Prof. Dr. Markus Vogt (geb. 1962) ist Ordinarius für Christliche Sozialethik an der katholisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er studierte katholische Theologie und Philosophie in München, Jerusalem und Luzern. 2007 übernahm er den Lehrstuhl für Christliche Sozialethik an der LMU. Markus Vogt ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Theologie und Frieden sowie des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften. Seit 2019 ist er Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste.
Der in Israel lebende Historiker und Bestsellerautor Yuval Harari hat in der Süddeutschen Zeitung vom 26.10.2023 einen bemerkenswerten Kommentar zum Krieg im Gazastreifen geschrieben: Seine Leitthese ist, dass der Krieg auch hier eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln sei. Das politische Ziel hinter dem grausamen Terroranschlag der Hamas ist die Zerstörung des so hoffungsvoll angebahnten Friedensschlusses zwischen Israel und Saudi-Arabien. In der Antwort Israels komme alles darauf an, das Kalkül der Hamas, die das Leid sowohl auf israelischer wie auf palästinensischer Seite nicht nur billigend in Kauf nimmt, sondern gezielt eskaliert, nicht aufgehen zu lassen. Das Ziel der Hamas ist eine Demütigung Israels und eine kollektive Empörung über Israels Gegenschläge. Yuval Harari wirft Premier Netanjahu vor, dass er sein politisches Ziel nicht hinreichend geklärt habe: „Mehr als ein Jahrzehnt lang unterließen Israels Kabinette unter Netanjahu alle ernsthaften Versuche, mit gemäßigten palästinensischen Kräften zu einem Frieden zu kommen.“ Harari argumentiert nicht mit einem wohlmeinenden Appell zur Friedensbereitschaft, sondern strategisch mit dem Konflikt zwischen unterschiedlichen politischen Zielen.
Das militärische Ziel, die Organisationsstrukturen der Hamas mit ihren 15-40.000 Kämpfern so weit irgend möglich zu zerstören, ist insofern ethisch legitim, als der Staat dies tun muss, um die Sicherheit seiner Bürger garantieren zu können. Aufgrund des weit verzweigten Tunnelsystems sowie der bewussten Verschanzung der Hamas-Kämpfer hinter der palästinensischen Bevölkerung und der Infrastruktur von Schulen, Krankenhäusern und Moschen ist es jedoch sehr schwierig und vermutlich nur partiell und langfristig möglich, dieses Ziel zu erreichen. Es bedarf einer Evakuierung eines erheblichen Teils der palästinensischen Bevölkerung. Aus Sorge, dass die Rückkehr nicht in absehbarer Zeit möglich sein wird, weigern sich Ägypten oder Jordanien, die Bevölkerung aufzunehmen. Ohne Ägypten als Vermittlungsmacht, wird eine Lösung jedoch kaum gelingen.
Nicht wenige vergleichen die Wirkung des Massakers vom 7. Oktober, des größten Massenmords an Juden seit der Schoah, mit dem Schock, den die USA mit dem Attentat auf das World Trade Center erlitten haben: Beides war eine tiefe Erschütterung des Lebensgefühls, eine zuvor undenkbare Verletzung der Sicherheit. Die Geiselnahme ist physischer und psychischer Terror für ganz Israel in dieser asymmetrischen Kriegsführung. Der 7. Oktober war das 9/11 Israels, kurz: 10/7 (ten/seven). Sicherlich ist jede Situation einmalig und jeder Vergleich hinkt. Dennoch ist die Tiefe des Schocks ein berechtigter Vergleichspunkt. Joe Biden hat jedoch gerade vor dem Hintergrund dieses Vergleiches Benjamin Netanjahu aufgefordert, nicht den gleichen Fehler einer blinden Wut zu machen, der die USA nach 9/11 verfallen sind. Der Irakkrieg hat möglicherweise trotz des militärischen Erfolges mehr Schaden als Nutzen angerichtet und das Kalkül der Attentäter, die Frieden verhindern und Hass säen wollen, aufgehen lassen. Es kommt darauf an, dass der Friedensschluss mit Saudi-Arabien und von dort aus eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und der arabischen Welt nicht auf Dauer unmöglich gemacht werden. Dies muss trotz 10/7 und jetzt erst recht gelingen.
Es ist zutiefst beschämend und ethisch nicht hinnehmbar, wie sehr im Kontext propalästinensischer Demonstrationen ein blanker Antisemitismus sichtbar wird, oft getarnt als Kritik an Israel. Auch in Deutschland. Es gab über 1.100 Straftaten im Kontext propalästinensischer Demonstrationen in Deutschland allein in den ersten beiden Wochen nach dem Attentat, so Innenministerin Nancy Faeser. Gegen die antisemitischen Ausschreitungen in Dagestan (Nordkaukasus) hat die russische Regierung nichts unternommen. Russland setzt darauf, von der Schwächung Israels (und damit auch der USA) sowie der Ablenkung vom Ukrainekrieg zu profitieren. Die internationale Ausweitung des Gazakrieges ist eine enorme Gefahr. Die Hamas wird von langer Hand von Iran aus unterstützt und finanziell sowie mit Waffen ausgestattet. Niemand weiß, wie sehr sich die Hisbollah von Libanon aus einschalten wird. Die Türkei heizt die antijüdische Stimmung in der arabischen Welt an. Für Israel geht es in diesem Konflikt um die Existenz. Das Recht auf Selbstverteidigung zum wirksamen Schutz der eigenen Bevölkerung muss unverkürzt auch von christlicher Friedensethik anerkannt werden.
Es braucht eine starke Solidarität mit Israel, gerade auch von deutscher Seite. Das richtet sich nicht gegen die Palästinenser als Volk, wohl aber gegen die Hamas, deren perfide Gefährlichkeit kaum hinter der des IS zurücksteht. Ihr Programm ist von religiösen Fantasien geprägt und strebt nach einer Vernichtung Israels. Angesichts dieser Tatsache gibt es keine vernünftige Alternative zu dem Ziel einer Selbstverwaltung der Palästinenser jenseits der Hamas. Vielleicht könnte diese temporär von Ägypten oder Jordanien beaufsichtigt oder begleitet werden. Es wird sehr schwierig, hier Regelungen zu finden, die für alle Seiten akzeptabel sind und den vulnerablen Sicherheitsbedürfnissen Rechnung tragen. Von palästinensischer Seite her ist eine Distanzierung von der Hamas unverzichtbar. Die Hamas hat in den letzten Jahrzehnten nichts für die Entwicklung und das Wohlergehen der Palästinenser getan. Ihre politische Macht beruht einzig darauf, dass sie die Wut auf Israel schürt. Mit dem Massaker vom 7. Oktober wurde das wahre Gesicht des palästinensischen Flügels der Muslimbrüder endgültig offenbar. Indem sie die palästinensische Bevölkerung als lebende Schutzschilde missbraucht, trägt sie die Verantwortung für deren Gefährdung, wenngleich auch für die israelische Armee der Schutz der Zivilbevölkerung nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit ein wichtiges Kriterium legitimer Kriegsführung bleibt.
„Friedensverträge fordern Kompromisse“ – so Yuval Harari in seinem bereits zitierten Beitrag. „Gerechter Friede“ sei eine programmatische Überforderung und Überfrachtung. Friedensermöglichend sei im Gegenteil gerade der Verzicht auf die Forderungen der Gerechtigkeit, wie dies beispielsweise in dem Versöhnungsprozess zwischen Juden und Deutschen nach dem Holocaust geschehen sei. Gerechtigkeit zu schaffen sei nach diesen Ereignissen gar nicht denkbar gewesen. Und doch gebe es heute so etwas wie eine (wenngleich sehr fragile) Völkerfreundschaft zwischen Israel und Deutschland. Im Unterschied zu Hararis Interpretation meint das Paradigma des Gerechten Friedens aus christlicher Sicht keine irenische Maximallösung, sondern eine systemische Berücksichtigung der Wechselwirkung zwischen sozialen Verwerfungen und Gewalt. Dies ist auch für den Konflikt im Gaza-Streifen relevant. Gerechter Friede erkennt das Recht auf Heimat, Sicherheit und Menschenwürde sowohl für Juden als auch für Palästinenser an. Er nimmt das Leid auf allen Seiten wahr, gibt der Trauer Raum und sucht auch in scheinbar ausweglosen Situationen nach Wegen der Verständigung – so der lateinische Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pizzaballa, in einem Friedensaufruf vom 24. Oktober.
Frieden im Nahen Osten fordert auch die Suche nach menschlicher Begegnung zwischen Juden und Palästinensern. Herausragend war hier der Appell von Daniel Barenboim vom 13. Oktober 2023, der vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung mit dem israelisch-arabischen West-East Divan Orchestra schrieb: „Nach dem barbarischen Terror der Hamas und anlässlich des Krieges in Nahost mag es naiv klingen, das ist es aber nicht: Genau jetzt müssen wir alle im Anderen den Menschen sehen.“ Hier wird ein Humanismus, der die Grenzen von Nationen, Kulturen und Religionen überschreitet, zur entscheidenden Brücke. Papst Franziskus bezeichnet „echte menschliche Begegnung“ und Dialog in seiner jüngsten Friedensenzyklika „Fratelli tutti“ vom Oktober 2020 als „Handwerk des Friedens“. Es erfordert Mut und Selbstüberwindung, sich auf eine solche Offenheit einzulassen. Da Kriege nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten und Bildern geführt werden, braucht es auch auf der mentalen Ebene Widerstand gegen die Eskalation von Hass und kollektiver Entfremdung.
Ich selbst habe bei meinem Studium in Israel (1986/87) in der Bewegung Schalom Achschaw (Frieden jetzt) viele Israelis erlebt, die wertschätzend von menschlichen Begegnungen mit Palästinensern gesprochen haben und aktiv den politischen und zivilgesellschaftlichen Dialog praktizierten. 10/7 ist ein tiefer Rückschlag für all diese Bemühungen. Vertrauen und Offenheit für die Wahrnehmung des Anderen als Mensch mit seinen spezifischen Erfahrungen und Perspektiven kann nicht von außen verordnet werden, sie müssen von innen her wachsen. Es ist ein Wunder, wenn sie jetzt trotz der tiefen Verletzungen geschehen. Aber sie sind eine unverzichtbare Dimension des Friedensprozesses. Das Kalkül der Hamas darf nicht aufgehen.