Hoffnung auf mehr internationale Solidarität und ressortübergreifende Zusammenarbeit

Wie groß die Herausforderung für Entscheidungsträger*innen ist, in der Pandemie Gesundheit, Freiheit und Menschenwürde gleichermaßen im Blick zu haben – das wurde klar bei der Podiumsdiskussion “Friedenssicherung in Zeiten der Pandemie – ethische und sicherheitspolitische Konsequenzen einer neuen Bedrohung”, die am 10. Dezember 2020 in der Katholischen Akademie in Hamburg stattfand. Das Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften (zebis) kooperierte hierbei erstmals mit dem Julius-Leber-Forum, der Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Hamburg.

Dessen Leiter Dr. Dietmar Molthagen begrüßte die Zuschauenden vor Ort und online genauso wie der Katholische Leitende Militärdekan Monsignore Rainer Schadt und die zebis-Direktorin Dr. Veronika Bock. In ihrer Einleitung fasste sie zusammen, dass sich vor einem Jahr niemand habe vorstellen können, wie das Jahr 2020 verlaufen werde. Die Corona-Pandemie habe bislang weltweit über 1,5 Millionen Menschen das Leben gekostet; selten habe sich die Welt so verletzlich gefühlt. Die Pandemie werfe viele ethische Fragen auf: Für Mediziner*innen, wenn es um die Verteilung begrenzter medizinischer Ressourcen gehe, genauso wie für Politiker*innen, wenn es bei Entscheidungen zur Kontaktbeschränkungen darum gehe, Güter und Werte wie Gesundheit, Freiheit und Menschenwürde miteinander abzuwägen. Dr. Bock wies auch auf die Chance hin, die Pandemie als Auslöser für gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu sehen. So habe etwa Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Fratelli Tutti“ einen starken Appell für mehr internationale Solidarität formuliert. Und auch UN-Generalsekretär António Guterres, der die Pandemie als “größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg” bezeichnete, rief dazu auf, nach der Krise nicht wieder zum Status Quo ante Corona zurückzukehren, sondern eine gerechtere Welt aufzubauen.

Prof. Dr. Kerstin Schlögl-Flierl, Professorin für Moraltheologie an der Universität Augsburg und Mitglied des Deutschen Ethikrats, gab den Zuschauenden einen kurzen Abriss über die Faktoren, die sie bei ihrer Arbeit berücksichtigen muss. Demnach müssen ethisch vertretbare Maßnahmen “geeignet, erforderlich und angemessen” sein. Das heißt, es müssten Maßnahmen mit den geringsten negativen Folgen gewählt werden, und negative Folgen müssten in einem angemessenen Verhältnis zum Ziel stehen. Eine Einsicht, die bei politischen Entscheidungen zu Kontaktbeschränkungen anscheinend zunehmend in den Fokus rückte. So sei beim ersten Lockdown im Frühjahr Lebensschutz absolut gesetzt worden. Als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble das kritisierte und darauf hinwies, dass sich alle Grundrechte gegenseitig beschränkten, sei das damals noch stark umstritten gewesen. Beim zweiten Lockdown im Herbst habe die Politik jedoch bereits differenzierter zwischen Lebensschutz und individueller Verantwortung abgewogen.

Prof. Dr. Schlögl-Flierl ging auch auf das Stichwort “Vulnerabilität” ein: Das habe in der Coronakrise “einen Höhenflug erfahren”, indem betont worden sei, dass verletzliche Gruppen besonders geschützt werden müssten. Die Moraltheologin gab zu bedenken, dass diese Gruppen jedoch einerseits nicht immer nach deren Meinung dazu gefragt wurden, und andererseits alle Menschen verletzlich seien - auch von wochenlangem Homeschooling erschöpfe Eltern.

Das Thema “Impfstoffverteilung” stelle den sozialen Frieden in der Europäischen Union auf die Probe. Der Ethikrat empfehle, alle besonders gefährdeten Personen bevorzugt behandeln. Eine Impfpflicht, selbst eine moralische, lehne das Gremium allerdings ab. Zum Thema Immunitätsnachweis habe es große Diskussionen gegeben. Prof. Dr. Schlögl-Flierl hält einen solchen für ethisch vertretbar, solange man damit z.B. andere im Pflegeheim besuche und nicht in den Freizeitpark gehe. Immune müssten allerdings trotzdem eine Gesichtsmaske tragen.

Die Wehrbeauftragte Dr. Eva Högl stellte fest, die Bundeswehr sei trotz der Einschränkungen, die die Pandemie mit sich bringe, einsatzbereit. Allerdings würden Ausbildungen verkürzt, Übungen abgesagt, und auch die Ausbildungsmission in Mali sei ausgesetzt. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr habe ein strenges Schutzkonzept ausgearbeitet, das überall dort auf Akzeptanz treffe, wo es gut kommuniziert werde. Bei einer Impfpflicht für Soldat*innen setzt Dr. Högl auf Freiwilligkeit. Gleichzeitig sprach sie sich dafür aus, dass vor allem Soldat*innen in Auslandseinsätzen und Angehörige des Sanitätsdienstes geimpft werden sollten. Ihr Ziel sei, “so lange, wie es geht, auf eine Impfpflicht zu verzichten”. Dazu ergänzte Publikumsgast General a.D. Wolfgang Schneiderhan, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit sei bei Soldat*innen grundsätzlich eingeschränkt, was auch eine Impfpflicht beinhalte. Er habe sich früher als Soldat häufig impfen lassen müssen.

Zur Frage, inwieweit die Bundeswehr ausreichend auf die Pandemie vorbereitet gewesen sei, da ein solches Szenario bereits vor Jahren von Expert*innen vorhergesagt wurde, sagte die Wehrbeauftragte, die ganze Gesellschaft sei nicht darauf vorbereitet gewesen. Das chinesische Wuhan sei allen als “ganz weit weg” vorgekommen. “Dass sich unser Leben so gravierend und so ruckzuck ändern würde, hat niemand gedacht”, sagte Dr. Högl. “Gespräche über Pandemien hatten früher immer etwas sehr Theoretisches, aber jetzt müssen wir lernen: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die nächste Pandemie kommen wird.”

Die Debatte zu mehr internationaler Solidarität nehme Dr. Högl erfreut zur Kenntnis; sie machte allerdings auch darauf aufmerksam, wie schwierig es bereits sei, allein innerhalb Deutschlands solidarisch zu sein.

Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner, Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, berichtete, die Streitkräfte trügen zwar zur akuten Bewältigung der Krise im Inland bei, etwa bei der Behandlung von Patienten in Bundeswehrkrankenhäusern, die zu 80 Prozent zivile Patient*innen betreuten. Die Bundeswehr sei ebenfalls “eingebunden in Vorbereitungen für die Impfaktion”. Soldat*innen würden beim Impfen der Zivilbevölkerung gegenüber nicht bevorzugt. Auch in den Streitkräften würden Hochrisikopatienten und medizinisches Personal zuerst geimpft. Als Inspekteur des Sanitätsdienstes müsse Dr. Baumgärtner außer der Bewältigung der Corona-Pandemie im Inland allerdings auch die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr im Ausland sicherstellen.

Zur Frage, inwieweit Demokratie bei der Pandemiebekämpfung hinderlich sei, weil einige asiatische Länder wie China mit strengerem Vorgehen die Krise teils besser bewältigten, entgegnete Baumgärtner: Er wolle keinen Systemwechsel, wünsche sich aber gleichzeitig eine bessere Vorbereitung auf kommende Pandemien. Etwa, indem Produktionsfähigkeiten für medizinische Produkte auch in Deutschland vorgehalten würden. Außerdem sei mehr ressortübergreifende Zusammenarbeit nötig.

Prof. Dr. Johannes Varwick, Professor für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle und Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, zog warnende Parallelen zur Geschichte: Die Krise in den 1920er Jahren habe als Wirtschafskrise begonnen und sei dann zur politischen Krise geworden, die in den Zweiten Weltkrieg mündete. “Wir müssen aufpassen, dass uns das nicht wieder passiert”, sagte Prof. Dr. Varwick. Als besonders bedrohlich habe er in den vergangenen Monaten erlebt, dass die USA ihre bisherige Rolle als Führungsmacht in globalen Krisen nicht wahrgenommen und den “Fliehkräften” nichts entgegengesetzt hätten. “Dabei ist klar: Wir brauchen globale Lösungen - wir können Probleme wie die Pandemie nicht nationalstaatlich lösen”, sagte der Politikwissenschaftler. Mit Blick auf die nahe Zukunft sagte er, die Impfstofffrage sei ein “geopolitisches Schlachtfeld”. Deutschland solle seine technischen Fähigkeiten zur internationalen Stabilisierung einsetzen. Gleichzeitig rief Prof. Dr. Varwick dazu auf, andere globale Krisen trotz Corona nicht aus den Augen zu verlieren. “Im Syrienkrieg sind bislang 500.000 Menschen gestorben - wir dürfen diese Dinge nicht vergessen.”

In der Debatte um eine rechtliche Neufassung zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren sagte der Politikwissenschaftler, die aktuelle Situation habe gezeigt, dass bisherige Gesetze dies ausreichend ermöglichten und nicht erweitert werden müssten. Denn aktuell leisteten 15.000 Soldat*innen Amtshilfe, etwa bei der Nachverfolgung von Corona-Infektionen.

Die Moderation der Veranstaltung übernahm der ZEIT-Journalist Dr. Jochen Bittner. Die Debatte wurde live über Youtube gestreamt. Über einen Chat konnten Zuschauer*innen ihre Fragen stellen, die von zebis-Mitarbeiter*innen vor Ort an das Podium weitergegeben wurden.

Das Video der Veranstaltung können Sie hier (https://youtu.be/txfN3L5Zi5Y?t=135) anschauen. 

Julia Weigelt

Fotos: Christian Lau