Hamburg - 09.03.2022

Christsein in einer fragilen Welt – Revisionen der Friedensethik angesichts des Ukrainekrieges

Prof. Dr. Markus Vogt

Prof. Dr. Markus Vogt (geb. 1962) ist Ordinarius für Christliche Sozialethik an der katholisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er studierte katholische Theologie und Philosophie in München, Jerusalem und Luzern. 2007 übernahm er den Lehrstuhl für Christliche Sozialethik an der LMU. Markus Vogt ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Theologie und Frieden sowie des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften. Seit 2019 ist er Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste.

Mit dem brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine, den der russische Präsident ohne äußeren Anlass persönlich vorangetrieben hat, wurde nicht nur die territoriale Integrität einer souveränen Nation verletzt, sondern zugleich ein Angriff auf die Werteordnung Europas und der Vereinten Nationen unternommen. Die Menschen in der Ukraine erwehren sich mit großer Entschlossenheit und Opferbereitschaft sowie dem unbändigen Mut der Verzweiflung der russischen Übermacht. Unter diesem Eindruck entstand eine in der bisherigen Geschichte beispielslose Welle weltweiter Solidarität, die mit politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sanktionen unterlegt ist. Russland selbst schadet sich massiv mit dem Angriff auf die Ukraine und wird mit internationaler Isolation gestraft. Doch darf die Einigkeit der internationalen Reaktion nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Beistand insgesamt eine gemischte Bilanz auszustellen ist: Beispielsweise kommen Waffenlieferungen aus Deutschland als Unterstützung für die Ukraine zu spät, um die Bevölkerung wirksam zu schützen, wenn dies denn überhaupt möglich gewesen wäre.

Wir hätten viel früher wachsam sein müssen. Bereits seit vielen Jahren und gebündelt in seinem Essay "On the Historical Unity of Russians and Ukrainians" (12. Juli 2021) hat der russische Präsident, der sich zuweilen als Hobbyhistoriker betätigt, der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen und einen russischen Hegemonieanspruch deklariert.[1] Wie wir im Rückblick erkennen, war es fahrlässig, die Bedrohung nicht viel ernster zu nehmen. Angesichts der offensiven Verachtung des Völkerrechts und des expliziten Zieles von Putin, die Einheit Europas zu schwächen, war es unverantwortlich, sich energiepolitisch von Russland abhängig zu machen und sich den Illusionen einer Appeasementpolitik hinzugeben, die Putin ausgenutzt hat, um die Macht seines Regimes international systematisch auszubauen und offen wie verdeckt die westlichen Demokratien zu destabilisieren.

So schmerzvoll es ist, tatenlos zusehen zu müssen, wie das ukrainische Volk in seiner Existenz bedroht wird und absehbar noch mehr unermessliches Leid und möglicherweise den Verlust seiner Souveränität wird hinnehmen müssen, so sehr bleibt es aus Klugheit geboten, dass die NATO und die USA nicht direkt in den Konflikt eingreifen. Nicht zuletzt wegen der bereits angedrohten atomaren Ausweitung des Konfliktes hätte dies weltweit unabsehbare Risiken, die einzugehen unverantwortlich sein würde. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro als zusätzlicher Etat für die Bundeswehr ist ein notwendiger Schritt, um künftig nicht ganz hilflos ausgeliefert zu sein, wenn unser eigenes Land bedroht sein sollte. Er ist auch ethisch geboten, um den sicherheitspolitisch nötigen Beitrag zu einer neuen Sicherheitsarchitektur nach dem Ukrainekrieg leisten zu können. Der überparteiliche Konsens hierzu, der rasch zustande kam, obwohl er von Grünen und SPD abverlangt, überkommene friedenspolitische Überzeugungen hinter sich zu lassen, ist auch aus der Sicht christlicher Friedensethik zu begrüßen. Es wird aber lange dauern, bis das deutsche Militär hinreichend für die komplexen neuen Herausforderungen gerüstet ist, und es braucht über das Geld hinaus neue, strategisch und friedenspolitisch vorausblickende Impulse sowie eine Verstärkung der europäischen Kooperation. Notwendiger Bestandteil der neuen Sicherheitsarchitektur ist es, die energiepoli­tische Resilienz zu erhöhen und die Vulnerabilität gegenüber Cyberangriffen zu reduzieren.

Als Vertreter des Fachs Christliche Sozialethik stelle ich mir die Frage, wie viel meine friedensethischen Überlegungen der vergangenen Jahre sowie die Leitlinien der Katholischen Soziallehre noch wert sind angesichts des neuen Bedrohungsszenarios. Manche ethische Theorien waren von der Vorstellung geprägt, dass der Krieg in Europa lediglich ein Phänomen dunkler Vergangenheit sei. Eine Auffassung, die aus heutiger Perspektive als naiv und überholt gelten muss. Die Erfahrungen der letzten Wochen haben eine Lücke in der ethischen Debatte offenbart, die uns zwingt diese theoretischen Defizite zügig auszugleichen und der Friedens- und Sicherheitsethik auch innerhalb der Theologie ein weit größeres Gewicht zuzuerkennen. Die friedensethischen Konsequenzen des Christseins in einer fragilen Welt müssen neu ausgelotet werden. Es gibt aber auch Aspekte christlicher Friedensethik, die gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse aktuell erscheinen und lohnen, neu in Erinnerung gerufen zu werden. Die Überzeugung beispielsweise, dass die entscheidende Bedrohung unseres Friedens an den östlichen Grenzen Europas verhandelt wird, und dass die Menschen dort an vorderster Front unsere Werte Freiheit, Menschenrechte, Toleranz und Demokratie verteidigen,[2] hat mich bereits vor vielen Jahren motiviert, mich in der Ukraine zu engagieren. Am Beispiel des aktuellen Krieges lernen wir schmerzhaft, dass demokratische Werte proaktiv und existenziell verteidigt werden müssen, denn seit gut zehn Jahren erstarken weltweit autoritäre Regime und Parteien. Mediale Manipulationen durch postfaktische Kommunikationsformen zeigen ihre Verachtung für die Wahrheit. Heute ist deutlicher denn je: Wir brauchen eine nach innen und außen wehrhafte Demokratie.

Auch die päpstlichen Lehrschreiben enthalten Aspekte aktueller Relevanz. In der Enzyklika Fratelli tutti, die Papst Franziskus im Oktober 2020 veröffentlicht hat[3] und die zu Unrecht kaum als Friedensenzyklika wahrgenommen wurde, hat der Papst eindringlich und vorausschauend darauf hingewiesen, dass der Weltfriede akut gefährdet sei. Er sah die „Politik der Abschottung“ in ihren vielfältigen Erscheinungsformen als Menetekel des allmählichen Hineinschlitterns in die Gefahr eines Dritten Weltkrieges. Schon den Besitz und erst recht das Androhen des Einsatzes von atomaren Waffen beurteilt er als moralisch verwerflich. Seine pazifistische Ablehnung jeglicher Kriegsführung hält m.E. der Notwendigkeit, den bewaffneten Gewaltexzessen und Aggressionen wehrhaft entgegenzutreten, nicht stand.[4] Für eine direkte militärische Intervention, die die NATO außerhalb ihres Bündnisgebietes zur Kriegspartei machen würden, sind uns gegenwärtig jedoch aufgrund der Unberechenbarkeit einer weltweiten Konflikteskalation bis hin zu einer atomaren Auseinandersetzung, für die die Schwelle aufgrund der Vielfalt „kleiner“ Atomwaffen geringer geworden ist, die Hände weitgehend gebunden.

Die Enzyklika enthält auch Überlegungen, die gerade jetzt wegweisend sein können bei der mühsamen Suche nach Auswegen aus den Spiralen der Gewalt. Am Anfang steht die nüchterne Analyse der Situation: Krieg sei „kein Gespenst der Vergangenheit, sondern ist zu einer ständigen Bedrohung geworden“ (FT 256). Nach der Einschätzung von Papst Franziskus wurde das Ende des Kalten Krieges nicht ausreichend genutzt, um dauerhaften Frieden zu schaffen und die Architektur einer neuen Weltordnung u.a. durch Reformen der UNO voranzutreiben. Leitender Maßstab ist für den Papst – wie schon für Johannes Paul II. – das Prinzip der Menschheitsfamilie, das zu grenzüberschreitender Geschwisterlichkeit verpflichte, die Kategorie der Nation relativiere und durch eine Verteidigung der universalen Menschenrechte zu sichern sei. Gerade vor dem Hintergrund vieler verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen sowie des gemeinsamen christlichen Glaubens ist der Krieg gänzlich absurd.

Man kann die christliche Friedensethik unter dem Paradigma des Gerechten Friedens, zu dem die deutschen Bischöfe 2000 eine wegweisende Schrift veröffentlicht haben,[5] zusammenfassen: Mit Waffen allein kann man demnach einen Krieg, aber niemals den Frieden gewinnen. Es braucht auch die stets wache und frühzeitige Benennung von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, wo sie sich im Alltag ausbreiten. Unverzichtbar sind ebenso diplomatische und zivilgesellschaftliche Initiativen des Widerstandes auf allen Ebenen[6] sowie eine Entmythologisierung von vermeintlichen Rechtfertigungen des Krieges durch nationalistische Identitätskonstruktionen. Wo Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geschwächt werden sowie die (Semi-)Öffentlichkeiten in der digitalen Welt manipuliert werden, bedarf es frühzeitiger Kritik, da sich in deren Schatten nationalistisch-aggressive Denkmuster herausbilden können. Zum gerechten Frieden gehört es auch, generalisierende Feindbilder zu vermeiden, und immer wieder neu die Kraft der Versöhnung zu suchen. „Gerechter Friede“ ist kein pazifistisches Paradigma, sondern eine Erweiterung des Blicks auf die Vielfalt und Vernetzung von militärischen und zivilgesellschaftlichen Arenen des Ringens um Frieden und Sicherheit.[7]

Im Ringen um Frieden und Sicherheit können und müssen die jeweiligen Akteure ihren je spezifischen Beitrag leisten. Jedem ist dabei ein unterschiedlicher Aktionsradius gegeben, der die Handlungsmöglichkeiten aufzeigt.

Von außen, also durch das direkte Eingreifen anderer Staaten, kann Putin nur sehr begrenzt gestoppt werden. Es wird vor allem auf das Verhalten des russischen Volkes ankommen. Die öffentliche Kritik am Angriffskrieg durch 7000 russische Wissenschaftler, die ihn als ungerecht und sinnlos bezeichnen und damit ein hohes persönliches Risiko eingehen, ist ein Zeichen, das Mut macht. Allerdings hat die Konferenz der Hochschulrektoren am 4.3. dagegen eine vehemente Unterstützung der Kriegspolitik von Putin veröffentlicht.[8]Eine gewichtige Stimme könnte auch der russisch-orthodoxen Kirche zukommen, wobei zwischen der Amtskirche (d.h. Patriarch Kyrill sowie der Mehrheit seiner Bischöfe) und der kirchlichen Basis (viele Priester und Millionen Gläubige, die keinen Krieg wollen) zu unterscheiden ist. Patriarch Kyrill will noch mehr als Putin Kiew in das russische Staatsgebilde hineinzwingen, denn Kiew hat für ihn als Zentrum der russischen Orthodoxie einen hohen Symbolwert. Das Konzept einer „Russischen Welt“ bzw. der erste Entwurf hierzu stammt nicht aus Putins Feder, sondern wurde vom Patriarchen verfasst. Am 6. März predigte er zur Legitimierung des Krieges, dass die Ukrainer acht Jahren lang die Russen im Donbass unterdrückt und getötet hätten, und dass die Befreiung der dort lebenden Russen sowie eine Verteidigung der orthodoxen Welt gegen den Einfluss des vermeintlich moralisch dekadenten Westens geboten sei.[9] Von den Gläubigen der orthodoxen Kirche bitten dagegen viele in den sozialen Medien die Ukrainer um Vergebung für den Krieg, der viel Leid über sie bringt.[10] Die russisch-orthodoxe Kirche in der Ukraine hat sich 2013 bei der Maidan-Revolution immerhin nicht gegen die Demonstrierenden gestellt.[11] Das war ein wichtiges Zeichen der Hoffnung.

Der innerorthodoxe Konflikt ist jedoch tief. Durch die Deklaration der Eigenständigkeit (Autokephalie) der ukrainischen Orthodoxie und deren Unterstützung durch Patriarch Batholomaios sieht sich Kyrill in seinem Macht- und Primatsanspruch bedroht. In den Jahren 2000 und 2008 hat die russisch-orthodoxe Kirche eine Sozialdoktrin veröffentlicht, die man – zumindest in der Deutung von Patriarch Kyrill – als Kampfansage gegen Menschenrechte, Demokratie und westliche Freiheitswerte lesen kann und die sich deutlich von der 2018 unter der Führung von Patriarch Bartholomaios von Konstantinopel veröffentlichen panorthodoxen Sozialdoktrin unterscheidet.[12] Patriarch Kyrill steht Putin sehr nahe. Er sieht seine Aufgabe darin, ihn beim Krieg gegen die Ukraine nach allen Kräften zu unterstützen. Nach seinem Verständnis der „Symphonie“ zwischen Staat und Kirche wird er Putin niemals kritisieren. Umgekehrt hat auch die russisch-orthodoxe Kirche für Putin eine Schlüsselbedeutung. Am Ende ist es eine religiös-mythisch untermauerte identitätspolitische Illusion, der der russische Präsident als vermeintlicher Rechtfertigung des Krieges anhängt und die er und Kyrill propagieren. Religiöse Aufklärung tut Not. Es wäre ein Befreiungsschlag von unschätzbarer Wirkung, wenn sich möglichst viele orthodoxe Gläubige davon emanzipieren und zum Vorrang des Friedens als zentraler Christenpflicht bekennen würden. Viele Bischöfe haben bereits Kyrill aus dem Hochgebet gestrichen, was nach orthodoxem Verständnis einer Aufkündigung der Gemeinschaft gleichkommt.[13]

Den internationalen Kräften ist die unmittelbare Einflussnahme durch militärische Intervention versperrt, aber sie sind nicht tatenlos geblieben. Die wirtschaftliche, finanzpolitische, sportliche, wissenschaftliche und kulturelle Sanktionierung Russlands auf allen Ebenen könnte durch die umfassende Vielfalt der Maßnahmen eine weitreichende Wirkung auf die russische Gesellschaft entfalten. Sie kann zwar nicht unmittelbar und kurzfristig die Gewalt aufhalten, aber sie wird den bis vor kurzem noch starken Rückhalt Putins in Russland und weltweit schwächen. Die Isolierung Russlands in der Vollversammlung der UNO war ein wichtiges Signal neuer weltweiter Einigkeit der Völkergemeinschaft in der Verteidigung der Menschenrechte und des Rechts auf staatliche Souveränität. Aber keineswegs alle Staaten tragen die Isolierung Russlands derzeit mit (s. Karte unten).

Es bleibt abzuwarten, wie sich Indien verhalten wird, das von russischen Waffenlieferungen abhängig ist, und wie China agieren wird, das angesichts der eigenen genozidartigen Menschrechtsverletzungen gegenüber den Tibetern, der Bevölkerung der Inneren Mongolei und den Uiguren vor einer Verurteilung Russlands zurückschreckt und das durch eine finanzpolitische und ökonomische Kooperation mit Russland die Wirkung der Sanktionen massiv schwächen könnte. Zu oft hat Putin die Erfahrung gemacht, dass wirtschaftliche Interessen viele Akteure über sein völkerrechtswidriges Handeln hinwegsehen ließen. So verhielt es sich bei der Annektierung der Krim und dem verdeckten Low-intensity-Krieg im Donbass sowie, was seine Unterstützung für verbrecherische Diktatoren wie Assad in Syrien oder Lukaschenko in Belarus anbelangt. Das Einfrieren russischer Konten bei Schweizer Banken war ein wichtiger Schritt. Aber der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem ist bisher nur halbherzig. Deutschland muss die Energiewende beschleunigen und neu im Spannungsfeld zwischen Energiesicherheit, Klimaschutz und Sozialverträglichkeit ausloten, um rasch vom russischen Gas unabhängig zu werden.

Die europäischen Gesellschaften machen ihre Solidarität durch ein hohes Maß an Nachbarschaftshilfe deutlich. Die Bereitschaft zu humanitärer Hilfe für die Ukraine und zur offenen Aufnahme des wachsenden Zustroms von Migranten – besonders in Polen – ist überwältigend. Angesichts des unermesslichen Leids und der militärischen Grausamkeiten in der Ukraine ist dies allerdings ein schwacher Trost. Es ist ein böses Zeichen, dass die Ukraine nach ihrem freiwilligen Verzicht auf Atomwaffen im Budapester Memorandum (1994) die Erfahrung machen muss, nun so hilflos der Gewalt ausgeliefert zu sein und von der internationalen Gemeinschaft keinen ausreichenden Schutz zu erhalten. Es hätte beispielsweise auch von deutscher Seite vorsorgend der Lieferung von Defensivwaffen und Lebensmitteldepots für die großen Städte, die jetzt umzingelt werden, sowie der Unterstützung bei der militärischen Schulung bedurft.

Die Herausforderung dieser Tage macht deutlich, dass es nicht allein darum geht, den flagranten Krieg zu bändigen und das Leiden und Sterben in der Ukraine enden zu lassen. Vielmehr ist er ein Fanal derzeitiger Umbrüche, die eine intensive ethisch-reflexive Auseinandersetzung fordern. Wir leben in einer Zeit der multiplen Krisen und des beschleunigten Wandels einer multipolaren Welt, die zunehmend durch eine höchst vielschichtige „Evolution der Gewalt“[14] geprägt ist. Dabei verlieren bekannte Ordnungsmuster in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an Geltung, ohne dass die künftige Ordnung schon erkennbar ist. Als Reaktion auf die daraus resultierende Unsicherheit wird das Streben nach Sicherheit und Krisenresistenz von Individuen und Gesellschaften zu einem zentralen ethisch-politischen Ziel. Dabei kann die Weltgesellschaft dem Wandel der internationalen Ordnung nicht gleichgültig gegenüberstehen. Nicht jede Veränderung ist zu tolerieren. Ein solches Verhalten wäre ein Missverständnis der Toleranz. Notwendig ist, die Toleranz in ihren drei Grunddimensionen[15] bei allen Veränderungen zu beachten: Passive Toleranz als grundsätzlicher Gewaltverzicht und das Bemühen, Konflikte vor allem auf Wegen der Diplomatie zu lösen. Aktive Toleranz als Verteidigung der Menschen- und Freiheitsrechte, was auch bedeuten kann, militärische Unterstützung zu leisten, denn die Demokratie muss wehrhaft sein. Proaktive Toleranz, um Räume des Dialogs und des Vertrauens zwischen den Völkern zu retten und den Austausch zwischen Zivilgesellschaften sowie nicht zuletzt auch den Religionsgemeinschaften auszubauen und um alles zu versuchen, eine Verständigung zu ermöglichen.

Da der Ukrainekonflikt Teil eines vielschichtigen Kampfes um eine neue Weltordnung ist, kann er auf Dauer nicht ohne die Schaffung einer den heutigen Herausforderungen und Konfliktlinien angemessenen internationalen Friedens- und Sicherheitsordnung gelöst werden. Eine vorrangige Bedeutung kommt hier der Reform des Weltsicherheitsrates zu, der heute nicht mehr angemessen die Kräfteverhältnisse in der Welt widerspiegelt und von den Mächtigen mittels ihres Veto-Rechtes als Instrument einseitiger Dominanzpolitik missbraucht bzw. blockiert wird. Durch den partiellen Rückzug der USA als Weltordnungsmacht ist ein Vakuum entstanden, das durch eine Verdichtung der vielfältigen supranationalen Verflechtungen kompensiert werden muss.[16] Dazu könnte auch ein europäischer Sicherheitsrat gehören, um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen. Die verschiedenen Institutionen, die sich sicherheitspolitisch engagieren (u.a. UNO, NATO, OSZE, EU), sind komplementär aufeinander abzustimmen.

Dauerhafter Friede braucht Vergebung und Versöhnung auch mit der eigenen Geschichte. Die historische Dimension heutiger Konflikte wird dadurch deutlich, dass geschichtsklitternde Narrative zur Konstruktion eines Kriegsgrundes herangezogen worden sind. An diesen Erzählungen wird deutlich, dass es dem russischen Präsidenten und einem wohl nicht unerheblichen Teil der russischen Bevölkerung an einer Versöhnung mit dem Zerfall der UdSSR fehlt. Das Gefühl der Kränkung durch die vermeintliche Zurücksetzung und Nichtanerkennung als Weltmacht ist die treibende Kraft der aktuellen Aggression. Angesichts der katastrophalen Folgen des Ukrainekrieges für alle, auch für Russland, das sich damit mehr schadet, als jeder andere es hätte tun können, wird die Kränkung zunächst verstärkt. Ihre Überwindung wird sicherlich lange Zeit beanspruchen. Hier haben die Kirchen und Religionsgemeinschaften eine originäre Aufgabe, da Versöhnung immer auch eine religiöse Dimension hat.[17] Zugleich ist diese auch gesellschaftlich und politisch höchst relevant.

Im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine geht es letztlich um Versöhnung zwischen den unterschiedlichen Werten, kulturellen Mentalitäten und politischen Modellen an den Grenzen Europas. Wo Regime jedoch Wahrheit, Freiheit und Humanität verleugnen, haben sie keinerlei moralische Legitimität. Für Russland, die Ukraine und Europa kommt der wissenschaftlichen Aufarbeitung der höchst unterschiedlichen Identitätskonstruktionen und der Rolle, die die Religionen dabei spielen, eine zentrale Bedeutung zu.[18] Im Vordergrund stehen nicht rational nachvollziehbare Interessen, sondern Anerkennungskonflikte mit ihrer ganz eigenen Grammatik von Kompromisslosigkeit und Machtdynamiken. Die theologische Kritik einer nationalistischen Inanspruchnahme des christlichen Glaubens ist ein wichtiger Friedensdienst, den die Kirchen zu leisten haben. Christsein angesichts einer fragil gewordenen Weltordnung erfordert ein erheblich höheres Maß an Engagement für die Werte des Friedens, der Freiheit und der Versöhnung als wir dies in der sicherheitsverwöhnten deutschen Welt der vergangenen Jahrzehnte gewohnt waren.

 


[1]     Vgl. Luchterhandt, Otto (2022): Russia's Hostage. The Military Encirclement of Ukraine and International Law; https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/russlands-geisel/ (Abruf am 20.02.2022).

[2]     Vgl. Biser, Eugen (2003): Wege des Friedens, Augsburg; Vogt, Markus/Küppers, Arnd (Hg.) (2021): Proactive Tolerance. The Key to Peace, Baden-Baden.

[3]     Franziskus (2020): Fratelli tutti. Enzyklika über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft (Verlaut­barungen des Apostolischen Stuhls 227, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn.

[4]     Zur Interpretation von Fratelli tutti als Friedensenzyklika mit ihren Stärken und Schwächen vgl. Vogt, Markus (2021): Die Botschaft von Fratelli tutti im Kontext der Katholischen Soziallehre, in: MThZ 72/2021, 108-123.

[5]    Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Die deutschen Bischöfe 66), Bonn.

[6]    Vgl. Schellhammer, Barbara/Goerdeler, Berthold (Hg.) (2020): Bildung zum Widerstand, Darmstadt.

[7]    Zu den Konturen christlicher Friedensethik aus sozialethischer Sicht vgl. Bock, Veronika u.a. (Hg.) (2015): Christliche Friedensethik vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, Baden-Baden; Vogt, Markus (2020): Versöhnung als Prinzip christlicher Friedensethik, in: Amosinternational 3/2020, 3-9.

[8]    Appell der Russischen Union der Rektoren (rsr-online.ru); zit. nach: wissendrei(at)newsletterversand.zeit.de (Abruf am 09.03.2022).

[9]     https://www.kath.ch/newsd/moskauer-patriarch-kyrill-krieg-soll-glaeubige-vor-gay-parade-schuetzen/ (Abruf am 08.03.2022).

[10]   Für mündliche Auskunft hierzu danke ich meinem ukrainischen Promovenden Michael Fetko.

[11]   Zur Maidan-Revolution, die auch „Revolution der Würde“ genannt wird, vgl. Andruchowytsch, Juri (Hg.) (2014).: Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Berlin.

[12]    Wissenschaftliche Enqute der Stiftung PRO ORIENTE (2003): Die Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche. Ein Dokument der sozialen Verantwortung, Wien, bes. 25-33; die Dokumente, die auch auf Deutsch u.a. von der Konrad Adenauer Stiftung herausgegeben wurden, enthalten durchaus viele Elemente, die aus der Sicht katholischer Sozialethik zu begrüßen sind; diese werden aber oft in der Praxis nicht erst genommen und durch andere Aussagen überdeckt. Faktisch tritt die russisch-orthodoxe Kirche für einen „kulturellen Vorbehalt“ gegenüber den Menschenrechten ein, was deren friedensethische Funktion der Verständigung über kulturelle und nationale Grenzen hinweg aushebelt.

[13]   https://www.die-tagespost.de/politik/die-wut-auf-patriarch-kyrill-waechst-art-226333?fbclid=IwAR2t-lJP1EWjwWtpC0Fkfaw9gweFo1OMZVzBZQp6sphfwXMMdRvabChTAdU (Abruf am 08.03.2022).

[14]    Vgl. Münkler, Herfried (2017): Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Reinbek.

[15] Vogt, Markus/Husmann, Rolf (2019): Proaktive Toleranz als ein Weg zum Frieden. Bestimmung und Operationalisierung des Toleranzbegriffs (Kirche und Gesellschaft 459), Mönchengladbach.

[16]  Vgl. Schockenhoff, Eberhard (2018): Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt, Freiburg, 639-665.

[17]  Vgl. Vogt, Markus (2021): Christian Peace Ethics and Its Relevance for Tolerance and Reconciliation in Ukraine, in: Markus Vogt/Arnd Küppers (Hg.), Proactive Tolerance. The Key to Peace, Baden-Baden, 117-137.

[18]  Golczewski, Frank (2018): Unterschiedliche Geschichtsnarrative zur Ukraine im Kontext der aktuellen Krise, in: Justenhoven , Heinz-Gerhard (Hg.): Kampf um die Ukraine. Ringen um Selbstbestimmung und geopolitische Interessen (Studien zur Friedensethik 61), Baden-Baden, 35-59, Hnyp, Maryana (2018): Ukrainian National Identity in Transition: Geopolitics and Values, in: ebd., 17-33.