Hamburg - 25.02.2022

„Die Pandemie geht in die Verlängerung und ich mag nicht mehr“

Fregattenkapitän d.R. Dr. Arnd T. May ist Klinischer Ethiker beim Zentrum für Angewandte Ethik in Erfurt.

Dies Zitat ist mehrdeutig und genau um diese Mehrdeutigkeit soll es im folgenden Beitrag gehen. Die Pandemie bringt eine Vielfalt von Begriffsdeutungen und ungewohnte Inhalte für Symbole der Vergangenheit. Aber der Reihe nach.

Im Gesundheitswesen hat Covid19 für eine besondere Belastung gesorgt. Patient*innen müssen zum Schutz vor einer Infektion isoliert werden. Isolationszimmer auf Intensivstationen gab es schon immer. Effektive Schutzmaßnahmen waren im Anfang der Pandemie limitiert und damit Mangelressource. Für den Umgang mit Mangel bzw. der Knappheit der persönlichen Schutzausstattung gibt es prinzipiell die Option die Versorgung der Patient*innen in den Vordergrund zu stellen und damit die Kapazitäten zu reduzieren. Alternativ kann die Beibehaltung der Versorgungsqualität bei gleichzeitig geringerem Schutz der im Gesundheitswesen Tätigen entschieden werden. Individualethisch kann nun jeder Mensch je nach seiner Rolle und Tätigkeit für sich überlegen, wo die eigenen Interessen liegen.

Situativ können die vielfältigen individualethischen Überlegungen kombiniert werden, damit eine ausgewogene und konsensfähige Lösung gefunden wird. Damit verlassen wir die Ebene der individualethischen Überlegungen und nehmen eine intersubjektive Bewertungseben ein. In einem solidarischen Gemeinwesen sollten Belastungen für die einzelnen Menschen möglichst gering bleiben. Die Wahrnehmung, dass aber gerade ich von Maßnahmen ungerecht betroffen bin, darf nicht dazu führen, dass jemand aus dem demokratischen Diskurs aussteigt.

Zur subsidiären Unterstützung in einer Notlage, die ohne die Amtshilfe nicht bewältigbar gewesen wäre, hat die Bundeswehr mit Soldat*innen im Corona-Kontingent in Impfzentren unterstützt. Nach der Impfverordnung haben alle in einem Impfzentrum Tätigen die Berechtigung zur bevorzugten Impfung durch die Nennung in Prio 1. Mitunter wurde Soldat*innen nur eine Restdosis am Ende des Tages und dann auch nur gegen Ende ihrer Zeit im Impfzentrum angeboten. Kamerad*innen haben es nicht als Zeichen der Wertschätzung empfunden, wenn sie eine Impfmöglichkeit erst dann erhalten, wenn keine zivilen Personen aktiviert werden konnten. Aber vielleicht ist Wertschätzung für unterstützende Soldat*innen nicht die Entscheidungsgrundlage, sondern die Ansicht, dass die Bundeswehr Personal stellt und dann für dessen Impfung zuständig ist. Damit zerfällt die Gemeinschaft aller im Impfzentrum Tätigen in mindestens zwei Gruppen. Das Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit der transparenten Aufgabenteilung und Zuständigkeiten, damit das Prinzip der Gerechtigkeit konkretisiert wird.  

Nun sollten alle im Gesundheitswesen Tätigen wissen, dass es Situationen gibt, in denen es Ausdruck von Gerechtigkeit ist, wenn Menschen gleich und damit nach der Reihenfolge des Eintreffens behandelt werden. Wegen der medizinischen Dringlichkeit werden situativ Patient*innen anderen vorgezogen.

Zur Diskussion um die tätigkeits- und einrichtungsbezogene Impfpflicht: Neben Einrichtungen mit vollständiger Immunisierung der Beschäftigten gibt es Regionen, in denen in Altenheimen die Impfquote bei 65% liegt. Der Kreis Hildburghausen hat bundesweit Berühmtheit durch Höchstwerte bei Inzidenzen erlangt. Dort liegt die Impfquote bei 53,7% und bei 35,6% für eine Auffrischungsimpfung (Stand 14.02.2022). Dies lässt eine Impfquote der Beschäftigten in einem Altenheim von 65% fast schon als Erfolg feiern. Gleichzeitig hat die Zahl der Intensivbetten innerhalb eines Monats thüringenweit um mehr als 131 auf nun 221 Betten abgenommen.

Wie sollen Betreiber von Altenheimen reagieren, wenn 35% der Beschäftigten nicht mehr zum Dienst kommen darf? Wer springt ein? Soll die Bundeswehr mit Helfenden Händen diese Versorgungslücke schließen und einen Notbetrieb sicherstellen? Soll die Impfpflicht nicht umgesetzt werden? Wie soll ein Betreiber eines Altenheims auf Beschäftigte reagieren, die bei „Aktionen“ verfassungsfeindliche und destabilisierende Parolen grölen? Welches Maß an Solidarität soll gelten oder was bedeutet hier Eigenverantwortung?

Die Dringlichkeit bei einem Amtshilfeantrag wäre aus einem Altenheim mit 35% fehlendem Personal sicher gegeben. Macht es einen Unterschied, ob die Personalnot eine längere Zeit andauern wird oder die identische Zahl an Beschäftigten durch Quarantäne bzw. häusliche Isolierung ausfällt?

Das „Verschieben“ von geimpftem Personal aus anderen Bereichen wie der Tagesbetreuung würde den vollstationär versorgungsbedürftigen Menschen sicher helfen aber um den Preis der nicht mehr stattfindenden Betreuung von Demenzerkrankten, die noch daheim wohnen und den Tag in eben dieser Tagesbetreuung verbringen oftmals zur Entlastung der pflegenden Angehörigen. Diese Kaskade lässt sich weiterführen. Was also soll die Lösung sein in einer Region, in der sich die Hälfte nicht zur Schutzimpfung gegen Corona entschließt?

Nun ist es eine professionelle Eigenart von Ethikern, Fragen zu stellen und dennoch bleibt eine persönliche Bewertung erlaubt ohne gleich als normativ bevormundend verurteilt zu werden. Die Pandemie hat auch gezeigt, dass viele Politiker*innen sich der Erforderlichkeit von utilitaristischen und somit nutzensteigernden Güterabwägungen offensichtlich nicht bewußt waren. Diese Feststellung verblüfft umso mehr als doch tagtäglich Interessengruppen um Aufmerksamkeit werben. Die bestmögliche Verwendung begrenzter Ressourcen lässt sich wohl am einfachsten mit einer utilitaristischen Orientierung begründen: Mach das Beste aus den verfügbaren Ressourcen.

In der NATO AJP-4-10 (C, 2019) findet sich unter 3.61 c. „The principles of treatment might need to be changed from focusing on the individual needs of a particular patient to achieving the best outcome for the greatest number of patients.” In dieser Mangelsituation findet eine Perspektivumkehr von Individuen zum Kollektiv statt.

Bei der ex post-Triage wird eine begonnene Intensivversorgung auf der Intensivstation trotz bestehender medizinischer Indikation beendet. Der verändernde Faktor ist das Hinzukommen einer Person mit einer besseren Überlebenswahrscheinlichkeit. Dieser Gedanke ist ungewohnt und erzeugt breite Abwehr, sich damit überhaupt argumentativ auseinander zu setzen. Die Wehrmedizinethik beschäftigt sich mit eben diesen Fragen.

Die Diskussion um die situationsentsprechenden Maßnahmen gegen die Pandemie bringt seit Beginn seltsame Begriffsumdeutungen. Milder ausgedrückt sind Begriffsinhalte nicht mehr eindeutig und eine Definition der Inhalte und Bedeutungen erforderlich. Was meinen Menschen, wenn sie „Freiheit“ skandieren? Wir sollen uns frei nach Kant unseres Verstandes bedienen. Die Freiheit zum Nachdenken ist existentiell. Eine Binse des Sprechfunks und vielleicht auch darüber hinaus ist: Denken, Drücken, Sprechen.

Die Protestbewegung gegen die Schutzmaßnahmen verwendet zunehmend Narrative, die in der friedlichen Revolution 1989 in der DDR eine symbolische Strahlkraft besessen haben. Was aber ist nun die Wahrheit? Sind die abendlichen unangemeldeten Protestzüge „Freiheitsspaziergänge“ oder findige Protestformen einer Melange von Menschen, bei denen einige ihren Protest gegen die für sie überzogenen Maßnahmen ausdrücken möchten und andere diese Menschenansammlungen für ihre Systemkritik an der demokratischen Verfasstheit unseres Landes missbrauchen. Aufmärsche mit Fackeln vor Privathäusern von Politiker*innen sind gezielte Einschüchterungen, die zeitgeschichtlich in der NS-Diktatur verortet werden können, wozu dann auch Armbinden mit der Inschrift „ungeimpft“ oder gelben Quadraten, Rauten oder anderen Symbolen gehören.

Parteien und Bewegungen nutzen das Freiheits- und Aufklärungsnarrativ für ihren Protest und insinuieren damit die Abhängigkeit, Unfreiheit, Systemverblendetheit aller anderer Menschen. Es werden mit Kindern als menschlichen Schutzschildern kreative aber nicht gänzlich neue Protestformen gewählt, die einer Antwort bedürfen.

Es ist schon im Wortsinn pervers, wenn Politiker, die als Faschisten bezeichnet werden dürfen, und weitere Anhänger einer Bewegung, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, Narrative der friedlichen Revolution umdeuten und somit entwerten.

Es werden Friedensgebete, Mahnwachen, Versammlungen auf geschichts- und symbolträchtigen Orten wie dem Erfurter Domplatz durchgeführt und damit wieder Symbole der Befreiung vom „System“ genutzt. Und ganz selbstverständlich finden verbotene Aufmärsche über traditionelle Routen der Montagsdemonstrationen von 1989 statt, die selten von der Polizei effektiv aufgelöst werden. Die Teilnehmer*innen der rechtswidrigen Aufzüge halten sich nicht an Regeln und es bleibt doch immer wieder die Frage nach der Rolle der „Polizeibegleitung“, wenn Polizeikräfte die geltenden Bestimmungen nicht durchsetzen.

Hinter Rufen nach „Aufklärung“ verstecken sich wissenschaftsleugnende Faktenignoranten und es wird eben nicht der Geist der Aufklärung damit gefördert. Die Pandemie hat sicher auch durch die Vernetzung und den Resonanzboden sozialer Netzwerke eine kleine Minderheit zusammengeführt, die schon immer eine besondere Sichtweise auf unsere Welt hat.

Nun ist für manche Menschen „Nachdenken“ Chiffre für die Befreiung von den Geißeln des Mainstreams. Damit wird eine im wissenschaftlichen Diskurs gefundene Position angegriffen und eine Mindermeinung als absolute Wahrheit in den Meinungsolymp gehoben. Wenn also die „Erwachten“ die unterdrückte Wahrheit der systembeeinflussten Meinungsdiktatur zum alleinigen Maßstab machen, wird das System Wissenschaft angegriffen und zur Diktatur der Mindermeinung aufgerufen mit der alleinigen Legitimation durch die „Fachkenntnis“ der Nachdenkenden. Diese wachen Menschen grenzen sich von „Schlafschafen“ ab und allein die Bewertung der Mehrheitsmeinung der Wissenschaftler*innen löst manchmal den Reflex aus, dass damit doch wohl die eigentliche Wahrheit unterdrückt und zensiert wird. Diese eben beschriebenen Effekte der Skepsis verbinden sich mit einem massiven Vertrauensverlust gegenüber gewählten Politiker*innen, die als „die da oben“ abgekanzelt werden. Damit wird ein an Argumenten und wissenschaftlichen Fakten orientierter Diskurs unmöglich. Ist also die Sars CoV2-Pandemie der wirkliche Diskussionsgegenstand oder geht es nicht inzwischen um etwas anderes und die Pandemie ist der willkommene, wohl aber austauschbare Gegenstand der destabilisierenden Systemkritik mit Umsturzphantasien?