Dr. Karl-Heinz Kamp war Forschungsdirektor am NATO Defense College in Rom, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und zuletzt Politischer Beauftragter im Bundesministerium der Verteidigung.
Nukleare Abschreckung, lange Zeit eher ein strategisches Gedankenspiel für Experten, ist auf einmal sehr real geworden. Zwar haben Atomwaffen und ihr vermeintlicher Nutzen oder Schaden seit jeher die Gemüter in Deutschland erhitzt, allerdings ging es meist um deren schiere Präsenz und Anzahl in den Arsenalen der Supermächte. Ein möglicher Einsatz von Kernwaffen in Europa war zumindest seit Ende des Kalten Krieges ein sehr fernes Szenario – bestenfalls hätte man ihn sich als Panikreaktion Nordkoreas oder als Folge eines indisch-pakistanischen Konflikts vorstellen können.
Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine änderte sich dies schlagartig. Erstmals drohte Wladimir Putin mit dem konkreten Einsatz von Kernwaffen gegen die Unterstützer der Ukraine – eine Warnung, die von der Sowjetunion in dieser Form nicht einmal in den dunkelsten Stunden des Ost-West-Konflikts vorgebracht wurde. Damit war auch Deutschland vor das Problem gestellt, wie man die eigenen Werte verteidigen und der grundlos angegriffenen Ukraine beistehen kann, ohne einen Einsatz von Kernwaffen womöglich gegen das eigene Territorium zu riskieren.
So plötzlich mit solchen Fragen konfrontiert zu sein, führte zu einem kollektiven deutschen Erwachen aus den lang gehegten Wunschträumen, dass sicherheitspolitische Risiken primär durch enge Kooperation und durch diplomatischen Interessenausgleich minimiert werden können. Auch die Illusion von der zumindest in Europa immer friedfertiger werdenden Welt, die immer weitreichendere nukleare Abrüstung erlauben werde, ist endgültig zerplatzt. An die nuklearwaffenfreie Welt, die von Präsident Obama einst verkündet wurde, glaubten nach der nuklearen Aufrüstung Chinas und Nordkoreas und den unverhohlenen Ambitionen des Iran ohnehin nur noch unverbesserliche Optimisten.
Drei Tage nach dem russischen Angriff mündete dieses sicherheitspolitische Erwachen in ein politisches Erdbeben. Mit Rede zur „Zeitenwende“ von Bundeskanzler Scholz am 27. Februar wurde eine grundlegende Revision deutscher Sicherheitspolitik eingeleitet, die auch die Fragen der nuklearen Abschreckung nicht unangetastet ließ. Die harte Einsicht, dass der russischen Brutalität nur mit militärischer Macht und damit einer glaubhaften Abschreckung wirksam begegnet werden könne, wurde Allgemeingut. Politik und Öffentlichkeit fügten sich der so lange verdrängten Wahrheit, dass Kernwaffen auf absehbare Zeit ein Faktor in der internationalen Sicherheitspolitik bleiben werden und man mit diesem Faktor umgehen muss.
Das heißt aber eben nicht, dass Deutschland nach eigenen Atomwaffen streben soll. Diese Option ist aus gutem Grund auf Dauer und völkerrechtlich bindend ausgeschlossen und es sind nur einige versprengte Akademiker, die sie gelegentlich Talkshow-tauglich wieder aufwärmen. Stattdessen geht es darum, als erklärter Nicht-Nuklearstaat in einer multi-nuklearen Welt seine eigene Sicherheit und die seiner Nachbarn und Verbündeten zu wahren.
Die Widersprüche der Abschreckung
Sich mit der Notwendigkeit nuklearer Abschreckung zu befassen, heißt aber auch die Schwächen und Widersprüche dieses Konzepts anzuerkennen. Zunächst muss man, damit Atomwaffen einen Gegner abschrecken können, glaubhaft vermitteln, dass man sie überhaupt besitzt. Vermeintliche Geheimwaffen, die nie jemand gesehen hat, haben in der Regel keinen Abschreckungseffekt. Neben der belegbaren Existenz von Kernwaffen muss, darüber hinaus auch deren Einsatz glaubwürdig und plausibel sein. Das erfordert, neben technischen Gegebenheiten wie etwa ausreichende Trägersysteme (Flugzeuge, Raketen), auch politische und planerische Voraussetzung, die zeigen, dass ein Kernwaffeneinsatz ernsthaft erwogen wird. Die häufig vorgenommene Einordnung von Kernwaffen als "politische Waffen", die nie eingesetzt werden dürften, ist ein Selbstbetrug. Kernwaffen müssen militärisch einsetzbar sein, damit sie ihren politischen Zweck der Abschreckung erfüllen können.
Diese beiden Voraussetzungen markieren das Grunddilemma nuklearer Abschreckung: Der Einsatz von Kernwaffen muss trotz all seiner Schrecken plausibel sein, um das Risikokalkül eines potentiellen Aggressors so zu verändern, damit er von eventuellen Angriffsplänen ablässt. Oder anders formuliert: man muss Atomwaffen einsetzen können, um sie nicht einsetzen zu müssen. Dieses Dilemma ist so alt, wie die Idee nuklearer Abschreckung selbst und ist in der Vergangenheit immer wieder heftig debattiert worden.
Damit aber noch nicht genug – noch widersprüchlicher wird es mit Blick auf das auch für Deutschland geltende Konzept der „erweiterten Abschreckung“, in dem ein Nuklearstaat eine nukleare Schutzverpflichtung für einen nicht-nuklearen Verbündeten übernimmt. Deutschland steht unter dem Nuklearschirm der USA, die ihren Verbündeten innerhalb und außerhalb der NATO das Versprechen gegeben haben, deren Sicherheit im Extremfall auch nuklear zu verteidigen.
Eine solche Verpflichtung ist allerdings leichter gesagt, als getan. Bereits im Kalten Krieg war es insbesondere die Frage der Glaubwürdigkeit der erweiterten Abschreckung gegenüber dem potentiellen Angreifer, welche die Gemüter erregte. Wie plausibel wäre es gewesen, dass Washington auf einen sowjetischen Angriff auf Norwegen, Deutschland oder die Türkei mit Kernwaffen reagiert hätte, wenn es dadurch selbst einem möglichen nuklearen Vergeltungsschlag durch Moskau ausgesetzt wäre? Sind die USA wirklich bereit, so wurde schon damals gefragt, New York oder Los Angeles zu riskieren, um West-Berlin oder Oslo zu retten? Wäre die Antwort darauf ein „Nein“, so wäre die ganze Idee eines nuklearen Sicherheitsschirms wertlos.
Dieses Dilemma ist damals wie heute unauflöslich. Letztendliche Gewissheit über die Ernsthaftigkeit des amerikanischen Sicherheitsversprechens hätten die europäischen Verbündeten wohl erst nach einem womöglich nuklearen Angriff auf ihr Territorium – ein Szenario, dass es in jedem Fall zu verhindern gilt.
Ungeachtet dieser nur schwer zu akzeptierenden, aber letztlich unauflöslichen Widersprüche ist die nukleare Abschreckung und insbesondere die erweiterte nukleare Abschreckung durch den amerikanischen Atomschirm für Deutschland ohne Alternative. Die immer wiederkehrende Mär einer gemeinsamen europäischen Nuklearstreitmacht im Rahmen der Europäischen Union hat keinerlei Chance auf Realisierung. Gerade nach dem Ukraine-Krieg ist die Vorstellung eines sicherheitspolitisch autonomen Europas endgültig vom Tisch. Insbesondere die Osteuropäer wollen ein solches rein europäisches Konstrukt nicht und fragen heute zu Recht, wo dieses Europa ohne die USA angesichts Moskaus Angriffskrieg geblieben wäre. Stattdessen liegt die Zukunft in der engen funktionalen Kooperation von NATO und EU, wobei die nukleare Abschreckung eindeutig über die NATO und damit vor allem von den USA bereitgestellt wird.
Deutschlands nukleare Zukunft gestalten
Wenn Kernwaffen eine Konstante in der internationalen Sicherheitspolitik darstellen und wenn nukleare Abschreckung trotz all ihrer Widersprüche ein Kernelement deutscher, europäischer und transatlantischer Sicherheitsvorsorge bleibt, dann ist es zwingend, dass sich die Zeitenwende auch im nuklearstrategischen Denken in Deutschland niederschlägt. Dazu gehört nicht nur, dass man die nuklearen Realitäten der internationalen Politik zur Kenntnis nimmt und die Notwendigkeit der nuklearen Abschreckung als ein wesentliches Element deutscher Sicherheitspolitik begreift. Wichtig ist darüber hinaus, den neuen nuklearen Realismus dauerhaft in den Köpfen der politischen Eliten zu verankern.
Notwendig ist deshalb das, was in der NATO seit Längerem als „Rising the nuclear IQ“ bezeichnet wird – also die Förderung des nuklearen Wissens oder des nuklearen Intelligenzquotienten zumindest unter politischen Entscheidungsträgern und denjenigen, die im engeren oder weiteren Umfang mit sicherheitspolitischen Themen befasst sind. Das beginnt mit der Ausbildung an den Universitäten und setzt sich fort in Regierung, Verwaltung und Parlament. Hier kommen den militärischen und politischen Akademien und Fortbildungs-Institutionen in Deutschland eine besondere Verantwortung zu.
Neben der nationalen Debatte muss Deutschland auch die Nukleardebatte in der NATO vorantreiben. Ein solcher Diskussionsbedarf im Bündnis ist offensichtlich. Wenn der Ukraine-Krieg die europäische Sicherheitsordnung zerstört, Russland als Partner der NATO dauerhaft disqualifiziert und einen gewaltigen sicherheitspolitischen Reformbedarf hervorgebracht hat, dann kann die Nuklearstrategie davon nicht ausgenommen bleiben. Dabei ist ein solcher Strategieprozess beileibe keine leichte Aufgabe, zumal die NATO nach der Aufnahme Schwedens und Finnlands auf 32 Mitgliedsstaaten angewachsen ist, die teilweise unterschiedliche politische und geostrategische Interessen verfolgen. Noch schwieriger wird es, weil mindestens zwei explosive Themen angegangen werden müssen: Zum einen die Frage, ob eine neue nukleare „Nachrüstung“ erforderlich ist, um das Nuklearpotential der NATO an die neue Bedrohung durch ein aggressives und unberechenbares Russland anzupassen. Zum anderen steht die Frage der Stationierungsorte der amerikanischen Atomwaffen in Europa im Raum. Müssten diese Atombomben nicht von ihren bisherigen Stationierungsorten in Deutschland, Belgien und den Niederlanden weiter östlich nach Polen oder ins Baltikum verlegt werden, wie es etwa die polnische Regierung schon lange fordert? Die Antworten auf diese Fragen müssen nicht zwingend ein „Ja“ sein; sie schlicht zu ignorieren ist aber auch keine Option
Des Weiteren müssen Nuklearfragen auch außerhalb der NATO mit wichtigen Partnern bi- und trilateral erörtern werden. Das in der Vergangenheit mehrfach von Paris an Berlin gerichtete Angebot einer Diskussion über die Rolle der französischen Kernwaffen, ist viel zu oft von deutscher Seite ignoriert worden. Präsident Emmanuel Macron hatte eine solche Offerte in einer Grundsatzrede im Februar 2020 erneut aufgebracht und gleich einen EU-weiten Dialog über die Rolle der Atomwaffen Frankreichs in der kollektiven Verteidigung Europas angeregt. Auch sollte die Nuklearmacht Großbritannien, obgleich nicht mehr EU-Mitglied, in einem deutsch-französischen oder EU-offenen Nukleardialog eine wichtige Rolle spielen.
Dies sind nur einige Schritte, mit denen Deutschland die nukleare Realität mitgestalten kann. Weitere Optionen ergeben sich, je nachdem wie sich die Situation in Russland, in China oder im Nahen und Mittleren Osten weiterentwickelt. Eine aktive deutsche Nuklearpolitik erfordert vor allem, dass Deutschland den eingeschlagenen Weg der Zeitenwende auch im Nuklearbereich weitergeht und nicht wieder in sicherheitspolitische Lethargie zurückfällt, sobald akute Krisen halbwegs unter Kontrolle scheinen.