Hamburg - 03.05.2019

Erinnerung im Dienst einer Ethik des Widerstands

Gedanken zur Veranstaltung „Weiße Rose. Ethik des Widerstands – gestern und heute“ am 15.7.2019 in München
von Markus Vogt

Warum und wie sollen wir der Weißen Rose gedenken? Die Dokumentation hierzu an der LMU heißt „DenkStätte“: Sie will nicht nur dem historischen Geschehen ein Andenken bewahren, sondern zum Denken anregen, zum Nachdenken darüber, wie wir uns heute in der stets neu geforderten Verteidigung von Freiheit und Gerechtigkeit verhalten. Sollen die Mitglieder der Weißen Rose nicht umsonst gestorben sein, wie Thomas Mann in einer Radioansprache 1943 sagte, dann ist ihre Hinrichtung Auftrag zu einer Ethik des Widerstands.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die damalige Situation unter einer totalitären Herrschaft, in der Widerstand den todesmutigen Einsatz des eigenen Lebens forderte, nicht mit der heutigen Situation in Deutschland als einem liberalen Rechtsstaat gleichzusetzen ist. Erinnerung denken heißt auch die unterschiedlichen Kontexte und Dimensionen im Blick behalten. Unter dieser Prämisse lassen sich jedoch auch heute zahlreiche Situation entdecken, in denen es darauf ankommt, widerständig und mutig zu sein, statt angepasst mitzuschwimmen und sich wegzuducken. Zivilcourage ist die kleine Münze des Widerstands. Ohne diese wird es auch im Großen keinen Widerstand gegen die je unterschiedlichen Formen von Intoleranz, Ausgrenzung und Ideologie geben. Kritische Zeitgenossenschaft, aufrichtiges Menschsein und Zivilcourage einzuüben ist eine fundamentale Bildungsaufgabe – so die Leitthese der Ringvorlesung „Bildung zum Widerstand“, deren Abschluss und Höhepunkt die Veranstaltung „Weiße Rose. Ethik des Widerstands – gestern und heute“ war. 

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ sagt der Talmud. Dem hebräischen Konzept von Erinnern (zakar) eignet eine ursprüngliche Kraft, die die verschiedenen christlichen und säkularen Traditionen des Erinnerns bereichern kann: Erinnern ist demnach darauf ausgerichtet, möglichst genau zu verstehen, wodurch sich Schicksale entscheiden, wie Konflikte, Unglück und „Exil“ entstehen. Nur wer sich erinnert, ist fähig zu lernen und sich aus den oft lange nachwirkenden Verstrickungen zu befreien. Vor diesem Hintergrund sollten wir die Mitglieder der Weißen Rose in der Erinnerungskultur nicht einfach auf einen Sockel heben, sodass sie weit von uns entfernt sind, sondern sie in ihren spezifischen Handlungskontexten und Suchprozessen zu verstehen suchen. Nur dann werden sie zu Figuren, die auch für uns anschlussfähige Vorbilder sein können. In der katholischen Tradition der Selig- und Heiligsprechung werden die Geehrten nicht selten zu zeitenthobenen Idealgestalten, sodass die Verbindung zu Konflikterfahrungen des eigenen Alltags kaum anschaulich wird. Vielleicht könnte die Weiße Rose Anstoß sein, dass sich die verschiedenen Kulturen des Erinnerns wechselseitig bereichern. Die Tatsache, dass ihre Mitglieder den drei großen christlichen Konfessionen angehörten, ist Chance und Auftrag für eine ökumenische Erinnerungskultur. 

Die Stärkung einer Tradition des Erinnerns als Auseinandersetzung mit den Licht- und Schattenseiten der eigenen Geschichte ist auch eine grundlegende Aufgabe des Militärs in Deutschland. Die Tatsache, dass wir in Deutschland keine ungebrochene Militärgeschichte haben und die deutsche Bundeswehr in einem spannungsreichen Verhältnis zur Wehrmacht steht, ist Auftrag für eine Erinnerungskultur ganz eigener Art. Die besondere Distanz zu heroischem Nationalismus ermöglicht eine erhöhte Sensibilität gegenüber den Ambivalenzen der Macht, der Gewalt und der Siegermentalität. Dies kann heute in vielschichtigen Konflikten etwa in Afghanistan enorm hilfreich sein, insofern hier eine entscheidende Erfahrung gerade darin liegt, dass militärische Stärke allein keineswegs hinreichend ist, um dauerhaft Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Aus der Sicht des christlichen Glaubens und des Paradigmas „Gerechter Friede“ scheint es notwendig, verstärkt Kompetenzen des Widerstands gegen ideologische Aufrüstungen aller Art zu integrieren und auch zivilgesellschaftlich zu schulen. Für Denk- und Bildungsprozesse in diesem Feld sind kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte und das Erinnern des Widerstands unverzichtbar. Solche Ansätze können als ethische Bildung in den Streitkräften das Profil des deutschen Militärs maßgeblich befruchten. 

Ethik des Widerstands ist ein anspruchsvolles Konzept. Der Widerstand wird erst dann zu einer Tugend, wenn er nicht einfach ein Mangel an Loyalität, Eidtreue und Gehorsam ist, sondern aus der Tiefe einer Gewissensentscheidung kommt. Widerstand und Loyalität sind komplementär als sich wechselseitig ergänzende Gegenpole zu denken, die beide ihre Berechtigung und Notwendigkeit haben. Erst im situationsspezifischen Ringen darum, welcher Aspekt jeweils Priorität hat, gewinnen sie ihre ethische Qualität.

Die Inanspruchnahme der Weißen Rose für eine pauschale Kritik des vermeintlich verantwortungslosen Systems des gegenwärtigen Staates vonseiten der AfD (Ortsverband Schwerin im September 2018), deren Vertreter bei Demonstrationen das Symbol der Weißen Rose trugen und aus deren Flugblättern zitierten, ist ein schwerer Missbrauch. Widerstand wird erst dann ethisch qualifiziert, wenn er durch die Verteidigung der Menschenrechte motiviert ist. Dies war bei den Geschwistern Scholl in sehr eindrucksvoller Weise in ihrem intensiven Ringen um die rechte Haltung zum Nationalsozialismus der Fall. Die europäische Dimension prägte ihr Denken: „Nur in großzügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich ist“ (fünftes Flugblatt). Nur die Erinnerung an seine Friedensfunktion kann dem Europagedanken heute neue Vitalität verleihen.

Auch der christliche Glaube spielte für die Weiße Rose eine wesentliche Rolle, nicht als fertige Antwort, sondern als Ort der Gewissensbildung und der Suche nach Orientierung und Unterscheidung. So sind die Geschwister Scholl beispielsweise in die Münchner Benediktinerabtei Sankt Bonifaz gegangen und haben sich vom dortigen Bibliothekar die moraltheologischen Erörterungen zur Bewertung des Tyrannenmordes zeigen lassen. Sie haben sich in Gesprächskreisen mit führenden Intellektuellen der Zeit auseinandergesetzt (insbesondere im Haus von Karl Muth, dem Gründer der katholischen Kulturzeitschrift Hochland), wobei christlich geprägte Literatur (zum Beispiel Augustinus, Kierkegaard, Pascal, Newman, Guardini) eine zentrale Rolle spielte. Es geht nicht darum, sich mit der Erinnerung an die Weiße Rose zu schmücken, um sich kirchlicherseits als Teil des besseren Deutschlands zu fühlen, sondern darum, zu verstehen, welche Motive, Beziehungen und Denkwelten Quelle des Widerstands waren. Für die Weiße Rose stand fest: „Wohl ist der Mensch frei, aber er ist wehrlos wider das Böse ohne den wahren Gott, er ist wie ein Schiffer ohne Ruder, dem Sturme preisgegeben“ (viertes Flugblatt).

Die entscheidende Antwort auf das moralische Versagen im Nationalsozialismus hat das deutsche Grundgesetz 1949 formuliert. „Die Mütter und Väter des Grundgesetzes trugen – wenn man so will – dem letzten Willen Wilhelm Grafs Rechnung: weiterzutragen, was die Weiße Rose begonnen hatte. Die unverletzliche Würde des Menschen als Grundlage einer neuen Rechtsordnung. Auf dieser Grundlage basiert unser Staat. Er bekennt sich in Art 1 des Grundgesetzes zur unverletzlichen Würde des Menschen. Nicht die Volksgemeinschaft, sondern das Individuum ist der Referenzrahmen“ (Heribert Prantl). Weil die Geschichte ein ständiger Verstoß gegen die eigenen Werte ist, sind wir unablässig aufgefordert, unser Handeln zu hinterfragen. „Jede Generation muss sich immer wieder neu darüber verständigen, wie die Wertordnung des Grundgesetzes mit Leben gefüllt werden kann“ (Wolfgang Schäuble). Wer kann von sich sagen, dass er nicht häufig bloß Mitläufer ist und schweigt, wenn Unrecht geschieht? Jahrzehnte haben wir in der katholischen Kirche weggeschaut angesichts des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen, der weltweit geschah und geschieht. Es geht auch darum, das Versagen in Einzelfällen als systemisches Problem zu begreifen. Das gilt für viele Bereiche und stellt neue, komplexe Fragen der Definition von Verantwortung und der Organisation von Rechenschaftspflichten.

Eine zentrale Herausforderung des moralischen Versagens der gegenwärtigen Generation ist der Klimaschutz: Die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln ist hier unübersehbar. Wir alle sind Teil einer Lebens- und Wirtschaftsform, von der wir wissen, dass sie Lebenschancen von Millionen von Menschen massiv beeinträchtigt – heute und in noch viel größeren Umfang in der Zukunft. Die Begründung „aus Liebe zu kommenden Generationen“ (viertes Flugblatt der Weißen Rose) gilt auch hier. Es sind in der Gegenwart erstaunlicherweise junge Frauen (wie Sophie Scholl), die zu Symbolfiguren des Widerstands geworden sind: Greta Thunberg angesichts der mangelnden Verantwortung im Klimaschutz, Carola Rackete und Pia Klemp im Widerstand gegen das inhumane Wegsehen, wenn Tausende von Migranten im Mittelmeer ertrinken, weil sich Europa nicht auf eine faire Solidarität im Umgang mit Flüchtlingen einigen kann. Die Zivilcourage dieser jungen Frauen ist bewundernswert. Gleichwohl sollte man die Unterschiede der historischen Kontexte nicht übersehen. Widerstand braucht auch Räume differenzierter ethischer Urteilsbildung.

Die Flugblätter der Weißen Rose bieten prägnante Reflexionen, die zeitübergreifend relevant sind und deren ethischer Gehalt je neu in die Gegenwart zu übersetzen ist. In ihnen stehen Worte, „die vieles gutmachen, was in gewissen unseligen Jahren an deutschen Universitäten gesündigt worden ist“ (Thomas Mann). Zugleich sprechen sie von einem tiefen Versagen der Eliten, denen eine Schlüsselstellung für die Ermöglichung von Verantwortung des Volkes zukomme. Dies hat die Aufführung der Oper „Weiße Rose“ von Udo Zimmermann in der Schlussszene eindringlich hervorgehoben. Die Oper war ein Höhepunkt der Veranstaltung am 15.7., die in Kooperation der Hochschule für Philosophie, der LMU (Lehrstuhl für Christliche Sozialethik), des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften (zebis), der Sanitätsakademie der Bundeswehr, der Weiße Rose Stiftung, der Carl und Anneliese Goerdeler-Stiftung sowie der Stiftung für Kulturelle Erneuerung stattfand. Universitäten sollten nicht nur Exzellenz in der akademischen Selbstdarstellung produzieren, sondern Verantwortungseliten heranbilden, die ihr Wissen in den Dienst der Gesellschaft stellen und ihre besondere Freiheit auch als Raum der Charakterbildung, der Verdichtung des Einzelwissens zu Orientierung und der Einübung von Verantwortung nutzen.