Hamburg - 07.03.2022

Eine sicherheitspolitische Zeitenwende: Putins Angriffskrieg und die Neuausrichtung der Bundeswehr

Prof. Dr. Herfried Münkler

Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2009, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse), sowie „Der große Krieg“ (2013), „Die neuen Deutschen“ (2016) und „Der Dreißigjährige Krieg“ (2017), die alle monatelang auf der Bestsellerliste standen. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship.

Man habe es nicht für möglich gehalten, dass es im Europa des 21. Jahrhunderts wieder Krieg gebe. – So oder ähnlich lautet der zurzeit wohl am häufigsten zu hörende Kommentar zum russischen Angriff auf die Ukraine. Darin wird nicht nur Entsetzen, sondern auch Vergesslichkeit kommuniziert, denn auch in den 1990er Jahren gab es in Europa Krieg: Über Jahre zogen sich die jugoslawischen Zerfallskriege hin, und einen wirklichen Frieden gibt es bis heute auf dem Balkan nicht. Gut, kann man sagen, das war aber noch im 20. Jahrhundert. Außerdem war es kein Angriffskrieg, sondern eine Abfolge von Zerfalls- und Bürgerkriegen. In die letzte Dekade des 20. Jahrhunderts fällt auch der russische „Pazifizierungskrieg“ in Tschetschenien mit den verstörenden Bildern des total zerstörten Grosny, die jetzt unter dem Eindruck der Angriffe auf Charkiw und Kiew aus dem Gedächtnis wieder auftauchen. Zu den Kriegen in Europa gehört aber auch der von Russland geführte Georgienkrieg von 2008 oder der Krieg zwischen Aserbeidschan und Armenien, beides Kriege des 21. Jahrhunderts. Das Entsetzen über den Krieg in Europa im 21. Jahrhundert sagt mehr über unsere Verdrängungsleistung aus als über die tatsächliche Lage.

Wir haben uns die Verhältnisse schön geredet, beiseite geschoben, was wir nicht sehen wollten, verdängt, was wir gesehen haben, und in sicherheitspolitischer Hinsicht haben wir die Worst Case-Szenarien für ganz unwahrscheinlich erklärt, um uns ganz auf die Best Case-Szenarien konzentrieren zu können. Das gehört zu den Selbstberuhigungsmechanismen einer postheroischen Gesellschaft. Sie redet sich das Erfordernis der Selbstbehauptung in einer unruhigen Welt klein. Dementsprechend ist auch die Bundeswehr an den Rand des politischen wie gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsspektrums geraten – von der finanziellen Ausstattung her, aber auch von der gesellschaftlichen Wertschätzung her. Das hat sich mit Putins massivem Angriff auf die Ukraine geändert, und angesichts der Bilder von dem brutalen Agieren des russischen Militärs bei der Bombardierung und Aushungerung eingekesselter ukrainischer Städte gibt es starke Gründe für die Annahme, dass sich das so schnell nicht vergessen und verdrängen lässt. Von der Politik über die Wissenschaft bis zu den Medien werden die Begriffe „Zeitenwende“ und „Zäsur“ verwendet. Konkret heißt das, dass sich die Gewichtung zwischen Best Case- und Worst-Case-Szenarien nachhaltig verändert hat, dass als naiv gilt, wer erklärt, damit habe man „aber wirklich nicht“ rechnen können, und dass wir in eine Ära hineingehen, in der die Militäretats wieder steigen und Fragen der Sicherheit gegen äußere Bedrohungen im Zentrum der politischen Debatten stehen.

Was heißt das für die Bundeswehr? Zunächst und vor allem, dass sie das Spektrum ihrer Fähigkeiten erweitern und sich für zuletzt eher als randständig angesehene Aufgaben ertüchtigen muss. Die Landes- und Bündnisverteidigung wird wieder ins Zentrum rücken. Das hat vor allem mit der langen Grenze zu tun, die von nun an die Nato-Staaten von Russland und den von Putin mehr oder weniger einverleibten vormals selbstständigen Staaten trennt. Diese Grenze reicht von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, und es gibt keine Puffer mehr dazwischen, wie das bis vor einiger Zeit noch Belarus und letzten Endes auch die Ukraine waren. Diese Grenze könnte noch länger werden, wenn Schweden und Finnland an die Nato heranrücken. Das ist eine sehr viel längere unmittelbare Grenze, als es sie in den Zeiten des Kalten Krieges gegeben hat. Und es ist eine Grenze zu einem deutlich unberechenbareren und aggressiveren Kontrahenten, als es die späte Sowjetunion war.

Zugleich werden die Out of Area-Einsätze, die in den letzten Jahren im Zentrum des Fähigkeiten-Spektrums der Bundeswehr gestanden haben, nicht von der Agenda verschwinden. Zentralasien wird zwar keine Rolle mehr spielen, aber an dessen Stelle wird Afrika treten, vor allem das nördliche Afrika einschließlich der Sahelzone, wo neben dschihadistischen Terrorgruppen zunehmend die als Gruppe Wagner bekannt gewordenen russischen Söldner auftauchen, um für Russland Einflussgebiete zu erobern. Dabei wird die Entschleunigung von Migrationsbewegungen nicht im russischen Interesse liegen, denn solche Bewegungen können zur inneren Destabilisierung der EU führen. Und exakt das dürfte ein Bestandteil der destruktiven Politik Putins sein.

Die Nato wird sich in Zukunft drei großen Herausforderungen stellen müssen: der durch Russland, die, wie die jüngste Entwicklung gezeigt hat, eine konventionelle und eine nukleare Komponente hat; einer vom Kaukasus und dem Schwarzen Meer bis weit in den Balkan hineinragenden Zone der Instabilität, wo mit innergesellschaftlichen Kriegen, mit Bürgerkriegen zu rechnen ist, die in frozen conflicts verwandelt werden sollen, bevor sie die gesamte Region in Brand setzen; und schließlich den Konflikten und Kriegen in Nordafrika, wo die Europäer einen Transfer politischer Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität betreiben, während ihre Kontrahenten den erheblich leichter zu bespielenden Part der Destabilisierung übernehmen. Und das alles wird unter Bedingungen stattfinden, bei denen auf den politisch-militärischen Rückhalt der USA kein uneingeschränkter Verlass ist – nicht mehr. Wo ein Trump ins Präsidentenamt gelangen konnte, kann ähnliches jederzeit wieder passieren.

Die Analyse der geopolitischen Konstellationen zeigt, dass die Lage für die Europäer alles andere als rosig ist. Die Zeit, in der man davon ausging, in einer regelbasierten und auf Werte gestützten Weltordnung zu leben und daran zu arbeiten, dass diese Ordnung allüberall durchgesetzt würde, sind definitiv vorbei. Jetzt geht es um Selbstbehauptung und die Verteidigung von Regeln und Werten in einem begrenzten Raum, der als Eigenraum „des Westens“ – oder womöglich auch nur der Europäer – zu klassifizieren ist. Das ist eine gewaltige Veränderung, die man ganz zu Recht als „Zäsur“ oder „Zeitenwende“ bezeichnet hat – nicht nur für die Bundeswehr oder das Verteidigungsressort, sondern für die deutsche Gesellschaft in ihrer Gänze und im Übrigen auch die anderen Gesellschaften in der EU.