Hamburg - 11.07.2022

Der Ukrainekrieg und die bellizistische Remedur Deutschlands

Prof. Dr. Elmar Wiesendahl

Prof. Dr. Elmar Wiesendahl lehrte Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München und war bis Ende 2021 Mitgesellschafter und Geschäftsführer der Agentur für Politische Strategie (APOS) in Hamburg. Er forscht und publiziert über Parteien und politische Strategiefragen.

Am 24. Februar 2022 marschierten russische Invasionstruppen in die Ukraine ein und begannen einen Angriffskrieg gegen ein Nachbarland, das als ehemalige Sowjetrepublik nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes 1991 seine Unabhängigkeit erlangt hatte. Nun währt die russische Militärinvasion in die Ukraine schon über vier Monate, und das Ende dieses ungeheuerlichen Geschehens ist nicht absehbar.

Dieser völkerrechtswidrige Angriffskrieg bringt die auf regelbasierten Beziehungen beruhende europäische Friedensordnung der Zeit nach dem Ost-West-Konflikt zum Einsturz. Was nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Ost-West-Konflikts undenkbar schien, nämlich ein von Russland angezettelter, nicht zu rechtfertigender militärischer Einmarsch in ein souveränes Nachbarland, zerstört die Gewissheit auf ein Zeitalter der Völkerverständigung und des friedlichen Zusammenlebens in Europa. Nun ist der Krieg in einem Europa zurück, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von zwei Massenvernichtungs-Weltkriegen heimgesucht wurde mit Abermillionen von Soldaten und Nichtkombattanten, die auf die Schlachtbank geführt wurden.

Deutschland hat sich speziell mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen verheerenden Folgen kaum abtragbare Schuld und Verantwortung aufgeladen, was Paul Celan in den Satz „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ kleidete. Als Folge des entsetzlichen Grauens hat sich tief in das Bewusstsein der Deutschen die Losung „Nie wieder Krieg“ eingegraben, was als pazifistischer Postheroismus bis zur Gegenwart erhalten blieb. Seinen Platz suchte Deutschland vor diesem Hintergrund als global agierender exportorientierter Wirtschaftskoloss, der mit seiner militärischen Zurückhaltung und seinem Selbstverständnis als Friedensmacht einen Sonderfall im internationalen Machtstaatengefüge bildet.

Der Ukrainekrieg löst nun für die Außenbeziehungen und das Selbstverständnis der Bundesrepublik tiefe Zäsuren aus, die der Kanzler in seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 auf den Begriff der „Zeitenwende“ brachte. Im Fokus steht vordergründig ein gewaltiges militärisches Aufrüstungsprogramm. Doch wird dadurch viel tiefgreifender ein politischer Paradigmenwechsel mit dem Ziel vollzogen, Deutschland von einer sanften Friedensmacht hin zur militärisch interventionsbereiten Machtstaatlichkeit umzuwandeln. Wie der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil jüngst in einer Grundsatzrede vor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin am 21. Juni 2022 ausführte, geht es um „eine neue Rolle Deutschlands im internationalen Koordinatensystem“, und das verbunden mit dem „Anspruch einer Führungsmacht.“  Basis hierfür sei die Stärkung des Militärischen. Dies bedeute selbst für eine Friedenspolitik, „auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen.“

In der Tat geht es um einen Epochenbruch, dessen Ausmaß und Neubestimmung der Verhältnisse einer politisch noch nicht abgeschlossenen kontroversen Auslegungs- und Neubestimmungsdebatte unterliegen. Der für Deutschland einzuschlagende neue Weg hängt davon ab zu klären, wie es zu dem russischen Überfall auf die Ukraine gekommen ist und wie dem Angriffskrieg Putins durch politisch angemessene und geeignete Konsequenzen zu begegnen ist.

Für die Bundesrepublik geht es aber um nicht weniger als die Neubestimmung ihres Verhältnisses zu Russland, zumal sie historische Verantwortung für den nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungskrieg gegen die UdSSR und ihre Teilstaaten trägt, welche einer unvorstellbar brutalen Verwüstung ausgesetzt wurden und ihnen einen Blutzoll von über 25 Millionen Toten zumutete. Nicht nur die Ukraine als Teil der Sowjetunion, sondern insbesondere Polen ertrugen einen Hauptteil an Zerstörungen.

Zudem hat Deutschland Russland unter Gorbatschow die Wiedervereinigung des geteilten Landes zu verdanken, was wesentlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion und Auflösung des Warschauer Paktes führte. Die Einheit Deutschlands und das Ende des Ost-West-Konflikts sind miteinander verwoben.

Der dritte Punkt, der aus deutscher Sicht nicht aus dem Beziehungsverhältnis zu Russland ausgeklammert bleiben kann, ist der den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung zugrunde liegende Konsens, die NATO als westliches Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion nicht über die Elbe hinweg auf das Territorium des ehemaligen Warschauer Pakts auszudehnen. Kurzum, Ostdeutschland und schon gar nicht die an Russland angrenzenden Staaten sollten nicht per Expansion der NATO nach Osten den unter USA-Führung stehenden Einflussgebiet der NATO einverleibt werden. Dass Russland sich dieses Versprechen nicht vertragsfest verbürgen ließ, kann als schwerer Fehler der Staatsführung betrachtet werden.

Deutschland wandte sich nach dem Krieg nicht vollständig vom Militärischen ab, sondern es kam schon zehn Jahre nach Kriegsende zur Wiederbewaffnung und Gründung der Bundeswehr. Doch ließ sich die neue Wehrpflichtarmee nie von ihren Einsatzmöglichkeiten aus den Fesseln der tief in der Bevölkerung verankerten pazifistischen Grundhaltung „Nie wieder Krieg“ herauslösen. Der Friede und die Friedenssicherung mit friedlichen Mitteln wurden zum Ernstfall im Atomzeitalter. Als territoriale Abschreckungs- und Verteidigungsarmee im Bündnis erfüllte die Bundeswehr als Massenarmee von Wehrpflichtigen erfolgreich ihren Kriegsverhütungszweck. Doch aus ihr nach der deutschen Einheit eine global einzusetzende Kriseninterventionsarmee zu machen, fand in der Bevölkerung nicht die erwünschte vorbehaltlose Unterstützung. Die fehlende öffentliche Akzeptanz für Bundeswehreinsätze in Afghanistan oder Mali verdeutlicht dies.

Infolgedessen wurden, der tiefsitzenden Kriegsaversion der Deutschen geschuldet, den Einsatzkontinenten der Bundeswehr Fesseln angelegt, die einem robusten Kampfeinsatz der Soldaten tunlichst aus dem Weg gingen. So wurde die Einsatzarmee auf Stabilisierungs- und Ausbildungsaufgaben beschränkt, ohne einer Außenpolitik, gestützt auf „coercive power“, zweckdienlich sein zu können.

 

Wie Kriege militärisch, wirtschaftlich und psychologisch geführt werden

Am Ukrainekrieg wird drastisch deutlich, dass Kriege in verschiedenen Arenen und mit unterschiedlichen Mitteln ausgetragen werden. Einmal auf dem klassischen Feld des Einsatzes militärischer Waffengewalt und des Feuergefechts. Hier spielen die strategische Zielsetzung, Personalumfang und  Ausrüstung, die Feuerkraft der Waffen, Angriff und Verteidigung, Logistik, Führung und Kampfmoral der Truppen, Zusammenspiel der Truppenteile eine Schlüsselrolle.

Darüber hinaus bezieht sich Kriegsführung, und das wird an der Reaktion der NATO und der EU auf die russische Militärinvasion deutlich, auf ein breites Arsenal von nichtmilitärischen wirtschaftlichen und psychologischen Techniken der Beschädigung und Zerschlagung der wirtschaftlichen Grundlagen der gegnerischen Kriegspartei. Der Wirtschafts- und Handelskrieg bedient sich der Blockierung von Handelsbeziehungen und des Zahlungsverkehrs, der Blockade von Liefer- und Fertigungsketten, dem Boykott von Waren und Dienstleistungen, der Blockade von Logistikzentren und Transportwegen, der Enteignung von internationalen Besitztümern politischer und wirtschaftlicher Schlüsselpersonen des kriegsführenden Landes sowie personellen Einreisebeschränkungen.

Weiterhin bezieht Kriegsführung auch die politische Austragungsebene mit ein und versucht, wie beim Ukrainekrieg, Russland als Aggressor im internationalen Beziehungsgeflecht der Staaten und in Gremien der internationalen Zusammenarbeit zu ächten und zu isolieren. Möglichst schließen sich Staaten politisch zu einer Antikriegs-Koalition zusammen und suchen den Aggressor-Staat durch Verurteilungen und Ausschluss aus Gremien die Zusammenarbeit zu entziehen. Ziel ist es zudem, gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und gegen Kriegsverbrechen strafrechtlich vorzugehen.

Ein weiteres wichtiges Austragungsfeld bildet der Propagandakrieg. Hierzu zählen die Kontrolle und Manipulation des Informationsflusses über das Kriegsgeschehen, die selektive Konstruktion der Kriegswirklichkeit, die Zensur und die Lieferung von Informationsmaterial gefilterter Art über den Kriegsverlauf, offizielle Verbreitung von Fehlinformationen und Lügen, Verbreitung von manipulativen Botschaften und Erzählungen über klassische und soziale Medien, Manipulation von Bild und Filmmaterial, Inszenierung von Medienereignissen, Skandalisierung von Gewalttaten und Kriegsgreueln. Während die gegnerische Kriegspartei dämonisiert und entwürdigt wird, dient umgekehrt die Heroisierung der Verteidiger der moralischen Aufrüstung der Öffentlichkeit und der Armeeangehörigen zum Zweck der Stärkung der Truppenmoral und der Durchhaltefähigkeit des angegriffenen Landes. Die Kriegspropaganda dient gezielt der Mobilisierung öffentlicher Unterstützung und des Bevölkerungsrückhalts gegenüber dem Kriegsgeschehen.

 

Was heißt Bellizifierung und wie sie betrieben wird

Bellizifierung ist ein mehrdeutiges Konzept, das förderliche Rahmenbedingungen und Einstellungsverhältnisse herstellen möchte, die einen von Auflagen losgelösten Einsatz des Militärs zum Zwecke auswärtiger sicherheitspolitischer Interessenvertretung ermöglichen soll. Für das Selbstverständnis der Bundesrepublik als internationalem Player werden Maßstäbe gesetzt, die deren Sonderrolle als softe Friedensmacht abstreift und sie mit einer robusten Verfügungsmacht über das Militärische ausstattet. Dadurch soll sie machtstaatlich normalisiert an die Seite der westlichen Mittel- und Großmächte aufrücken. Es geht um die Teilnahme Deutschland am Beziehungsgefüge von Machtstaaten, die allesamt den Einsatz militärischer Gewalt bei der Durchsetzung nationaler Interessen und der Stabilisierung der internationalen Sicherheitsordnung mit ins Kalkül ziehen.

Um solch einer Linie politisch zum Durchbruch zu verhelfen, unternahmen bereits 2014 der damalige Bundespräsident Joachim Gauck und die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine abgestimmte Aktion. Eingekleidet in das wohlklingend schwammige Motto „mehr internationale Verantwortung“ zu übernehmen, wurde für eine neue, militärisch abgestützte Außen- und Sicherheitspolitik plädiert. Jüngere Metaphern wie „Deutschland dürfe nicht weiter am Spielfeldrand stehen bleiben“ (Timothy Snyder) oder „Deutschland müsse erwachsen werden“ (Carlo Masala) zielen in die gleiche Richtung. Die öffentliche Wirkung verpuffte jedoch und blieb politisch weitgehend folgenlos.

Nun ergibt sich mit dem Ukrainekrieg eine erneute Remedurvorlage. Damit diese Früchte trägt, ist die öffentliche Reaktion auf die überraschende russische Intervention in die Ukraine von medialer und politischer Seite so in einen narrativen Deutungsrahmen einzubetten, dass sich die Bevölkerung in ihrer Gewahrwerdung und Verarbeitung des Kriegsgeschehens auf eine bellizistische Kehrtwende ihrer Verweigerungshaltung gegenüber einer stärker militarisierten Außenpolitik einlässt.

 

Der Ukrainekrieg und das narrative Fundament der bellizistischen Remedur

Um angesichts des Ukrainekriegs die Bevölkerung und die politischen Entscheidungsträger für eine waffenbasierte Beteiligung Deutschlands am Kriegsgeschehen zu mobilisieren, muss ein fundamentaler kognitiver, mentaler, geistiger und ideologischer Bewusstseins- und Einstellungswandel herbeigeführt werden. Der postheroischen, kriegsskeptischen Bevölkerung in Deutschland einen bellizistischen Bewusstseinswandel einzuimpfen, bedarf es eines die pazifistische Grundhaltung erschütternden Deutungs- und Einordnungsrahmens des Kriegsgeschehens, dessen Vergegenwärtigung erschauern und empören lässt. Der in der Tat durch nichts zu rechtfertige Angriffskrieg Russlands gegen eine friedfertige und schutzlose Ukraine liefert hierfür den Inszenierungsrahmen.

Im Rahmen der Remedur-Kampagne stellt die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gewissermaßen das Feldzeichen im Kampf um die Bellizifierung der deutschen Außenpolitik dar, während die strategischen Folgen hinsichtlich der Eskalation des weiteren Kriegsverlaufs äußerst wenig Beachtung finden.

Die bellizistische Remedur nimmt ihren Ausgang beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und mündet in der Zielsetzung, die Ukraine durch militärische Beistandsleistungen zu einem Sieg gegenüber Russland zu verhelfen. Die Befürworter und Anhänger des neuen Bellizismus stimmen darin überein, die Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen den russischen Aggressor militärisch mit dem Spektrum aller zur Verfügung stehender schwerer Waffen uneingeschränkt zu unterstützen. Dies bezieht sich vor allem auf Panzer und Artilleriewaffen jeglicher Bauart und Reichweite, wobei speziell die Scholz-Regierung mit der Lieferung von modernen westlichen Kriegsgerät aus deutschen Beständen massiv unter Druck gesetzt wird.

In den Erzählrahmen des Angriffskriegs Putins ist das Bemühen eingefügt, die Rechtfertigung Putins, den Einmarsch in die Ukraine wegen der versprechenswidrigen Ostverschiebung und Einkreisung Russlands durch die NATO zu führen, als abwegig abzuqualifizieren. Eine Mitverantwortung des Westens am Ukrainekrieg fällt damit weg und entspringt allein Putins Eroberungssucht gegenüber der Ex-Sowjetrepublik Ukraine. Unterstellt wird dabei, dass Putin den Krieg von Anfang an wollte und die westlichen Staatsmänner über seine wahren Absichten systematisch täuschte. Zudem habe Deutschland sich über Jahrzehnte mit seiner Entspannungspolitik und der Strategie „Wandel durch Handel“ in verblendeter und irregeleiteter Form von russischer Energieversorgung abhängig gemacht, die es zum Komplizen Putins und zur Finanzierungsquelle des Ukrainekrieges mache. Der Bau der Nordstream II Gas-Pipeline stehe hierfür Pate.

 

Gesinnungsethischer Salonbellizismus und das ferne Stahlgewitter des Krieges

Die Bestrebungen zur Bellizifierung der Identität Deutschlands werden von Personenkreisen aus dem journalistischen, schriftstellerischen und parteipolitischen Bereich angeführt, für die die Welt und Ratio der Militärstrategie und der Kriegsführung ziemlich weit entfernt ist. Journalistisch ist diese Kluft besonders eklatant. Die Kriegsberichterstattung ist vom Kriegsverlauf mit seinen militärischen Operationszügen meilenweit entfernt und kapriziert sich, angeleitet durch die Selenskij-Regierung, auf die Darstellung von Zerstörungen, Kriegsgreuel und der herzzerreißenden Inszenierung menschlichen Leids. Der aus anderen Kriegen bekannte Typus des Kriegsreporters bildet im Ukrainekrieg einen Totalausfall.

In den Redaktionsstuben, den Parlaments- und selbst Regierungsämtern sitzt mittlerweile eine Kriegsdienstverweigerer-Generation, an die eine wehrpflichtfreie Nachfolgegeneration anschließt. Die Generation KDV unter den Journalisten und Politikern reiht sich jetzt angesichts des Ukrainekrieges in die Gesinnungsgemeinschaft der Bellizisten ein und favorisiert aus einem moralischen Empörungsimpuls heraus die Eskalation der militärischen Gegenwehr gegen die russischen Kriegszerstörungen und -verbrechen. Die bellizistischen Journalisten und Politiker spielen ohne genauere militärstrategische Grundkenntnisse mit dem Einsatz von Waffen einer Kriegsmaschinerie, ohne, wie die davon betroffenen ukrainischen Soldaten oder die Zivilbevölkerung, auch nur entfernt in das Kriegsgeschehen involviert zu werden.

Für die neue „Krieg muss sein“-Generation stellt Kriegsbeteiligungsbereitschaft eine der persönlichen Erfahrung und Betroffenheit entzogene Spezialistenaufgabe dar, für die die Bundeswehr mit Berufssoldaten und -soldatinnen den Kopf hinzuhalten hat. Dabei ist die heutige Bundeswehr nicht mehr wie noch zu Zeiten des Ost-West-Konflikts Wehrpflichtigen- und damit Volksarmee, sondern eine stark verkleinerte professionelle Expertentruppe zur Androhung und Anwendung kollektiver militärischer Gewalt.

Die bellizistische Community hat nichts am Hut mit einer Langemark-Generation, die bereit wäre, mit Tschingderassabum für die Ukraine zu sterben. Das neue Gesinnungskriegertum speist sich vielmehr aus einer moralischen Entrüstungs- und Empörungshaltung heraus und kann sich mit dem Eintreten für militärische Aufrüstung und Gegengewalt für die Ukraine gesinnungsethisch abreagieren. Dies heißt aber auch, gegen das verantwortungsethische Prinzip zu verstoßen, die unter Umständen nicht beherrschbaren unkontrollierbaren Folgen der herbeigewünschten und herbeigeredeten Kriegseskalation verantworten zu müssen.

Diese Pro-Kriegshaltung ergeht sich in einer „Frontkämpfersprache“ (Hilmar Klute) und bedient sich eines martialischen Gehabes, kann aber den militärischen Attentismus eines Salon-Bellizisten nicht von sich streifen. Sollte es im Kriegsverlauf um einschneidende persönliche Einschnitte und Lastenzumutungen gehen, ist nicht gewiss, wie stark sich die bellizistischen Anwandlungen auch wieder verflüchtigen werden. Sollte es darüber hinaus zu einer unmittelbaren deutschen Kriegsbeteiligung kommen („Germans to the front“), könnte der grassierende Haltungsbellizismus schnell wieder implodieren.

 

Die bellizistische Epochenwende und ihre Folgen

Die Folgen der militärischen Beteiligung von NATO und EU am Ukrainekrieg und die damit verbundene Bellizifierung der Außenpolitik einzuschätzen, hängt von den intendierten Zielsetzungen der beteiligten Staaten ab und von der Frage, inwieweit die Einsatzmittel zielkonform sind oder nicht vertretbare Wirkungen und Nebenfolgen zeigen. Von der Kriegsbeteiligungs- und Bellizifierungsdebatte gehen auf jeden Fall mentale und politische Wirkungen aus, die das Selbstverständnis des Landes im Umgang mit Bedrohungen und internationalen Krisen auf eine neue Grundlage stellen.

Die Zeitenwende-Rede von Kanzler Scholz vom 27. Februar 2022 hat die politischen Koordinaten zugunsten einer Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik verschoben. Sie leitet mit dem 100-Milliarden-Euro-Paket sowie der Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf ein Zwei-Prozent-Niveau eine massive Aufrüstungsspirale ein. Es geht um Stärkung und Modernisierung der Ausstattung und Kampfkraft der Bundeswehr, die sich zu einer der stärksten europäischen Abschreckungs- und Verteidigungsarmeen im NATO-Bündnis mausern soll.

Im Verteidigungsweißbuch von 2016 wird der Bundeswehr zwar schon die Doppelaufgabe der Landesverteidigung und des internationalen Kriseneinsatzes zugedacht, was jedoch bei der Unterfinanzierung und maroden Materialausstattung der Bundeswehr illusorisch bleiben musste. Jetzt befördert indes das Scheitern des Afghanistan-Einsatzes und der schrittweise Rückzug aus Mali die Rückkehr zur alten Bundeswehr, welche nach ihrer Transformation zur Einsatzarmee faktisch ausrangiert wurde. Die Umwandlung in eine stark verkleinerte Berufsarmee schuf ein Übriges. Jetzt geht es um einen Wiederaufrüstungsprozess, der vom zugrunde gelegten Bedrohungsszenario  in alte Zeiten der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges zurückfällt.

Zeitenwechsel bedeutet für Deutschland nach diesem Kurswechsel eine Zäsur, die auf einen machtstaatlichen Paradigmenwechsel ihres sicherheitspolitischen Selbstverständnisses hinausläuft. Es geht um die Revision der auf militärischer Zurückhaltung und soft Power basierenden Außen- und Sicherheitspolitik des Landes, die ihre Priorität bislang auf Wirtschafts- und Exportinteressen setzte. Dass diese Linie nicht weiter fortsetzbar ist, resultiert unmittelbar aus den Folgen der Wirtschaftssanktionen, die die Handelsbeziehungen mit Russland untergraben. Sie sollen Russland in seiner Wirtschaftskraft massiv schädigen und zurückwerfen. Der Export an russischer Kohle, an Öl und Gas soll unterbunden werden.

In Deutschland löst diese Sanktionspolitik eine Teuerungswelle des Energieverbrauchs aus. Dies ist Folge des selbstgesetzten Ziels, die Energieabhängigkeit von Russland zu beenden und gleichzeitig klimaneutral auf erneuerbare Energieträger umzustellen. Offensichtlich setzt der eine oder andere Wortführer der „Zeitenwende“, wie Nils Minkmar (Die netten Jahre sind vorbei. In: SZ vom 11.5.2022, S. 9) auf eine Entwicklung Deutschlands, die in einer „Dritten Republik“ mündet.

Russland dagegen profitiert von der Preisexplosion und ist dabei, neue Absatzmärkte für seine Energieexporte zu erschließen. Gleichwohl endet für das Angreiferland jetzt schon, gemessen an seinen Kriegszielen, die Militärinvasion in einem Desaster: Kein erfolgreicher ukrainischer Regimewechsel, kein Sturz der Selenskij-Regierung. Stattdessen Wiederbelebung der NATO und militärische Stärkung ihrer Ostflanke. Aufnahme von Schweden und Finnland in das Bündnis. Keine Spaltung der EU, sondern Ausdehnung des von ihr kontrollierten Wirtschaftsraums nach Osten. Vor allen Dingen löste der brutale Überfall eine nationale Vereinigungsbewegung unter den West- und Ostukrainern aus, die dem kriegsgeschundenen Land eine nicht wieder zu nehmende national-kulturelle Identität schenkte.

Wohl ist mit dem Überfall die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine dauerhaft auf Eis gelegt, wie auch die Krim und die Ostukraine dem russischen Einfluss dauerhaft unterworfen bleiben werden. Die absehbare EU-Mitgliedschaft wird aber die Ukraine wirtschaftlich und kulturell-gesellschaftspolitisch dauerhaft von Russland entfremden.

   

Geostrategische Zieldifferenzen der Anti-Putin-Koalition und die Folgen

Die NATO- und EU-Länder bilden in Reaktion auf den Ukrainekrieg eine Anti-Putin-Koalition, die jedoch in der Zielsetzung ihre Beistandsleistungen gegenüber der Ukraine nicht übereinstimmt. Von den Waffenlieferungen und sonstigen Unterstützungsleistungen der Allianzpartner wird untereinander Abweichendes erwartet, was für den weiteren Kriegsverlauf und den Umgang mit Russland auf strategische Zielspannungen hinausläuft. Die den Kriegsverlauf nachvollziehenden Zielvorstellungen verteilen sich gewissermaßen auf einem Kontinuum, welches auf der einen Seite von einem erwünschten Kriegsende durch eine rasche Verhandlungslösung und auf der anderen Seite von dem Hardliner-Ziel des Siegs über Russland bestimmt wird. Für ein alsbaldiges Waffenstillstands- und Verhandlungsziel zwischen den beiden Kriegsparteien steht der Altmeister der Diplomatie, Henry Kissinger, wofür er Ende Mai 2022 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos eintrat. Kanzler Olaf Scholz steuert eine weitere Variante bei mit seiner vagen Position, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe. In Richtung auf eine Verhandlungslösung geht auch der von Scholz, Macron und Draghi Selenskij in Kiew am 16. Juni 2022 offerierte EU-Beitrittskandidatenstatus. Durch diese Trophäe ließen sich Gebietsverluste der Ukraine als Preis eines Waffenstillstands erträglich machen. Da Putin am 17. Juni auf dem Petersberger Wirtschaftsforum gegen einen EU-Beitritt der Ukraine keinen Widerspruch erhob, könnte hierüber der Weg zu Waffenstillstandsverhandlungen eröffnet werden.

Hierfür spricht jedenfalls der humanitäre Geltungsanspruch der ukrainischen Zivilbevölkerung auf Schutz ihres Lebens und auf körperliche Unversehrtheit. Dagegen ist der Ukrainekrieg zum Spielfeld von Kriegszielen unmittelbarer und mittelbarer Kriegsparteien geworden, dem immer mehr unbeteiligte Zivilisten zum Opfer fallen: Abermillionen Einwohner auf der Flucht, zerrissene Familien, zerstörte Lebensgrundlagen und ganze Städte und Landstriche durch Artilleriefeuer in Schutt und Asche gelegt. Der Blutzoll und die materielle Schadensbilanz des Einsatzes schwerer westlicher Waffensysteme ist in diesen anhaltenden Stellungs- und Ermüdungskrieg noch nicht einmal eingerechnet.

Vor diesem Hintergrund ist der dem unerträglichen Kriegselend ausgesetzten Zivilbevölkerung nur dadurch gedient, wenn dem Töten und Verheerungen alsbald Einhalt geboten würde. Ein Waffenstillstand und die Aufnahme von Verhandlungen wird der Selenskij-Regierung allerdings schmerzhafte Zugeständnisse abverlangen. Der faktische Verzicht auf einen NATO-Beitritt wäre durch äquivalente Sicherheitsgarantien des Westens zu kompensieren. Russland zieht sich aus den eroberten Gebieten zurück und akzeptiert die EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Auf längere Sicht wird es zur Wiederherstellung einer stabilisierten europäischen Sicherheitsordnung sogar unerlässlich sein, Russland um den Preis des Gewaltverzichts erneut einzubinden. Selbst ein Einfrieren des Konflikts wäre aus humanitärer Sicht ein hinnehmbarer Lösungsansatz, um eine blutige Verlängerung und weitere militärische Eskalation des Kriegs zu verhindern.

Den Gegenpol zu den Anhängern eines Waffenstillstands nehmen Politiker/innen mit der Äußerung ein, dass die Ukraine den Sieg davontragen müsse. So erklärt Außenministerin Annalena Baerbock, dass Russland den Krieg „strategisch verlieren“ müsse. Es „wolle den Frieden in der Ukraine zerstören. Deswegen darf die Ukraine auf keinen Fall verlieren – das heißt: Die Ukraine muss gewinnen“ (ZDF-Talk-Runde Markus Lanz v. 1.6.22) Der Außenpolitiker und Parteivorsitzende der Grünen, Omnid Nouripour, will konkret, dass die Ukraine den Krieg gewinnt und sieht darin die Rückeroberung des Donbass und der Krim eingeschlossen (Hamburger Abendblatt v. 7.6.2022).

Bemerkenswert ist, dass gesinnungsethische Anhänger und Anhängerinnen des Täter-Opfer-Narrativs mit dem Siegziel der Ukraine konform gehen. Ihre Empörung steigt in dem Maße an, wie die äußerst brutale russische Kriegsführung „jedes moralisches Maß“ vermissen lässt (Stefan Cornelius, SZ v. 9.7.22, S. 45). Aus solch einer Zielsetzung des Siegkrieges der Ukraine spricht militärstrategisch indes eine hahnebüchende Naivität, die die NATO-Staaten in die Eskalationsspirale eines Rückeroberungskrieges hineinziehen und damit - worst case - einen Atomkrieg riskieren würden. Bemerkenswert ist zudem die gesinnungs- und verantwortungsethische Bedenkenlosigkeit, mit der durch die gewollte Verlängerung und Intensivierung des Kriegs den geschundenen Ukrainern und Ukrainerinnen ein weiterer Blutzoll und die Zerstörung des Landes zugemutet wird. Ein ausgeblutetes und zerstörtes Land hat es um keinen Preis verdient, einen - what ever it takes – Stellvertreterkrieg gegen Russland erleiden zu müssen.

Die USA vertritt ebenfalls eine Hardliner-Position, die von ihren geostrategischen Supermachtinteressen herrührt. Ihr Ziel scheint zu sein, durch eine vor allem mit amerikanischen Waffen ausgetragene Zerstörung der russischen Kriegsmaschinerie auf ukrainischem Boden die Wiederholung eines russischen Angriffskriegs substanziell nachhaltig auszuschließen. Ein auf längere Dauer angelegter Abnutzungskrieg in der Ukraine auf der Basis amerikanischen Waffennachschubs ist deshalb in das Kalkül eingeschlossen. Von daher erklärt sich das enorme Ausmaß des militärischen Waffenbeistands der USA für die ukrainische Armee, welches sich unter Einschluss wirtschaftlicher und humanitärer Hilfe nach dem Stand Ende Mai 2022 auf die Summe von fast 50 Milliarden Dollar beläuft.       

Zweifelsohne nehmen die USA unter ihrem Präsidenten Biden eine Vormachtstellung innerhalb der Unterstützerallianz gegen den Aggressor Russland im Ukrainekrieg ein. Schon nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts war sie die treibende Kraft, um die souverän gewordenen Teil- und Anrainerstaaten der ehemaligen Sowjetunion in die NATO aufzunehmen. Bis 2008 wurden insgesamt 14 Staaten per Osterweiterung in das Verteidigungsbündnis aufgenommen. 2008 sollten dann nach dem Willen der USA auch noch der Ukraine und Georgien der Beitritt zur NATO ermöglicht werden. Ersichtlich wird hierin das Bestreben der Supermacht, die NATO durch Osterweiterung wie einen Riegel um Russland zu legen und damit die militärische und sicherheitspolitische Einkreisung des Landes zu vollenden. Bekanntlich scheiterte der Beitritt der beiden Staaten am Veto von Deutschland und Frankreich, ohne auf längere Sicht die Aufnahme des Landes auszuschließen. Als im Rahmen des Maidan-Konflikts Russland die Krim okkupierte und die aufständische Segregationsbewegung in der Ostukraine massiv militärisch unterstützte, griff die USA der Ukraine wirtschaftlich und militärisch im großen Umfang unter die Arme.

Als Reaktion auf den Einfall Russlands in die Ukraine bildet die USA unter Biden jetzt das Vorreiterland, um durch Waffenlieferungen und Verlängerung des Krieges die Souveränität der Ukraine wiederherzustellen und Russland aus der Ostukraine und der Krim wieder heraus zu drängen.

Solchen Vorstellungen geht offenkundig ein Mindestmaß an strategischer Vorausschau ab, was mit gesteigerten Waffenlieferungen erreicht werden, aber auch angerichtet werden kann. Militärisch zwingen nämlich die süd- und ostukrainischen Geländegewinne der russischen Invasionsarmee die ukrainischen Militärverbände weg von einem Abwehrkampf hin zu einer Rückeroberungsstrategie, die nur mit einer nicht vorhandenen Truppen- und Waffenüberlegenheit gelingen könnte. Selbst umfangreiche offensive Waffenlieferungen des Westens könnten dieses Manko nicht kompensieren. Zu rechnen wäre allein mit einem längeren Abnutzungskrieg unter Einsatz schwerster westlicher Waffensysteme. Bemerkenswert an solchen von NATO-Seite offen ausgesprochenen Überlegungen ist die moralisch schwer zu ertragene Rücksichtslosigkeit, mit der die schlimmsten Verwüstungen ganzer süd- und ostukrainischer Regionen und der Tod zehntausender von Soldaten und Zivilisten in Kauf genommen wird.

Eine wenig wahrscheinliche militärische Niederlage Russlands und Vertreibung aus der Ostukraine sowie der Krim hätte aller Voraussicht nach den Sturz von Putin zur Folge. Illusorisch wäre in solch einem Fall anzunehmen, dass Putins Sturz eine prowestliche und liberaldemokratisch gesonnene Regierung an die Macht brächte. Wahrscheinlicher ist, dass es zu einem nationalistischen Rechtsruck kommt und Russland zu einem instabilen Bedrohungsherd für die westliche Staatengemeinschaft würde.

Sollte es zum Umsturz in Belarus oder zur Aufnahme weiterer ehemaliger Sowjetrepubliken in die NATO kommen, wäre dies unter Umständen ein erneuter Kriegsgrund. Die Reaktion der NATO läuft jetzt schon entgegen der NATO-Russland-Grundakte von 1997 auf eine verstärkte militärische Absicherung ihrer Ostflanke durch Kampftruppen hinaus, was aus der Sicht Russland eine verschärfte Bedrohungslage darstellt.  Das Verhältnis Russlands zum Westen wird, unter welcher Regierung auch immer, äußerst konfliktgeladen sein, weil sich die NATO im Gefolge des Ukrainekriegs jetzt schon mit vervielfachter Truppenstärke an die russische Grenze herangeschoben hat.

Dagegen kann dem Wirtschaftskrieg gegen Russland mit seinen Sanktionspaketen nur wenig greifbare Wirkung zugesprochen werden. Der Beendigung der Militärinvasion dient er nicht.  Stattdessen sind nicht nur für Deutschland durch russische Gegenmaßnahmen wie dem Stopp von Gaslieferungen wirtschaftlich einschneidende Bumerangeffekte zu erwarten. Zur Eindämmung des russischen Einflusses aktiviert zwar die EU durch Einbindung östlicher Beitrittskandidaten, - nun auch der Ukraine und der Moldau -, die Erweiterung ihre Einflusszonenbereichs, was aber mit inneren Spannungen und Überdehnungsproblemen der Osterweiterung der EU einhergeht.

Auf jeden Fall ist die Strategie der sicherheits- und wirtschaftspolitischen Isolierung und Entmachtung Russlands durch NATO und EU spannungsverstärkend. Russland wird durch diese Strategie mit Schmach und verletztem Nationalstolz als Großmacht bedacht, was die Basis für eine erneuerte europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands ausschließt. Polen und die baltischen Staaten werden dies im Bündnis mit den USA zu verhindern wissen. Jetzt schon werden die Vorzeichen auf feindselige Rivalität und Systemkonfrontation gestellt, was der wechselseitigen Aufrüstung und der Kriegsgefahr Vorschub leistet.

 

Mit welchem Gesinnungswandel der Bevölkerung zu rechnen ist

Im Kern ist die antirussische Bellizifierung Deutschlands ein Elitenprojekt, wie auch die Umwandlung der außen- und sicherheitspolitischen Agenda hin zur machtstaatlichen militärischen Aufrüstung und Abschreckung auf Kursänderungen von Regierungs- und Parlamentseliten zurückgeht.

In der Bevölkerung wurden durch den Ukrainekrieg und dessen gefühlgeladene öffentliche Vermittlung Gewissheiten über ein friedliches Zusammenleben mit Russland zerstört und sind einem wachsenden kriegerischen Bedrohungsempfinden gewichen. Der weitere Kriegsverlauf und die politischen Reaktionen Deutschlands und des Westens binden nach dem vorläufigen Abflauen der Coronapandemie die tägliche Aufmerksamkeit des politisch interessierten Publikums, was durch die meinungsbildenden Kriegs-Narrative und Entsetzen auslösende Kriegsberichterstattung der Medien angeheizt wird. Die vom Erschrecken bestimmten Verschiebungen der Gewahrwerdungswelt des Kriegsalltags lösen in der Bevölkerung Verunsicherung und Haltepunkte für die Verarbeitung der erschütternden Eindrücke aus, die nicht aus ihren Reihen selbst sondern über die Konstruktion der Kriegswirklichkeit durch  Medien und politische Akteure erzeugt werden. Die Politik folgt also nicht dem, was die Bevölkerung denkt und sich wünscht, sondern umgekehrt verschieben sich Sichtweisen und Meinungen, je nachdem wie die politischen Leitpersonen und die Spitzen von Parteien Haltungen und Positionen vorgeben. Im Ergebnis geht durch die Bevölkerung eine tiefe Meinungskluft, in der sich die unterschiedlich behandelten Streitpunkte der politischen Arena widerspiegeln.

Inwieweit diese unfertige, fluide Meinungsdrift letztendlich zum bellizistisch infizierten Bewusstseinswandel der Bevölkerung führt, ist längst noch nicht ausgemacht. Denn in der Bevölkerung wächst zwar der Unmut gegenüber dem russischen Angriffskrieg und die Sorgen über die Ausweitung der militärischen Auseinandersetzung. Doch überlagert sich diese Fokussierung auf den Kriegsverlauf durch wachsende Sorgen, die durch die Explosion der Kosten für die Miete, die Strom- und Wärmeversorgung, die Mobilität und die Deckung an täglichen Konsumgütern gespeist werden. Hier schlagen die Wirtschafts- und Handels- Sanktionen der EU und NATO auf die eigene Bevölkerung zurück, was durch die klimapolitische Wende der Ampel-Regierung noch verschärft wird.

Auf jeden Fall werden Lebenshaltungseinschränkungen und Wohlstandsverluste sich nicht auf Dauer dem Ukrainekrieg und dem russischen Expansionsstreben zurechnen lassen. Hier zahlen die politischen Akteure „home-made“ einen Preis, wobei noch mit Richtungsauseinandersetzungen über den Erhalt des Industriestandorts Deutschland und die weitere globale Ausrichtung der Exportnation zu rechnen ist. Rechtspopulistische Parteien könnten hier ein neues Mobilisierungsthema finden.

Mit einem nachhaltigen bellizistischen Identitätswechsel der Bevölkerung wird die Politik nicht rechnen können. Zwar kann grüne feministische und wertbasierte Außen- und Sicherheitspolitik mit Unterstützung bei der großstädtischen Kernwählerschaft der Grünen rechnen. Nur wird diese moralisch aufgeladene Politik angesichts einer zusehens von autoritären Staaten und Regierungssystemen geprägten Welt zwangsläufig moralische Schulden machen müssen.

Für den inneren Zusammenhalt Deutschlands tut sich nach den Agenda-Reformen, der Flüchtlingskrise und der Corona-Pandemie eine neue Frontlinie auf, die eine weitere kulturkämpferische Spaltung der Gesellschaft hervorrufen könnte. Dies greift spätestens dann den Identitätskern der friedfertigen Wohlstandsnation an, wenn die politisch-ideologische Schulmeisterrolle der Bellizisten dem Exportland Deutschland die internationalen Absatzmärkte und Handelsnetzwerke verschließen wird. Die breite Unterstützung der Demokratie in Deutschland ist nämlich mit dem Vorbehalt der Wohlstands- und sozialstaatlichen Wohlfahrtsgarantie versehen und wird sich mit der Losung, in einem freien Land zu leben, nicht abspeisen lassen. Robuste moralische und militärische Aufrüstung werden der Explosion der Mieten und Energieversorgung, der Einschränkung von Mobilität, dem allgemeinen Verlust von Lebensstandard nichts an geistiger Sublimierung entgegenhalten können.

Der tiefsitzende postheroische Raushalte-Pazifismus der Bevölkerungsmehrheit wird einer forcierten Militarisierung der Rolle Deutschlands im internationalen Konzert der Mächte weiterhin Fesseln anlegen wollen. Nur wird sich hierdurch der längst auf den Weg gebrachte bellizistischen Kurswechsel der deutschen Sicherheitspolitik nicht aufhalten lassen. Dies weist für die Zukunft auf sich vertiefende Spaltungen hin, die mit der Metamorphose Deutschlands zum mehr auftrumpfenden bellizistischen Machtstaat die politische Klasse und die Bevölkerung auseinandertreiben werden. Auf eine militaristisch-bellizistische Wehrgesellschaft wird die Politik auch zukünftig nicht bauen können.