Hamburg - 10.03.2021

Buchrezension: Medizin und Ethik in Zeiten von Corona

Martin Woesler, Hans-Martin Sass (Hgg.), LIT-Verlag, Berlin 2020, 34,90€

Auch im Frühjahr 2021, ein Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie in Deutschland, ist dieses Virus, erscheint die Bedrohung durch dieses Virus noch immer nicht unter Kontrolle. Täglich ergeben sich neue Entwicklungen und Anfragen in Staat und Gesellschaft, in Kultur und Politik. Und das ist ein weltweites Phänomen. Ein Ende ist ebenso wenig absehbar, wie die Folgen abschätzbar sind. Was soll da eine Neuerscheinung, eine Aufsatzsammlung, die sich als eine Art „Bestandaufnahme“ versteht? Ist das überhaupt möglich? Kann das überhaupt sinnvoll sein?

Notwendig ist es aber allemal, einen Zwischenbericht zu geben, den Istzustand zu beschreiben – um dann von dort aus weiterzudenken und vielleicht sogar anders, besser mit dieser Bedrohung umgehen zu können. Und diesen Zwischenbericht legt der LIT-Verlag hiermit vor, eine Bestandaufnahme, die nicht nur umfangreich konzipiert worden, sondern auch gut zu lesen ist. Wissenschaftler aus Medizin und Politik, aus Kirche und Humanwissenschaft nähern sich der Corona-Pandemie zum Abfassungszeitraum ihres Beitrages. Und trotz der Dynamik der Pandemie können sie schon Wesentliches in den Blick nehmen und eingehend reflektieren. Dabei wird der Bogen innerhalb dieser Veröffentlichung durchaus weit gespannt: „Verteilungsfragen“, „Verantwortung“, „Ethische Probleme und Konsequenzen“, „Sozio-Ökonomie und die Arbeitswelt“ und „Theologische Reflexion und Ausblick“ heißen die Kapitelüberschriften und machen somit schon so die erstaunliche Bandbreite der Themen dieser Aufsatzsammlung deutlich.

„Von `höherer Dringlichkeit´ zur `besseren Erfolgsaussicht´- Gefährliche Akzentverschiebungen bei aktuellen Triage-Kriterien“ ist der Aufsatz von Andreas Lob-Hüdepohl im ersten Teil des Buches überschrieben. Grundlegend geht er auf bestehende Triage-Regelungen ein und erläutert, warum gerade jetzt in der Corona-Pandemie die Gefahr einer Diskriminierung besonders vulnerabler Gruppen extrem groß ist. Hier „Erfolgsaussichten“ in die Diskussion zu bringen und diese gegenüber der ursprünglichen Definition der höheren Dringlichkeit aus medizinischer Sicht zu betonen hält er für besonders problematisch.

Carmen Kaminsky, Professorin für Praktische Philosophie in Köln, nähert sich unter der Überschrift „Individuelle Verantwortung und soziale Interaktion nach der Corona-Krise“ der Frage, wie auf Dauer eine Teilhabe möglichst vieler Menschen am gesellschaftlichen Leben möglich ist und man dennoch gut und verantwortlich mit der Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus umgeht. Diese Herleitung gelingt ihr sehr überzeugend, wobei man sich an ihrem zentralen Bild auch stören könnte: Kaminsky nimmt die Fabel von einer Gesellschaft von Stachelschweinen auf, die der Philosoph Arthur Schopenhauer in §396 seiner „Parerga und Paralipomena“ präsentiert. Er erzählt davon, wie es zwischen den Stachelschweinen gelingt, einen hilfreichen, einen gesunden Abstand zueinander zu gewinnen, in dem es einerseits um Nähe und Solidarität und auf der anderen Seite um den (notwendigen) Eigenschutz vor den negativen Charaktereigenschaften des anderen geht. Hier wie da geht es also um das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz. Aber: unsere Gesellschaft also als ein Zusammenschluss von Stachelschweinen, die einen Weg des Umgangs miteinander finden müssen? Herausfordernd.

Deutlich beeindruckender kommt da: „Immunitätsausweise – vor der Einführung schon umstritten! Eine ethische Abwägung“ der Moraltheologin Kerstin Schlögl-Flierl beim Leser, bei der Leserin an. Professor Schlögl-Flierl gehört zum Deutschen Ethikrat und erläutert in ihrem Beitrag, worauf bei der Einführung sogenannter „Immunitätsausweise“ zu achten ist. Dafür entwickelt sie eine „Ethik der Vulnerabilität“, bei der „das Prinzip der Fürsorge nach vorne gebracht“ wird. Grundsätzlich spricht sie sich für die Einführung eines solchen Dokumentes aus, warnt aber vor Tendenzen der Entsolidarisierung und der falschen Sicherheit. Aus ihrer Sicht sollte es allerdings gelingen, „ihn als Berechtigungs- und Verpflichtungsausweis für diejenigen zu formatieren, die in der Arbeit für und im Umgang mit vulnerablen Gruppen für diese geschützt werden müssen“. Damit nimmt sie schon die gerade hochaktuelle Diskussion zur Frage der Bevorzugung von Geimpften auf.

Im vierten, deutlich wirtschaftswissenschaftlich bestimmten Teil dieser Aufsatzsammlung untersuchen Eva Dahlke und Peter Kegel Arbeitsbedingungen in der Corona-Pandemie: „Homeoffice in der Pandemie: Fluch oder Segen?“ Nach ihrer Auffassung ist die Grundlage dieser Arbeitsform, ob der Arbeitgeber ausreichend Vertrauen zu seinen Beschäftigten aufbringt. Umfangreich erläutert der Text die Vorteile und die Herausforderungen des Homeoffice, das in dieser Pandemie eben auch zur Verhinderung weiterer Ansteckungen dient. Dabei werden aber auch Anfragen und Problemstellungen dieser besonderen Form der Arbeitsleistung nicht ausgespart. Dahlke/Kegel schließen: „An- bzw. Abwesenheit als Mischmodell zwischen Homeoffice und Präsenzarbeit kann die Vorteile beider Arbeitsformen verbinden und die Nachteile ausgleichen. Gleichzeitig kann der Perspektivwechsel die empathische Sicht und das Verständnis für die jeweilige Arbeitsform stärken.“

„Theologische Reflexion und Ausblick“ ist das letzte Kapitel von „Medizin und Ethik in Zeiten von Corona“ überschrieben. Der evangelische Theologe Martin Eberle referiert im Eingangsteil seines Aufsatzes über die Frage der Theodizee. In diesem Sammelband heißt das: „Wie kann Gott das zulassen? Eine theologische Reflexion der Pandemie“. Ein wenig gewollt wirkt in diesem Text der Rekurs auf Martin Luther, der auch zum Verhalten in dieser Pandemie etwas zu sagen habe: Abstand halten! Aber die grundsätzliche Frage bleibt doch: Reicht es, das Ringen der Menschen mit der Bedrohung durch Leid, mit den Fragen nach der Existenz eines guten Gottes angesichts einer weltweiten, bedrohlichen Krankheit mit dem Satz einzufangen: „Das Kreuz als Ort der Hinrichtung Jesu wird zum Symbol des mitleidenden Gottes. Das Leiden wird dadurch weder gutgeheißen noch kleingeredet. Es erscheint als Bestandteil der conditio humana, das in mancher Hinsicht schlicht anzunehmen ist.“?

Insgesamt ein sehr gelungener Sammelband aus dem LIT-Verlag, der eine gute Zusammenfassung und eine spannende Auseinandersetzung mit dem Ist-Zustand der Corona-Pandemie darstellt. Die thematische Bandbreite ist ambitioniert, doch insgesamt gesehen wird das Werk diesem Anspruch voll gerecht. Da sieht man auch über einige Mängel hinweg, wie z. B. falsche Seitenzahlen im Inhaltverzeichnis oder die eine oder andere Lücke im Lektorat. Am Ende bleibt der Eindruck eines sehr lesenswerten Buches, über das die Zeit noch lange nicht hinweggegangen ist. Ein Grundsatzwerk, das sehr viele Aspekte der Corona-Pandemie beleuchtet, beschreibt und (ethisch) einordnet.

Heinrich Dierkes
zebis