Bis 2009 war er Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der OSZE in Wien, zuvor unter anderem Abteilungsleiter (globale und europäische Rüstungskontrolle) im Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr. Voraus gingen Verwendungen als Fallschirmjägeroffizier und im Generalstabsdienst, unter anderem im Bundesministerium der Verteidigung und beim NATO-Hauptquartier SHAPE in Mons (Belgien).

Mit dem Angriff am 24. Februar 2022 auf die Ukraine hat Moskau das Völkerrecht gebrochen. Der Westen hat die strategische Partnerschaft mit Russland beendet, unterstützt die Ukraine finanziell und mit Waffen und versucht, Russland international zu isolieren und wirtschaftlich zu ruinieren. Die NATO hat Russland zur Hauptbedrohung erklärt und damit begonnen, die Abwehrfähigkeit an der Ostflanke signifikant zu stärken.

Die ukrainische Armee war anfangs den russischen Angreifern an Personalstärke überlegen, konnte hohe Umfänge an Kampffahrzeugen und Artillerie einsetzen, und bewies Standhaftigkeit und taktisches Geschick. Nach fünf Monaten Krieg und hohen Verlusten sind beide Seiten zu großräumigen Bewegungsoperationen kaum noch in der Lage. Doch nutzen russische Verbände im Donbass ihre lokale Artillerieüberlegenheit, um sich langsam voranzubohren. Russland kann allerdings noch große personelle und materielle Reserven mobilisieren.

Gleichwohl hat Kiew Gegenoffensiven angekündigt, um verlorene Gebiete wiederzuerobern. Sie richten sich zunächst auf den Raum Cherson westlich des Dnjepr. Doch ohne westliche Waffenlieferungen können die Ukrainer dem russischen Angriff nicht dauerhaft standhalten. Dazu ist der Westen derzeit bereit, aber kein westlicher Staat will die Schwelle überschreiten, die ihn selbst zur Kriegspartei machen würde. Ein militärischer Konflikt mit der Atommacht Russland muss vermieden werden. Aus westlicher Sicht wäre dies aber erst die Folge eines direkten militärischen Eingreifens mit eigenen Truppen. Somit dürfte eine Materialschlacht bevorstehen, in der westliche Materiallieferungen die Mobilisierungsrate Russlands kompensieren sollen.

 

Zweifelhafte Annahmen, hohe Risiken

Die wechselhaften Äußerungen zu Kriegszielen und Strategien beider Seiten gründen auf zweifelhaften Annahmen und sind mit hohen Risiken verbunden. Eine Exitstrategie unterhalb der Maximalforderung eines „Siegfriedens“ ist auf beiden Seiten nicht erkennbar.   

(1) Der Kreml hat zu Kriegsbeginn den nationalen Widerstandswillen der ukrainischen Armee und Mehrheitsbevölkerung unterschätzt. Offenbar glaubte er, dass sie wie 2014 nicht kämpfen wolle und Teile überlaufen würden. Damals trugen Freiwilligenverbände die Last der Verteidigung, die Moskau als „faschistisch“ brandmarkte. Seither standen sie den ca. 35.000 Milizen der „Volks­republiken“ gegenüber, die aus Moskauer Sicht die russlandaffine Ost- und Südukraine repräsentieren. Die Fehleinschätzung des Kreml führte zu gravierenden militärischen Fehlern. Der Versuch, Kiew im Handstreich zu nehmen, scheiterte unter hohen Verlusten.

(2) Im Westen und in Kiew hat der ukrainische Anfangserfolg euphorische Erwartungen geweckt, die Ukraine könne den Krieg „gewinnen“. Waren die Kriegsziele zunächst darauf gerichtet, den russischen Angriff zu stoppen, so wurden nun Maximalziele formuliert. Sie reichten von der Rückeroberung des gesamten Donbass und der Krim bis hin zur völligen Ruinierung der russischen Armee und Wirtschaft. Aus dem Blick geriet dabei, dass die Russen im Süden entlang der Küsten des Asowschen und Schwarzen Meeres scheinbar mühelos einen weiten Korridor vom Donbass über Melitopol bis nach Cherson westlich des Dnjepr besetzen konnten. Als sie begannen, ihre Artillerie kleinräumig zu konzentrieren und sich mit hoher Feuerkraft schrittweise vorzuarbeiten, mussten die Ukrainer auch im Donbass zurückweichen.

Nun setzen Kiew und der Westen auf die Wirkung moderner westlicher Artillerie und Mehrfachraketenwerfer. Zweifellos verbessern sie die militärischen Fähigkeiten der ukrainischen Armee erheblich; doch schließen sie nur zu ähnlichen russischen Systemen auf, bleiben aber quantitativ unterlegen. Sie können nicht flächendeckend an der langen Frontlinie eingesetzt werden, um die russische Versorgung und Führung in der Tiefe zu stören. Zudem sind sie nicht unverwundbar. Vor allem werden die Gefechte nicht allein durch die Feuerkraft einzelner Systeme entschieden, sondern durch die geschickte Abstimmung aller Kräfte und Mittel im Verbund, um Räume zu nehmen.

(3) Dem Westen ist es nicht gelungen, Russland international zu isolieren und wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Die ideologische Überhöhung des russischen Angriffskrieges als „Konflikt zwischen Demokratien und Autokratien“ verfängt im globalen Süden nicht. Er will im neuen „Ost-West-Konflikt“ nicht Partei ergreifen für die ehemaligen Kolonialmächte des „Nordens“, dessen Wirtschaftsinteressen oft quer zu den eigenen liegen. Eine globale Blockspaltung würde nicht nur den Welthandel schädigen, sondern auch das multilaterale System der Vereinten Nationen, die Basis der „regelbasierten Weltordnung“. Angesichts früherer völkerrechtswidriger Interventionskriege westlicher Mächte erscheint zudem das moralische Pathos eines Schicksalskampfes zwischen „Gut und Böse“ als wenig überzeugend. Dass der Westen andere autoritär geführte Staaten als „strategische Partner“ verortet, verdeutlicht, dass es sich vor allem um einen geopolitischen Großmachtkonflikt handelt.

(4) Zwar sind die russischen aktiven Landstreitkräfte derzeit strategisch überdehnt, da sie Truppenteile aus anderen strategisch wichtigen Regionen heranziehen mussten, um die hohen Verluste in der Ukraine zu kompensieren. Doch haben sie bisher nicht auf die umfangreichen Personal- und Materialreserven zurückgegriffen, die ihnen nach einer Mobilmachung zur Verfügung stünden. Erste Schritte dazu hat Moskau jüngst eingeleitet.

Im Westen sind Materialreserven ein knappes Gut. Sie müssen entweder den aktiven Beständen der Streitkräfte entzogen oder aus älteren Depotbeständen und der Neuproduktion der Industrien generiert werden. Die werden in Europa jedoch gebraucht, um die Ausstattungslücken der Armeen zu füllen und sie zur Verstärkung der Bündnisverteidigung zu befähigen. Hinzukommt die wachsende Energieverknappung, mit der Russland auf die westliche Sanktionspolitik reagiert. Sie droht, die Wirtschaft und den sozialen Frieden in Europa zu schädigen.

Die Hauptlast der Waffenlieferungen wird weiter auf den USA ruhen. Indes bleibt offen, wie lange die politische Entschlossenheit Washingtons anhält. Das Land ist politisch polarisiert, schon die Kongresswahlen im Herbst könnten die Lage verändern, und 2024 könnte erneut ein Republikaner zum Präsident gewählt werden. Die hohen finanziellen Aufwendungen für die Ukraine dürften an Popularität verlieren, zumal sich die USA auf China als strategischen Hauptrivalen konzentrieren wollen.

 

Wechselnde Kriegsziele

Trotz dieser Unwägbarkeiten kann auch im sechsten Kriegsmonat die Frage nicht klar beantwortet werden, welche Kriegsziele Russland, die Ukraine und westliche Staaten verfolgen, die gleichzeitig beteuern, nicht Kriegspartei zu sein. Damit bleibt auch unklar, unter welchen Bedingungen der Krieg beendet werden könnte.

Den Vertragsentwürfen vom Dezember 2021 zufolge will Moskau verhindern, dass sich die NATO erneut nach Osten erweitert. Auf den Beitritt der Ukraine (und Georgiens) soll sie verzichten. Dies hatte der Bukarester Gipfel von 2008 in Aussicht gestellt. De facto bestand allerdings ein Moratorium, da Berlin, Paris und andere Hauptstädte Westeuropas einen Beitrittsplan abgelehnt hatten. Obwohl diese Positionen seither unverändert blieben, reagierte Moskau auf die prowestliche Maidan-Revolution in Kiew 2014 mit der Annexion der Krim, um die Schwarzmeerflotte zu sichern, und begann, ukrainische Anti-Maidankräfte im Donbass zu unterstützen. Auch 2021 glaubte Moskau offenbar, dass die westlichen Waffen- und Ausbildungshilfen auf eine informelle militärische Integration Kiews mit den USA abzielten. Die geographische Nähe des US-Militärs erlaube es Washington, das bilaterale strategische Gleichgewicht zu unterlaufen („Kuba-Moment“).

Um dies zu verhindern, forderte Moskau im Dezember 2021, die NATO solle die Vornestationierung zurücknehmen und die militärische Zurückhaltung umsetzen, die in der NATO-Russland Grundakte von 1997 vereinbart worden war, um den Bündnisbeitritt Polens, Tschechiens und Ungarns abzufedern. Dort hatten die damals 16 NATO-Staaten Moskau zugesichert, einen gemeinsamen OSZE-Sicherheitsraum zu schaffen und die konventionelle Rüstungskontrolle anzupassen, um subregionale Truppenkonzentrationen zu verhindern. Allerdings hat Präsident George W. Bush ab 2001 verhindert, dass die Vereinbarung umgesetzt wurde. Seither traten weitere Staaten der NATO bei, die – wie die Baltischen Staaten – keinen rechtsverbindlichen Stationierungsbeschränkungen unterliegen.

Seit Präsident Putin im Sommer 2021 die nationale Identität der Ukraine in Zweifel zog und deren Osten und Süden als historisch russisches Territorium reklamierte, hat er den Spekulationen über die russischen Kriegsziele eine neue Dimension hinzugefügt. Außerdem wird in Moskau auch vom Schutz der prorussischen Bevölkerung im Donbas und im Süden der Ukraine gesprochen. Während die „klassischen“ Sicherheitsziele Moskaus gegenüber der NATO prinzipiell Verhandlungsstoff für Rüstungskontrollregelungen bieten, widersprechen revisionistische Territorialansprüche dem Völkerrecht. Unakzeptabel sind auch die ideologischen Ziele einer „Entnazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine, die für ein heimisches Publikum Assoziationen mit dem Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ wecken sollen.

Auch die Kriegsziele der ukrainischen Führung haben sich geändert. Ende März hatte Präsident Selenskyj vier Punkte vorgeschlagen:
(1) Den Verzicht der Ukraine auf den NATO-Beitritt
(2) Die Verschiebung von Verhandlungen über den Status der Krim um 15 Jahre
(3) Die direkte Verhandlung zwischen den Präsidenten Russlands und der Ukraine über einen Sonderstatus des Donbass
(4) Sicherheitsgarantien für die Ukraine

Nach dem militärischen Erfolg vor Kiew und im Vertrauen auf massivere Waffenlieferungen des Westens hat die ukrainische Führung jedoch die vollständige Wiedergewinnung der Krim und des gesamten Donbass angekündigt.

Auch in westlichen Staaten werden Kriegsziele erörtert, obwohl man betont, nicht Kriegspartei zu sein. Sie reichen von der Wahrung der ukrainischen Souveränität und Eigenständigkeit über die Rückgewinnung der Linien vom 23. Februar bis zur vollständigen Wiederherstellung des territorialen Besitzstandes von 2013. Der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sprach sogar davon, die russischen Streitkräfte auf Jahre hinaus völlig zu ruinieren. Selbst ein unmittelbares militärisches Eingreifen in den Konflikt, etwa durch die Einrichtung einer „Flugverbotszone“, wurde in westlichen Fachkreisen ernsthaft debattiert.

Solche Forderungen gefährden die Sicherheit Europas. Sie ignorieren, dass Moskau nicht nur durch eine umfangreiche Mobilmachung, sondern auch durch den Rückgriff auf nukleare Optionen eskalieren kann, wenn es vitale staatliche Sicherheitsinteressen bedroht sieht. Der Westen kann sich daher nicht damit begnügen, lediglich Waffen zu liefern und es Kiew zu überlassen, welche Kriegsziele damit verfolgt werden und unter welchen Bedingungen es zum Waffenstillstand bereit ist. Das mag zwar für territoriale Zugeständnisse zutreffen, aber nicht für Fragen, die die Sicherheit der Partner betreffen. Auch die USA liefern nicht bedingungslos, sondern verlangen, dass Kiew weitreichende Waffen nicht für grenzüberschreitende Angriffe einsetzt. Ob die Ukraine der NATO beitritt oder nicht, wird nicht in Kiew entschieden, sondern im Konsens der NATO-Mitgliedstaaten.

 

Sicherheitsdialog

Welche Waffenstillstandsbedingungen für die Konfliktparteien letztlich akzeptabel sein werden, kann nicht durch einseitige Vermutungen, sondern nur im Dialog zwischen den direkt und mittelbar involvierten Konfliktparteien geklärt werden. Ein Kapitulationsfrieden kommt für Kiew ebenso wenig in Frage wie für Moskau ein völliger Rückzug aus dem Donbass und der Krim, die es als russisches Staatsgebiet betrachtet. Ein Festhalten am Siegfrieden bedeutet aber eine unabsehbare Kriegsverlängerung, obwohl es keineswegs gesichert ist, dass der Westen langfristig mehr militärische Ressourcen bereitstellen kann als Russland.

Gewiss ist nur: Je länger der Krieg dauert, desto mehr Opfer werden auf beiden Seiten zu beklagen sein, und desto höher wird die Gefahr einer weiteren Eskalation. Friedenslösungen, die auf Kompromissen und nicht auf Kapitulation beruhen, sind nur unterhalb der Maximalforderungen beider Seiten erreichbar. Wahrscheinlich werden sie sich um die vier Punkte ranken müssen, die Präsident Selenskyj im März vorgeschlagen hat.

Gewiss ist auch, dass die künftige Sicherheitsordnung Europas konfrontativ sein wird. Die Restrukturierung der NATO-Vorneverteidigung wird nicht nur mehr militärischen Schutz für die Verbündeten bieten, sondern auch höhere militärische Risiken zur Folge haben. In einem eisernen Gürtel zwischen dem Nordkap und dem Schwarzen Meer werden acht ständig präsente Kampfgruppen zu Brigaden aufwachsen; die rasch verfügbaren Verstärkungskräfte werden von bisher 40.000 auf 300.000 erweitert werden; zusätzliche Luft- und Seestreitkräfte, Logistik und Kommandostrukturen werden die Truppendichte an der NATO-Ostflanke erheblich erhöhen. Mit dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens wird sich die Bündnisgrenze gegenüber Russland um 1340 km verdoppeln. Darauf wird Russland voraussichtlich ebenfalls mit der Stationierung zusätzlicher Truppen, Kampfflugzeugen und taktischen Raketen reagieren. Die Patrouillentätigkeit in und über den Randmeeren dürfte signifikant zunehmen.

Die neue militärische Lage birgt die Gefahr von Zwischenfällen, die eskalieren können, wenn sie missverstanden und nicht geregelt werden. Darum gilt es, die ständige Kommunikation zwischen den Hauptquartieren zu verbessern und Regeln zu vereinbaren, wie die Konfrontation gemeistert werden soll. Auch dies wird nur im Dialog geschehen können, gleichgültig welche politische Führung in Moskau herrscht.