„Gewaltiger als das Schicksal ist der Mut ders unerschüttert trägt“ 

Gedenkstätten-Seminar für Angehörige der Bundeswehr in Lichtenburg/Prettin, Torgau und Dessau, 29. bis 31. März 2022 

 

Lina Haag wurde 1907 geboren. Nach dem Reichstagsbrand wurde sie wie ihr Mann Alfred Haag als politisch Aktive verhaftet. In ständiger Angst auch um ihre kleine Tochter verbrachte sie viereinhalb Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern. Von Mai 1938 bis April 1939 war sie im KZ Lichtenburg, Prettin. Während ihrer Haft fertigte sie aus Stoff- und Lederresten eine Buchhülle an, welche sie mit der Inschrift versah: „Gewaltiger als das Schicksal ist der Mut ders unerschüttert trägt.“ 

Die Gedenkstätte KZ Lichtenburg war die erste Station in diesem Seminar, das Schauplätze der gewaltbelasteten deutschen Geschichte als Tagungsort und Gegenstand hatte. Eingeladen waren Soldaten und Reservistinnen des Landeskommandos Sachsen-Anhalt; von den zwölf Männern und zwei Frauen waren einige bereits zum zweiten Mal dabei. 2020 hatten die Friedrich-Ebert-Stiftung, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. und das zebis erstmalig das Format angeboten. In diesem Jahr standen weitere Gedenkorte in Sachsen-Anhalt und Sachsen auf dem intensiven dreitägigen Programm, das von Dr. Ringo Wagner (FES), Philipp Schinschke (Volksbund) und Julia Böcker (zebis) begleitet wurde. 

Zu Beginn, noch im Landeskommando in Magdeburg, erinnerte Oberstleutnant Joachim-Friedrich von Witten, der die Begrüßung und Danksagungen übernahm, an die akuten Gefahren für den Frieden in Europa. Die Sicht auf die Vergangenheit verliere nicht an Aktualität. Dr. Kai Langer, Leiter der Stiftung Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt, führte in den gesetzlichen Bildungsauftrag ein, an die Opfer beider Diktaturen zu erinnern. Die NS-Verbrechen nicht zu relativieren und die DDR-Verbrechen nicht zu bagatellisieren: Dies sind Grundprinzipien für die Bildungsarbeit in den Gedenkstätten. 

Ein Ort der Qualen 

In mehreren Fahrzeugen ging die Reise von Magdeburg weit in südöstliche Richtung nach Prettin. In der Lichtenburg sticht sofort ein Kontrast ins Auge: Ein Renaissanceschloss, in dem eines der ersten KZs eingerichtet wurde. Doch wurden in der Frühphase des NS-Staats häufig KZs in bestehenden Gebäuden untergebracht. Trotz Mangel an allem Nötigen, z. B. Essgeschirr und Strohsäcke, wurden 1933 die ersten Männer inhaftiert. Ab Dezember 1937 wurde die Lichtenburg dann ein zentrales Frauen-KZ. Der Ort, an dem 10.000 Menschen unmenschlichste Bedingungen erlitten, war zugleich ein Ort der Gewaltsozialisierung für die Täter. Am Beispiel der Lichtenburg stellte die Gedenkstättenleiterin Dr. Melanie Engler das System der KZs vor. Im Anschluss führte sie durch die Schlossanlage, die mehreren Kurfürstinnen seit der frühen Neuzeit als Witwensitz gedient hatte. In denselben Gebäuden waren die KZ-Häftlinge untergebracht, bis zu 300 Menschen in einem Schlafraum. Selbst in der Kirche waren sie nicht vor Übergriffen sicher. Am Ort der notdürftigen Latrinen und im sogenannten „Bunker“ für Einzel-, Steh- und Dunkelhaft wurde offensichtlich: Die menschengemachten Demütigungen und Schmerzen fanden kaum ein Ende. 

Auch nach 1945 blieb die Geschichte der Lichtenburg wechselhaft. Die KZ-Vergangenheit wurde unter anderem für eine „antifaschistische“ Erziehung ausgenutzt. Kunstprojekte auf dem Schlossgelände zeigen die sehr wertvolle politische und historische Bildungsarbeit der Gedenk-, Forschungs- und Erinnerungsstätte für Jugendliche und Erwachsene heute. 

„Das Erschreckende für mich ist, wie willkürlich Recht gebrochen oder in die Richtung geführt wurde, wo man es eben haben wollte, und zwar egal von welchem der beiden Unrechtssysteme.“ So äußerte sich ein Teilnehmer in der anschließenden gemeinsamen Reflexionsrunde. Ein anderer Teilnehmer beschrieb den Lernprozess aus der Geschichte für die Zukunft: „Wir als Soldaten tragen noch mehr Verantwortung.“ Fortgesetzt wurden die Gespräche beim Empfang vom Oberbürgermeister Martin Röthel und Kurdirektor Deddo Lehmann im nahgelegenen Bad Schmiedeberg.  

Zwischen den Diskussionen im Plenum bot sich Gelegenheit für eigene Erkundungen. Die ständige Ausstellung „,Es ist böse Zeit...‘ Die Konzentrationslager im Schloss Lichtenburg 1933 – 1945“ ist benannt nach einer Inschrift eines Häftlings. Den Rückmeldungen der Teilnehmenden zufolge bewegten besonders die persönlichen Geschichten, welche anhand der Exponate – wie der Buchhülle von Lina Haag – erzählt wurden. Im Hof lädt derzeit eine Wanderausstellung der Arolsen Archives in einen farbig gestalteten Übersee-Container zu einer Spurensuche zum Thema Raubgut ein. Schließlich war am Folgetag die Wanderausstellung der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt zu sehen: Sie porträtiert Menschen, die unabhängig von ihrer eigenen Wahrnehmung als jüdisch markiert und gewaltsam verfolgt wurden. Sie werden aber gerade nicht nur als Opfer, sondern auch und insbesondere in ihren vielfältigen anderen Rollen gezeigt. 

Kontinuität der Gewalt 

Einige Kilometer elbaufwärts liegt der nächste Ort, wo die Geschichte des 20. Jahrhunderts bis heute sichtbare Spuren hinterlassen hat. Torgau war im Zweiten Weltkrieg das Zentrum der nationalsozialistischen Militärjustiz: 60.000 Soldaten und Zivilisten waren hier inhaftiert, 50.000 Todesurteile wurden ausgesprochen, davon 20.000 vollstreckt. Tausende wurden in Bewährungs- und Strafeinsätze an die Front geschickt, viele starben. Eindrücklich waren auch die persönlichen Lebenswege der inhaftierten deutschen und ausländischen Kriegsgegner, Deserteure und Widerstandsangehörigen. Dazu informierte Elisabeth Kohlhaas in der Ausstellung „Spuren des Unrechts“ des Dokumentations- und Informationszentrums (DIZ) Torgau im Schloss Hartenfels. Die Ausstellung schließt auch die sowjetischen Speziallager ein, die nach 1945 im Fort Zinna bestanden, und den „Geschlossenen Jugendwerkhof“, eine rigide Disziplinareinrichtung der DDR-Jugendhilfe in Torgau. 

Die Führung hatte schon am Morgen am ehemaligen Wehrmachtsgefängnis Fort Zinna, heute Justizvollzugsanstalt des Landes Sachsen, begonnen. Ein Gedenkort erinnert sowohl an die Opfer der NS-Militärjustiz als auch an die Opfer der sowjetischen Lager und der SED-Strafjustiz. In der Gestaltung wurde Wert daraufgelegt, dass diese Ereignisse nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Besucht wurde auch das „Denkmal der Begegnung“ an der Elbe in Torgau, wo am 25. April 1945 amerikanische und sowjetische Truppen aufeinandergetroffen waren. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine stellt sich die Frage, wie in diesem Jahr der „Elbe Day“ gefeiert werden wird. 

„Die Geschichte ist nicht ausgeforscht oder auserzählt. Es gibt da noch wahnsinnig viel zu tun“, stellte Dr. Engler heraus, als die Gruppe am Nachmittag zurück in der Gedenkstätte KZ Lichtenburg war. Einen didaktisch vielseitigen Workshop zu historischen und gegenwärtigen Perspektiven auf den Antisemitismus leitete Lisa Lindenau, pädagogische Mitarbeiterin der Gedenkstätte. Viele Fragen der letzten Tage wurden aufgegriffen – warum sich mit diesen Orten beschäftigen und was Geschichte uns heute angeht. Dass die Diskussionen kontrovers waren, zeigt gerade, dass für offene Meinungsäußerungen, Widerspruch und auch Emotionen Raum war. 

Auch Kriegsgräberstätten können für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Grundlage sein. Dafür steht der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. Pate. Seine Kernaufgaben sind die Suche und Pflege von Kriegsgräbern, die Erinnerungs- und Gedenkkultur sowie Bildungs- und Friedensarbeit. Am Abschlusstag ermöglichte Bildungsreferent Philipp Schinschke der Gruppe nach einer Einführung eine andere Wahrnehmung auf Kriegsgräberstätten am Beispiel des Ehrenfriedhofs und Friedhof III in Dessau. Verschiedene Ehrenhaine und Ruhestätten bilden gleichsam ein Netzwerk der Erinnerung: etwa Gräber der Kriegstoten des Ersten Weltkriegs einschließlich des Dessauer Kampffliegers Oswald Boelkcke († 1916), ein Denkmal für die Opfer einer Explosion in der Rüstungsindustrie 1918, verschiedene Orte für Gefallene des Zweiten Weltkriegs unterschiedlicher Länder oder ein Denkmal für die Verstorbenen des Bombenangriffs auf Magdeburg.  

Und noch immer werden frische Blumen an manchen Gräbern abgelegt; die Gewaltgeschichte berührt uns bis heute. Dies wird besonders deutlich an authentischen historischen Lernorten. Für dieses außergewöhnliche Seminar ist deshalb eine nächste Auflage bereits angedacht. 

Julia Böcker

Bilder: Philipp Schinschke (Volksbund), Julia Böcker (zebis, 5)