Hamburg - 26.02.2024

Die Hoffnung auf Frieden wachhalten. Katholische Friedenethik in unsicheren Zeiten

Dr. Markus Patenge ist promovierter katholischer Theologe mit Schwerpunkt auf der theologischen Ethik. Nach Studien an der Katholischen Hochschule Mainz und der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in Sankt Georgen und an der Universität Würzburg. Nach Stationen am Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften und am Institut für Weltkirche und Mission ist er seit 2019 Referent für den Arbeitsbereich Frieden bei der Deutschen Kommission Justitia et Pax.

Die internationale Ordnung steht unter massivem Druck. Dies geschieht mal geradezu brachial, mal auf eher subtilerem Weg. Für erstes mag paradigmatisch der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stehen, für letzteres die Versuche der Volksrepublik China, in den internationalen Organisationen eigene Verständnisweisen von Demokratie und Menschenrechten zu etablieren, die letztlich darauf abzielen, diese Konzepte und Ideen auszuhöhlen.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten gab es eine Vielzahl von Ereignissen, die – betrachtet man das Gesamtbild – nicht allein eine düstere Momentaufnahme der internationalen Ordnung zeichnen, sondern vor allem auf eine komplexere und potentiell hochkonfliktive Zukunft hinweisen. In diese Zeit der „Epochendämmerung“ hinein veröffentlichen die deutschen Bischöfe ihr Friedenswort „Friede diesem Haus“, das eine Aktualisierung und Fortschreibung des Hirtenwortes „Gerechter Friede“ aus dem Jahr 2000 ist.

Sie legen mit diesem Friedenswort „einen Diskussionsbeitrag zu den friedens- und sicherheitspolitisch relevanten Debatten innerhalb der Kirche, der Gesellschaft und Politik“ (FdH 4) vor. Es ist also von einer lehramtlichen Zurückhaltung geprägt, die zwar nicht auf starke friedensethische Positionierungen verzichten, aber doch zunächst zum Nachdenken anregen und zu einem konstruktiven Dialog über die „Grundpfeiler eines friedlichen Zusammenlebens“ (FdH 16) einladen möchte.

Da bekanntlich jeder gute Dialog mit dem Zuhören beginnt, sollte man sich auch die Zeit nehmen, um den Bischöfen offen zuzuhören – sofern man an einer ernsthaften Auseinandersetzung interessiert ist. So steckt das gut 170 Seiten starke Dokument voller Aussagen zu vielen Einzelfragen der Friedens- und Sicherheitspolitik – angefangen bei der atomaren Bewaffnung bis zur Rüstungskontrolle. Doch soll es hier nicht um diese Detailfragen gehen, vielmehr werden die großen Linien herausgearbeitet. Was sind also die Kernbotschaften der deutschen Bischöfe?

1. Friedensengagement ist Kernauftrag der Kirche

Der Titel „Friede diesem Haus“, der aus dem Lukasevangelium stammt, ist weit mehr als nur ein biblisch-frömmelnder Titel für das Friedenswort. Er ist dem Kontext der Aussendung der 72 Jünger durch Jesus entnommen, in dem es in Lk 10,5 heißt: „Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als Erstes: Friede diesem Haus!“ Wir haben es hier mit weit mehr als einem netten Gruß zu tun. Denn letztlich ist der Friede der Menschen zueinander und ihr Friede mit Gott die Kurzzusammenfassung der gesamten frohen Botschaft. Wegen dieser inneren Verbindung von Frieden und Evangelium halten die Bischöfe auch fest: „Wenn wir das Evangelium verkünden, können wir über den Frieden und Unfrieden in unserem Haus – in Deutschland, Europa und der Welt – nicht schweigen.“ (FdH 2)

Somit ist allein schon der Titel des neuen Friedenswortes ein deutliches Signal: Wer meint, die christliche Botschaft rein spirituell verstehen zu wollen, wer sie auf eine individuell geistig-moralische Umkehr reduzieren möchte oder glaubt, Religion habe per se unpolitisch zu sein, der hat die Botschaft des Christentums nicht verstanden. So elementar Spiritualität und Umkehr auch sind, stellen sie gleichsam nur die Innenseite jenes Evangeliums dar, das in seiner Außenseite zur Veränderung der Weltverhältnisse unter der Perspektive von Gerechtigkeit und Frieden drängt.

2. Individual- und sozialethische Aspekte christlicher Friedensethik

Mit dieser genannten Innen- und Außenperspektive des Evangeliums korrespondiert ein weiterer Grundgedanke des Friedenswortes. Da die christliche Friedensethik ihren systematischen Ort in der katholischen Soziallehre hat, handelt sie oft von sozialethischen bzw. strukturellen Maßnahmen der Friedenssicherung und Friedensgewinnung: Weltweite Durchsetzung der Menschenrechte, das Pochen auf eine gerechte Wirtschaftsordnung, die Etablierung einer internationalen Rechts- und Friedensordnung etc. Natürlich werden all diese Aspekte auch in „Friede diesem Haus“ behandelt, sind sie doch zweifelsohne wichtige und notwendige Bausteine einer nachhaltigen Friedensordnung. Aber sie sind eben nicht hinreichend. Offenkundig hat uns dies der russische Krieg gegen die Ukraine wieder einmal vor Augen geführt. Trotz eines internationalen Gewaltverbots, trotz international bindender Vorstellungen von staatlicher Souveränität und territorialer Integrität konnten diese Eckpfeiler der internationalen Ordnung den Krieg nicht verhindern, weil einige politisch Verantwortliche Russlands diesen Krieg wollten. Darum bleiben strukturelle Vorstellungen eines friedvollen Miteinanders der Staaten und Völker rein äußerlich und damit ineffektiv, wenn ihnen nicht eine tugendethische Innenseite korrespondiert: „Nicht wenige Fehlentwicklungen in Gesellschaft und Politik haben viel mit einem Mangel an Tugendhaftigkeit zu tun oder auch mit einem Übermaß an Lastern. Skrupellosigkeit, Hartherzigkeit, Rücksichtslosigkeit, Verlogenheit, Feigheit, Hinterhältigkeit und andere individuelle Fehlhaltungen zeitigen oft schwerwiegende Folgen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.“ (FdH 52). Und so mahnen die Bischöfe an, dass „es […] dringend an der Zeit [ist], sich auch im Rahmen politischer Ethik intensiver mit dieser Tiefenschicht menschlichen Handelns auseinander zu setzen.“ (FdH 53).

In diesem Kontext sollten dann auch die Reflexionen zum christlichen Pazifismus verortet werden, der im Sinne einer aktiven Gewaltfreiheit als christliche Urtugend verstanden wird. Wie in keinem anderen Friedenswort zuvor wird der christliche Pazifismus als ältester und wichtiger Traditionsstrang christlicher Friedensethik gewürdigt. So bildet die aktive Gewaltfreiheit „ein fundamentales Element im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, der bewusst aufgenommen und eingeübt wird. Sie wurzelt im Vertrauen auf die Kraft des Guten und im unbedingten Respekt gegenüber allem Leben.“ (FdH 75) Trotz dieser Hochachtung vor der pazifistischen Haltung gebiete es jedoch der christliche Realismus, dass legitime Gewalt ethisch rechtfertigbar bleibt: „Mit Blick auf die Opfer von Gewalttaten hält die kirchliche Friedensethik am Recht auf Selbstverteidigung fest, die unter gewissen Umständen auch zur Gegengewalt ermächtigt.“ (FdH 73) Die friedensethische Grundhaltung der Kirche ist somit die „einer vorrangigen Option für die Gewaltfreiheit, nicht die eines absoluten Gewaltverzichts.“ (FdH 80) Dennoch sind beide Positionen nicht gänzlich unvereinbar, wie es manche Akteure gerne postulieren. Beide eint der starke Wille nach Gewalteindämmung und Gewaltüberwindung; eine gute Basis, um miteinander im Gespräch zu bleiben!

3. Zentrale Herausforderungen der Friedens- und Sicherheitspolitik

Die Bischöfe belassen es natürlich nicht bei solchen fundamentalethischen Erwägungen. Sie reflektieren intensiv die internationalen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte und markieren drei zentrale Herausforderungen der Friedens- und Sicherheitspolitik: „Spätestens seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 auf New York und Washington trat an die Stelle der vom Westen propagierten liberalen, regelgeleiteten und institutionenbasierten internationalen Politik mit der Aussicht auf eine Friedensdividende ein allmählicher Rückfall in traditionelle Macht-, Geo- und Realpolitik. Mit ihr einher ging eine zunehmende Blockade internationaler Institutionen und ein Aufkommen von Identitätspolitik.“ (FdH 82)

Einer nachhaltigen und gerechten Ordnung stehen daher mannigfaltige Gewaltphänomene, der zunehmende Druck auf das internationale Recht und die internationalen Organisationen und schließlich eine konfliktverschärfende Vorstellung von Identität und Kultur im Weg. Im Friedenswort werden alle drei Aspekte systematisch durchdrungen – eine Reflexion, die an dieser Stelle nicht adäquat wiedergegeben werden kann. Jedoch sei ein kurzer hermeneutischer Hinweis gestattet:

Das Thema Gewalt, das physische, psychische, strukturelle, kulturelle, spirituelle und sexualisierte Gewaltformen umfasst, zieht sich wie ein roter Faden durch das Friedenswort. So heißt es paradigmatisch: „Gewalt wird auf unabsehbare Zeit zu unserer Wirklichkeit gehören. Doch sollte uns dies nicht dazu verleiten, uns an die Gewalt zu gewöhnen und uns resigniert mit ihr abzufinden. Vielmehr geht es darum, geduldig und einsatzbereit dafür Sorge zu tragen, dass Gewalt und ihre Folgen, soweit es geht, überwunden werden und somit Gewalt immer weniger Raum bekommt.“ (FdH 160) Deswegen rücken die genannten drei Herausforderungen auch deshalb ins Zentrum der friedensethischen Reflexionen, weil jede auf ihre Art das realistische Potential in sich trägt, Gewalt zu mehren anstatt zu mindern. Dies ist bei der Zunahme gewalttätiger Entwicklungen oder bei Aufrüstungsbemühungen unmittelbar evident. Doch auch die behandelten Themen wie zum Beispiel der Klimawandel, weltwirtschaftliche Aspekte oder eine exkludierende Identitätspolitik bergen großes Gewaltpotential: „So setzten beispielsweise die rasanten Veränderungen des Klimawandels, der Globalisierung und der Digitalisierung oder die mit den weltweiten Migrationsbewegungen einhergehenden Entwicklungen alle betroffenen Gesellschaften unter politischen, sozialen und kulturellen Stress, der von vielen als Bedrohung erlebt wird. Als Reaktion darauf gewinnen Tendenzen zur Abschottung und nationale Egoismen an Raum, sodass sich viele Systeme der internationalen Zusammenarbeit in der Krise befinden. Verstärkt durch die anhaltenden ungerechten wirtschaftlichen und sozialen Strukturen schwindet bei vielen schließlich das Vertrauen in eine gemeinsame Lösung der Konflikte.“ (FdH 164)

Um diesem Szenario der Gewalteskalation zu entkommen, rufen die deutschen Bischöfe nicht allein die Tugenden in Erinnerung, sondern schlagen ein ganzes Bündel an Maßnahmen vor, z.B.: ein gestärktes und durchsetzungsfähiges internationales Recht, eine Reform und Stärkung internationaler Institutionen, die Etablierung einer gerechten Wirtschaftsordnung, ein konstruktiver Ansatz der Konflikttransformation durch das Ernstnehmen der Präsenz gewaltbelasteter Vergangenheit oder der Vorrang der zivilen Konfliktbearbeitung vor militärischen Mitteln. Und all dies auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte und eines ökologisch-nachhaltigen Agierens.

4. Die Grundbotschaft des Friedenswortes

Es dürfte deutlich geworden sein, dass das Friedenswort der Bischöfe viele friedens- und sicherheitspolitische Aussagen enthält und kaum eine relevante Thematik ausgelassen wird. So haben die Bischöfe mit „Friede diesem Haus“ ein kleines friedensethisches Kompendium veröffentlicht, dass die Wegmarken einer christlichen Friedensethik in unsicherer Zeit setzt. Doch damit erschöpft sich keineswegs der Wert des Friedenswortes. Bei all diesen Reflexionen kann leicht übersehen werden, dass dieses Wort von einer zentralen Botschaft getragen wird: Hoffnung. „Unser Friedensengagement und unsere Überlegungen gründen auf der Frohen Botschaft der Bibel, dem Leben und der Auferstehung Jesu, der Gegenwart und dem Kommen des Reiches Gottes und schließlich auf der erfahrungsgesättigten friedensethischen und -praktischen Tradition der Kirche. […] Mit nüchternem Blick beschreiben wir deswegen die Gewaltverhältnisse unserer Zeit – verbinden sie aber zugleich mit unserer christlichen Hoffnung, dass die Gewalt nicht das letzte Wort in unserer Welt haben wird.“ (FdH 15) Selbst wer die Aussagen, Reflexionen und Schlussfolgerungen der Bischöfe nicht teilt, mag vielleicht dennoch mit ihnen einstimmen, dass wir alle die Hoffnung auf Frieden wachhalten sollten.