Perspektiven einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur: Internationaler Workshop für Generalstabsoffiziere zum Umgang mit der gewaltbelasteten Vergangenheit von Auschwitz

Die Erinnerung an Auschwitz, den Holocaust sowie den II. Weltkrieg gehört zum Kernbestand der gesellschaftlichen Identitäten in Europa. Dieser Befund darf allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass die Erinnerungen an das Geschehen in den jeweiligen Ländern sehr verschieden bisweilen sogar konträr sind. Vieles von dem, was in Auschwitz geschah, lebt in den spannungsreichen Erinnerungen an das, wofür Auschwitz steht, fort. Auschwitz prägt und belastet unsere Gegenwart. Es stellt eine Herausforderung und einen Grund für die Entwicklung europäischer Identitäten sowie die Schaffung belastbarer europäischer Gemeinsamkeit dar.

Der internationale Workshop für Generalstabsoffiziere im Zentrum für Dialog und Gebet in Auschwitz / Oswiecim (Polen), der vom zebis und der Maximilian-Kolbe-Stiftung veranstaltet wurde und an dem deutsche und polnische Generalstabsoffiziere vom 21.-25. November 2012 teilnahmen, wollte sich dieser Herausforderung und diesem Abgrund bewusst stellen.

In dieser Zusammensetzung betraten die Veranstalter erinnerungspolitisches Neuland. Dabei brachte das zebis Erfahrungen mit den konkreten Fragen und Bedürfnissen der Soldaten und Soldatinnen ein. Die deutsch-polnisch geprägte und europäisch ausgerichtete Maximilian-Kolbe-Stiftung, die Beiträge zur Weiterentwicklung der (kirchlichen) Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit in Europa leisten will, steuerte ihre Erfahrungen in diesem konkreten Arbeitsfeld bei. (Mehr Informationen unter: www.maximilian-kolbe-stiftung.de).

In ihrem Einführungsreferat vergegenwärtigte die Direktorin des zebis, Dr. Veronika Bock, dass diese Form der »Erinnerungsarbeit« einer zweifachen Motivation folgt: Das Erinnern hält vergangenes Unrecht präsent, ehrt die Opfer und versucht, dem Geschehenen einen sprachlichen Ausdruck zu geben. Zugleich weist dieses Erinnern aber auch in die Zukunft; es provoziert den Appell: So soll es nie wieder sein! Die erinnerten und vergegenwärtigten Erfahrungen unvorstellbarer Grausamkeiten und Demütigungen könnten eine universale Vorstellung von Solidarität entstehen lassen – basierend auf der gemeinsamen Verletzbarkeit von Individuen und Kollektiven.

Gerade für Soldatinnen und Soldaten offenbart sich im Umgang mit Gewalterlebnissen eine eigentümliche Spannung: Auf der einen Seite besitzen sie die Möglichkeit und die Legitimation, selbst Gewalt auszuüben. Der bewaffnete Soldat ist schließlich ermächtigt, im Notfall den »Feind« zu töten. Auf der anderen Seite sind Soldaten auch Opfer von Gewalt, wenn sie zum Ziel feindlicher Angriffe werden. Die Auseinandersetzung mit Gewalt – sowohl aus ihrer aktiven als auch aus ihrer passiven Perspektive – gehört also wesentlich zur Ausformung einer soldatischen Identität dazu. Der internationale Workshop verstand sich daher auch als ein Beitrag, in diesem Spannungsverhältnis einer nationenübergreifenden Identität auf die Spur zu kommen.

Was erwartete nun die Generalstabsoffiziere aus Deutschland und Polen in Oswiecim? Im Rahmen ausführlicher Führungen durch das Stammlager Ausschwitz I und Birkenau machten sich die Teilnehmenden mit dem Ort und seiner vielschichtigen Historie vertraut und tauschten sich anschließend in intensiven Gesprächen über ihre Eindrücke aus. Die Begegnung mit Auschwitz-Überlebenden, die am folgenden Tag stattfand, gehörte sicherlich zu den eindrucksvollsten Erlebnissen dieser Tage. An den konkret fassbaren Orten gewann das Erinnern mit den Überlebenden eine unmittelbare Gestalt. Diese Erfahrungen wurden durch verschiedene Fachvorträge bereichert und vertieft: Andrzej Kacorzyk, Vizedirektor der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, sprach über die „Erinnerung an Auschwitz als internationale Herausforderung“. Der Mediziner Prof. Dr. Harald J. Freyberger referierte zum Thema „Langfristige Folgen von Traumatisierung. Zum psycho-sozialen Umgang mit schwerwiegenden Gewalterfahrungen“. Anhand von Studien an Holocaustüberlebenden, Kriegskindern und Opfern der DDR-Diktatur beschrieb er die psychischen und körperlichen Folgen durch posttraumatische Belastungsstörungen. Außerdem stellte er eine mögliche Behandlungsmethode – die Integrative Testimonial Therapie – vor, in der sich Patienten schriftlich ihren traumatischen Erlebnissen nähern und so die Möglichkeit erhalten, diese zu verarbeiten. Einen Perspektivwechsel von den Opfern zu den Tätern vollzog der Soziologe Prof. Dr. Phil C. Langer in seinem Vortrag: „Täter sein, Täter werden – über die Bedeutung von Tätergeschichten nachdenken“. Mittels Gesprächsprotokollen deutscher Wehrmachtssoldaten in Gefangenschaft entwickelte er mit Hilfe sozialpsychologischer Erkenntnisse die These, dass jeder Mensch zum Gewalttäter werden könne, sofern die entsprechenden Deutungs- (z.B. eine Sozialisation in einem kampfverherrlichenden Umfeld) und Handlungsrahmen (z.B. ein Krieg) gegeben sind.

In einer weiteren, diesmal komparativen Annäherung an die Thematik legten Dr. Rafal Zytyniec, Dr. Jörg Lüer sowie Prof. Dr. Etienne Francois dar, wie sich die Erinnerung an Auschwitz und den II. Weltkrieg in Polen, Deutschland sowie Frankreich entwickelt hat. Die Einheiten machten deutlich, wie sehr diese erinnerungspolitischen Prozesse als gesellschaftliche Versuche der Bewältigung von gravierenden Gewalterfahrungen zu verstehen sind und wie sehr die daraus erwachsenden Identitäten die Beziehungen der Gesellschaften zueinander prägen.

Abschließend sprach Dr. Ulrich Schlie, Politischer Direktor im BMVg, über „Militärische Erinnerungskulturen zwischen Opferkult und Gewaltverherrlichung. Perspektiven einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur“. Er stellte die Erinnerung an Auschwitz in den Horizont der gegenwärtigen europäischen Herausforderungen.

Die teilnehmenden Generalstabsoffiziere, die durch ihre Teilnahme selbst zum Entstehen einer angemessenen europäischen Erinnerungskultur beigetragen haben, bewerteten den internationalen Workshop, der in dieser Zusammensetzung und Form in Europa einmalig ist, überaus positiv. Angespornt durch diese Rückmeldungen, soll der Workshop nicht nur wiederholt, sondern 2013 sogar in einen größeren europäischen Kontext eingebettet werden.

Dr. Veronika Bock, Dr. Jörg Lüer

Galerie