Prof. Dr. Jürgen Wertheimer (Universität Tübingen)
Foto: Susan Sontag inmitten der ausgebombten Nationalbibliothek von Sarajewo, 1993
Mit freundlicher Genehmigung von Annie Leibovitz / Prof. Wertheimer
1. Einleitung
Der Name „Cassandra“ ist Programm, ist Chiffre für unser Verhalten. Genauer, für einen unserer größten Verhaltensdefekte – unsere Unfähigkeit / Unwilligkeit zutreffende und berechtigte Warnungen ernsthaft wahrzunehmen. Warum sonst hätte man sonst in der „Ilias“, der Basisgeschichte des werdenden Europas, genau diese etwas tragisch wirkende Figur, an entscheidender Stelle eingeführt: eine Seherin, die eine akute Gefährdung klar erkennt, der aber keiner Glauben schenkt: Trotz ihrer inständigen Warnungen öffnen die Trojaner die Tore und ziehen eigenhändig das todbringende Pferd in die Stadt.
Obwohl sie seither im Ruf einer notorischen Unke, Schwarzseherin, Unheils-Botin steht, haben wir unser Projekt, unseren Ansatz nach ihr benannt. Denn sie steht völlig zu Unrecht in diesem Ruf: Ihre Voraussagen waren richtig – unser Verhalten war falsch. Ihr einziger Fehler besteht nur darin, dass man ihr nicht glaubte oder glauben wollte. Kurz: Es ist an der Zeit, den Fluch der Cassandra endlich zu brechen und unser Wahrnehmungssensorium neu zu justieren!
Prävision, Prävention und Vorausschau sind das Gebot der Stunde – und wir als Literaturwissenschaftler können zu dieser umfassenden Strategiewende einen Beitrag leisten. Denn Literatur kann sehr viel mehr als unterhalten. Sie ist die primäre Quelle, um an dasjenige heranzukommen, das unter Zahlen, Daten, Fakten oft erschlagen und begraben wird – an den Faktor Mensch, an das Individuum. Literatur ernst zu nehmen, heißt Menschen, Einzelwesen ernst zu nehmen, auch sie mitzunehmen – ohne gleich den großen Begriff des Humanismus in Anschlag zu bringen.
Mein Team, das Projekt Cassandra, hat im Verlauf der vergangenen drei Jahre zwar einiges erreicht, was die Methodik und die Arbeit am Text betrifft, ist jedoch leider noch davon entfernt, das Potential und die Erkenntnisse operativ umzusetzen zu können. Dazu bedürfte es einer weitaus stärkeren Vernetzung mit europäischen Institutionen, die fähig und willens sind, die jeweiligen Empfehlungen aufzunehmen und kommunikativ umzusetzen.
Die These des Modells ist, dass literarische Texte latente Spannungen und Gewaltpotentiale mehrere Jahre im Voraus erkennen können. Sie sind authentische Zeugnisse, Fußabdrücke des kulturellen Genoms. Liest man Sie richtig, entdeckt man wichtige Spuren. Was meine ich mit „richtig lesen“?
Ich meine selbstverständlich nicht damit, dass man drohende Konflikte – hellseherisch – bereits Jahre zuvor literarisch abgebildet findet. Oder dass man konkrete Hinweise findet auf Eskalationen, die in so und so viel Jahren an dieser und jener Stelle erfolgen werden. Es geht weniger um planerische Voraussagen von Fakten als um ein Ausloten von Möglichkeiten. Um ein „Etwas", das in einer Geschichte angelegt ist, ohne dass der Autor selbst es möglicherweise ahnt: sich allmählich aufbauende gesellschaftliche Nervosität und Verunsicherung, soziale Spannungen und Irritationen, manipulative Tendenzen etc. All dies konkret in Figuren und Situationen übersetzt. Literarische Texte sind schonungslose Protokolle der Wirklichkeit und deshalb Quellen von unschätzbarem Wert. Wir „lesen“ sie in der Art wie Mediziner ein Röntgenbild „lesen“ oder wie ein Pathologe den Körper seziert.
2. Ansatz und Verfahren
Denn genau darum geht es uns im Wesentlichen: Texte auf ihr Veränderungspotential hin zu lesen und zu analysieren. Stimmungslagen zu ergründen, Verdecktes zu enthüllen, nach Spuren suchen, Strukturen erkennen. Richtig gelesen machen solche Texte erkennbar, wohin der Weg führen könnte. Literarische Texte können dies, weil sie ein Archiv, ein Speicher der kollektiven Erfahrungen einer Kultur sind, Unausgesprochenes, die Seelenzustände von Individuen aber auch die Mentalitäten von Klassen, von Regionen und Orten bis ins Detail ausloten.
Und weil die Literatur die Vorgeschichte kennt, ist sie im Stande, auch kommende Entwicklungen zu antizipieren, Gefährdungen und Krisen vorauszusehen und bisweilen auch vorauszusagen. Utopische wie auch dystopische Romane tun genau dies – die einen, indem sie den bestmöglichen weiteren Verlauf, die anderen die schlimmstmögliche Wendung in konkrete Bilder und Symbole fassen.
Gleich, ob es sich um „tektonische“ Verschiebungen auf dem Sektor des Sozialen, Ökonomischen, Ökologischen oder Politisch/Militärischen handelt.
Wir wissen sehr wohl, dass derzeit generell die Weichen der Prognostik in Richtung KI und Big Data gestellt sind. Allerdings sollte dies kein Nachteil für unseren Ansatz sein. „Cassandra“ könnte eine wichtige Ergänzung zu quantitativ arbeitenden Ansätzen sein. Nicht nur, weil unser Ansatz auch diffizile Codes dechiffrieren kann (dass etwa das Bild der „grünen Vögel“ in der Sprache der Islamisten für Attentäter/Märtyrer steht, ist maschineller Lektüre nicht ohne Weiteres zugänglich), sondern vor allem, weil wir mittels der spezifischen Sensibilität der Autoren den häufig ignorierten Bereichen der Emotionen nahekommen und sie wissenschaftlich durchdringen. Die „Cassandra-Methode“ macht es möglich, die Gefühle und Gedanken der Menschen nicht nur zu lesen (wie gewisse Stränge der KI dies derzeit erstreben), sondern auch zu dechiffrieren – auch und gerade solche, die zunächst nicht offen zutage treten, jedoch auf längere Sicht zur Eskalation und Gewalt führen können.
Statt retrospektiv mühsam die Vorgeschichte eines unheilvollen Ereignisses zu rekonstruieren, schlagen wir umgekehrt vor, mögliche Entwicklungen im Vorfeld durchzuspielen. Die Literatur ist das Simulationsmedium schlechthin. Man spielt den Ernstfall durch, hautnah und doch – noch – folgenlos. Genau dieses ernsthafte Spiel mit der Wirklichkeit fasziniert die Leser und (im Fall von Filmen und Theaterstücken) Zuschauer. Im Rahmen des Projekts Cassandra untersuchen wir genau diese Vorgänge, dokumentieren und kategorisieren den jeweiligen Befund.
Parameter wie Emotionalisierung, Meinungsbeeinflussung, Feindbildkonstruktion, Mythologisierungen und symbolische Gewalt werden herausgegriffen, ausgewertet und einem Scoring unterzogen. Durch die Auswertung wurden Indikatoren für das Aufzeigen von aktuellen thematischen und emotionalen Trends und potenziellen (Gewalt-)Dynamiken entwickelt. Regionale Schwerpunkte des Modells waren und sind bislang europäische und außereuropäische Bruchstellen – Kosovo/Serbien und Algerien (Maghreb) und das von Boko Haram und IS gebeutelte Nigeria. Wole Soyinka ist dort unsere Cassandra – wir brauchen Hunderte davon, um die üblichen Taktiken (Drohungen mit Feindbildern, verbale Entmenschlichung des Gegners, die Verwendung unscharfer Neologismen, Mimikry, Umkehrungen von Lüge/Wahrheit, falsches Bedauern u.a.) zu entschlüsseln und zu interpretieren. Und all diese Zeichen sind klar dechiffrierbar – es liegt an uns, dies zu tun und angemessen zu reagieren.
Die beschriebene Literaturauswertung wird im Weiteren in einer auf einer Textdatenbank beruhenden Conflict and Emotion Map visuell dargestellt. Die Conflict and Emotion Map zeigt auf einer kartenähnlichen Übersicht die emotionalen Kräfte auf, die versteckt in Menschengruppen schlummern.
Um Einfärbungen auf einer geographischen Karte vorzunehmen zu können, die über bloße Grün/Rot-Dichotomien hinausgehen, bedarf es numerischer Werte, welche die Farben dann veranschaulichen können. Der Conflict and Emotion Map liegt dazu ein Risk Score zugrunde, der die aufsummierten Werte darstellt. Der daraus resultierende Gesamtscore der Quelle wird dann auf alle geographischen Attribute (Länder, Regionen, Orte) angewendet und sichtbar gemacht.
Als Indikatoren erfasst wird das Auftauchen von Genres und Subgenres wie historische Romane, Kriminalromane, Satiren, Dystopien/Utopien oder Science-Fiction, das vermehrte Erscheinen bestimmter Themen in Verbindung mit bestimmten Rezeptionsmustern (lokale Literaturpreise, hohe Auflagenzahlen und Skandale) sowie bestimmte Erzählstrategien (wie Dehumanisierungen oder Feindbildkonstruktionen). Allesamt Zeichen für gefährliche Zuspitzungen und manipulative Akte.
Weil bisherige Fallstudien gezeigt haben, dass sich mit der Analyse von Literatur und Literaturphänomenen nicht nur Negativ-Entwicklungen, sondern auch Positiv-Entwicklungen im Sinne der Stärkung der Resilienz beobachten lassen, wurde der Skala außerdem ein Punktefeld für das Erfassen von Indikatoren wie Dialogizität, mehrperspektivisches Erzählen/Erinnern, Öffnung für Mehrsprachigkeit, Wachstum und Diversität der Verlagslandschaft und die Förderung von Übersetzungen hinzugefügt.
Die Map gibt somit auch dem schnellen Beobachter einen Überblick, ob die landesweite, gewalttätige Revolution vor der Tür steht oder die kommenden Demonstrationen eine Eintagsfliege bleiben, ob die Millioneninvestitionen im Landstrich X oder Staat Y von bislang unsichtbaren zerstörerischen Kräften bedroht werden oder die Vorbereitung einer Evakuierungsmission angeraten scheint.
An die Länder des arabischen Frühlings gedacht: Wie wird der ins Stocken geratene revolutionäre Prozess weitergehen? Wird er weitergehen? Was kann Europa falsch, was richtig machen? (z.B. die Texte von Boualem Sansal, Daoud). Wir begleiten die ablaufenden Vorgänge permanent.
An den Balkanraum: Wie wird der latente Gärungsprozess zwischen Autonomie und europäischer Integration sich in den kommenden Jahren entwickeln? Wie können wir einen möglichen Befriedungs-Prozess unterstützen? (z.B. die Texte von Andric, Cufaj, Albahari)
Wie sehen die ideologischen, weltanschaulichen und sozialen Verwerfungen in der Ukraine als Territorium zwischen Ost und West aus? Die Texte der Nobelpreisträgerin S. Alexeijwitsch sind eine Fundgrube für tiefgreifende Erkenntnisse.
Zudem können auf Grundlage der Map auch Gegennarrative zur Krisenprävention und Versöhnung erarbeitet und aufzeigt werden. Manchmal in Form einer Pointe, die den aufgeblasenen Anspruch der Ideologen zum Platzen bringt. Im Kontext der Balkankriege war es üblich, alle behördlichen Gebäude mit patriotischen Benennungen zu beschriften: „Hier ist Serbien“. Ein listiger Graffiti-Sprayer schrieb darunter: „Idiot, hier ist die Post“ und rückte die Dinge mit ein paar Worten zurecht.
Wer, wenn nicht AutorInnen könnte versierter sein, um Gegennarrative für die eigene Kultur zu entwickeln?
Eine weitere Besonderheit unseres Ansatzes ist die netzwerkartige Zusammenarbeit mit Literaturschaffenden (AutorInnen, KünstlerInnen) aus aller Welt – in Sonderheit mit AutorInnen aus konfliktgefährdeten Regionen in Europa und an dessen Rändern: Derzeit planen wir in Zusammenarbeit mit Hunderten von ehemaligen und aktuellen Stipendiaten der Akademie „Solitude“ in Marbach ein europa- oder weltweit agierendes Netzwerk solcher „Cassandra-Seismografen“.
Wir konnten feststellen, dass das Cassandra-Projekt unter den Literaturschaffenden der Welt einen sehr positiven Ruf hat, weil es der Gewaltprävention dient, weil es die SchriftstellerInnen aktiv in den Prozess der Friedenssicherung einbezieht. Ohne Verdienst, ohne Anstellung, ohne eigenen Zusatznutzen fühlen sich AutorInnen weltweit berufen, auf emotionale Bewegungen in ihren jeweiligen Bevölkerungen hinzuweisen, insbesondere auf gewaltsteigernde Narrative, Geschichten und Bilder. Diese Kooperation, dieser permanente Austausch ermöglicht schnell auch außerhalb derzeitiger Krisenräume den tiefgehenden Einblick in die jeweilige Motivationslage der Bevölkerung und der Entscheidungsträger. Zudem können die AutorInnen-Netzwerke als Immunisierung von Gesellschaften gegen Extremismus und Terrorismus gefördert werden.
Literatur spielt alle Möglichkeiten im Vorfeld durch. Sie macht versierter, resilienter durch Simulation. Wie Herta Müller einmal sagte, man lernt es, sich einen eigenen mentalen Raum auch unter totalitären Bedingungen zu sichern. Der israelische Autor David Grossman brachte es auf die Formel: „Man wird weniger leicht zum Opfer“.
3. Erstes Fazit und bisherige Ergebnisse
Das Prognosemodell eignet sich für den Einsatz zur Vorausschau emotionaler Bewegungen und insbesondere von Krisen und Konflikten. Das Modell ist im Verbund aller Krisenvorsorgemechanismen hervorragend einsetzbar, weil es auf andere Lebensbereiche übertragbar ist und durch die Zivilgesellschaft unterstützt werden kann. Es kann daher die Arbeit unterschiedlicher Institutionen Ressorts, Parlamente unterstützen und deren Aktivitäten synthetisieren. Es bringt die Anwender aus der passiven Rolle des Warners in die des proaktiv Handelnden und Gestaltenden. Eine Instanz, die erkennt, reagiert, agiert, BEVOR ein Konflikt eskaliert – dann, wenn es möglich ist, ein im Ausbruch befindliches Feuer noch mit relativ geringem Aufwand zu löschen und einen Kompromiss, wenn nicht eine Befriedung zu erreichen.
Ich hoffe, es ist mir gelungen, Ihnen zumindest zu vermitteln, dass wir imstande sind, den so extrem schwierig benennbaren, emotionsbezogenen missing link zum Gesamtbild zu liefern und eine ideale Ergänzung zu digitalen und anderen politikanalysierenden Ansätzen darstellen können.
Unter zwei Voraussetzungen: Da sich das Cassandra-Projekt in diesem Sinne als partnerschaftlich versteht und Partner sein möchte – braucht es solche Partner, um diesem großen Anspruch gerecht werden zu können.
Und, dass es gelingt eine Schwäche der menschlichen Natur zu überwinden: In Dürrenmatts „Biedermann und die Brandstifter“ wird dargestellt, wie und warum wir immer wieder in die „Cassandra-Falle“ tappen: aus einer komplexen Mischung aus Trägheit, Höflichkeit, Eitelkeit und Feigheit heraus. Eine scheinbar „professionelle“ Haltung, die es uns ermöglicht, so lange wie irgend möglich passiv zu bleiben, nichts zu riskieren, und erst im allerletzten Moment aktiv zu werden.
Informiert, ja überinformiert sind wir derzeit wie noch nie — wir ersticken in Fakten. Aber wie und wann schaffen wir es, Ordnung in diese Informationsfluten zu bringen, wie Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, wie Erkenntnis in Entscheidung und Operation umzusetzen? Wie schaffen wir es, Cassandras Prognosen nicht reflexartig abzuwehren, sondern sie so ernst zu nehmen, wie sie es verdienen? Meine Antwort: Nur, indem wir versuchen, die Phänomene im Zusammenhang, im Kontext zu sehen. Wir brauchen eine holistische, auf die ganze Wirklichkeit ausgerichtete Methode. Alle Ideologien müssen auf den Prüfstand.
Zu den Realitäten. Zurück zur Gegenwart. Was haben wir konkret erreicht? Hier eine exemplarische Auswahl.
Es gilt, Technologiefolgen ungeschminkt und unbeeinflusst von Individualinteressen zu erörtern und Freiräume für solche Kontroversen zu suchen und zu schaffen. Die jüngsten Ereignisse auch in Deutschland zeigen, dass das Gefühl, nicht wahrgenommen, nicht gehört zu werden, mit zu den stärksten aggressionssteigernden Faktoren zu rechnen ist, ob es sich nun um das ideologisch aufgeladene Instrument der Impfung oder die Applikation der Genschere handelt.
Hochsensible potenzielle Kampfzonen wurden durch die inzwischen schon fast ein Jahrhundert alten Werke der klassischen Moderne wie von Huxley und Orwell („Schöne Neue Welt“, „1984“) ebenso klarsichtig beleuchtet wie durch eine Autorin der Moderne wie Juli Zeh, die bereits vor ca. 15 Jahren die Gefahr der viel diskutierten „Gesundheitsdiktatur“ ahnte. Nicht anders verhält es sich mit den gewaltigen Folgen der Energiewende, die die Lebensentwürfe betroffener Menschen im Osten und Westen vor neue Herausforderungen stellt (Von der Grün, Zech, Goosen).
Auch das rechtsstaatliche System, Herzstück der europäischen Demokratien, könnte durch einen intensiveren Austausch mit den Einsichten der Literatur an Profil und Glaubwürdigkeit gewinnen. Nicht nur, wenn das System durch die Konfrontation mit anderen Kultur- oder Wertesystemen an die Grenzen seiner Belastbarkeit oder in massive Zweifel kommt.
Von den Versprechungen und Gefahren, die durch die Anwendung künstlicher Intelligenz erwachsen (Lem, Schätzing, Kling, McEwan) wäre gleichfalls zu reden. Die Autoren erzählen keine abstrusen Horrorgeschichten, sondern loten Möglichkeiten aus, die oft genug wenig später zu Realitäten werden sollten. Die fromme Geschichte von der angeblich jederzeit durch den Menschen kontrollierbaren tiefen KI hat mehrere Schwachstellen, über die man jetzt reden sollte – denn es geht um Sein oder Nichtsein des „Individuums“ in seiner jetzigen Gestalt. Um Lebensentwürfe, Familienmodelle, Fragen der Koexistenz u.a.
Und nicht nur zu reden. Jetzt ist der Moment gekommen, konkrete Entscheidungen zu treffen – zumindest das Instrument der Kritik nicht nur als hinderlichen Störfaktor zur Kenntnis zu nehmen. Was in der zusehends auf Polarisierung und Lagerdenken gepolten derzeitigen Situation bereits eine nicht geringe Leistung darstellt.
Wir leben nicht erst jetzt, aber möglicherweise jetzt in besonderem Maße in Zeiten rhetorischer Kriegsführung und eines unserer primären Ziele sollte darauf ausgerichtet sein, dieser toxischen Tendenz verstärkt korrespondierende Narrative gegenüberzustellen. Die Mittel der spaltenden Kriegsrhetorik sind begrenzt – die Mittel der geeigneter Gegennarrative sind jedoch nahezu unbegrenzt. Es sollte möglich sein, an dieser ganz entscheidenden Stelle die Lufthoheit über die Sprache zurückzugewinnen. Und die simplen, aber wirksamen Strategien des Gegners auszuhebeln.
4. Nächste Schritte
In Anbetracht der skizzierten Rahmenbedingungen schlagen wir zusammenfassend folgende Leitlinie für den Zeitraum der anstehenden drei bis fünf Jahre vor:
Was die Operationalisierung und praktische Umsetzung all dessen betrifft, so müssten Wissenschaft, Medien und Institutionen zusammenwirken, um die Lücke zwischen Information, Interpretation und Aktion zu schließen. Die Institutionen der EU könnten und sollten hier an zentraler Stelle agieren können. Wir können allenfalls Ideen und Anregungen dazu geben.
Wir können:
Zudem könnte das Projekt dadurch operationalisiert werden, dass Kulturschaffende geschützt und gefördert werden als „Immunisierung" gegen Extremismus und Terrorismus. Kulturschaffende zeichnen sich oft durch politische Unabhängigkeit und Neutralität aus und stehen für eine Stärkung von Demokratie, Menschenrechten und Vielfalt. Hier wäre z.B. eine Kooperation mit den Goethe-Instituten denkbar.
Statt eines Schlusswortes – ein Traum; ein realitätsbezogener Tagtraum: Cassandra, das Prinzip Cassandra, als e i n Baustein innerhalb des gesamten Informations-Puzzles an Erkenntnispools, aus dem die Institutionen in Straßburg und Brüssel schöpfen, um Entscheidungen zu treffen. Zukunftsweisende Entscheidungen. Als Drehscheibe zwischen den Ressorts, den Mitgliedsländern. Als jederzeit aktivierbares Element der Befragung.
Kein delphisches Orakel, aber eine zuverlässige ungetrübte Informationsquelle, die etwas mehr als bloße „Fakten“ und Daten liefert und Einblick gibt in das gibt, was den Menschen, insbesondere in Konfliktsituationen, bewegt: Gefühle, durchaus auch uneindeutige, gemischte Gefühle, verdeckte Zusammenhänge und oft auch ambivalente Hintergründe. Wenn wir uns diesen Grauzonen unserer Existenz nicht stellen, werden wir die Menschen nie im entscheidenden Moment dort abholen können, wo sie stehen. Und damit fortfahren auf Sicht zu fahren und wie so oft zu spät zu kommen.