Dokumentation Capstone-Seminar für die 1. Panzerdivision

„Kann es gerechten Frieden geben?“ Theologische Friedensethik vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Henning-von-Tresckow-Kaserne Oldenburg, 30. August – 3. September 2021

„Kann es gerechten Frieden geben?“ Mit dieser so einfachen wie komplexen Frage eröffnete sich für die 25 Teilnehmer des Capstone-Seminars ein weiter Blick auf die theologische Friedensethik vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Zu der erstmaligen Kooperation des zebis mit der 1. Panzerdivision waren ausgewählte Kompaniechefs sowie Vertreter der niederländischen, polnischen und britischen Armee eingeladen. Die Henning-von-Tresckow-Kaserne in Oldenburg, benannt nach einer zentralen Figur des militärischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus, bot mit ihrem neuen Tagungszentrum den richtigen Ort für eine Offiziersweiterbildung zu großen Fragen und Themen.

Mit einer Schweigeminute für die US-amerikanischen Soldaten, die erst Tage zuvor in Kabul gefallen waren, begann Generalmajor Jürgen-Joachim von Sandrart, Divisionskommandeur der 1. Panzerdivision, seine Eröffnung. Er freue sich auf die unterschiedlichen Blickwinkel verschiedener Religionen, welche das Seminar zusätzlich zu der sicherheitspolitischen und militärischen Perspektive einbringe. Die Direktorin des zebis Dr. Veronika Bock unterstrich in ihrem Grußwort, wie hochaktuell und bedeutsam es sein, über den tiefen Zusammenhang zwischen globaler Gerechtigkeit und Frieden zu reflektieren. Sie dankte der 1. Panzerdivision, allen Referentinnen und Referenten sowie der Katholischen, Evangelischen und Jüdischen Militärseelsorge für ihr Mitwirken.

Zwei Vorträge prägten den feierlichen Eröffnungsabend. Thomas Kossendey, Parlamentarischer Staatssekretär a. D. und Mitglied im Beirat des zebis, stellte eine historische Verbindung zum Veranstaltungsort her, indem er den Oldenburger Psychiater und Philosophen Karl Jaspers vorstellte. Selbst von den Nationalsozialisten wegen der jüdischen Herkunft seiner Frau verfolgt, hatte Jaspers bereits 1946 zu Fragen der juristischen, politischen, moralischen und metaphysischen Schuld gelehrt und publiziert. Sein Kommentar zur Staatsgründung und Wiederbewaffnung „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ erschien 1966. Im zweiten Vortrag führte der ehemalige Wehrbeauftragte Dr. Hans-Peter Bartels vor Augen, von welch radikal neuen Prinzipien sich die Bundeswehr bei ihrer Gründung leiten ließ. Mit dem Gewissen als Maßstab für Recht und Unrecht nach dem Vorbild des Widerstandes vom 20. Juli 1944 sind die Soldatinnen und Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“ dem Grundgesetz verpflichtet. Dieses definiert die Bundeswehr nicht nur als Parlamentsarmee, sondern auch als Bündnisarmee. Beide Redner hoben die wichtige Rückkopplung der Armee an die Gesellschaft ins Wort.

Ein Gebet, ein Psalm, ein traditionelles Blasinstrument – das Schofarhorn – und Gesang: Der zweite Tag begann mit einem Tageseinstieg nach jüdischem Ritus. Seit Juni ist der erste Militärbundesrabbiner Zsolt Balla im Amt. Nach 100 Jahren gibt es damit in Deutschland wieder Rabbiner für die Begleitung von Soldatinnen und Soldaten. Erst kürzlich, so berichtete er, feierten die Militärseelsorgen den ersten gemeinsamen Feldgottesdienst. Prof. Dr. Doron Kiesel, Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland, vertiefte die jüdische Perspektive, indem er einen geschützten Raum für alle Fragen im Umgang mit dem Judentum anbot. Sehr persönlich berichtete er anhand seiner Biografie von den Anfängen jüdischen Lebens „auf gepackten Koffern“ in Deutschland nach dem Krieg bis hin zu den heute wieder möglichen Selbstverständlichkeiten im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden. Biografisch stieg auch Rabbi Zsolt Balla in seinen Hauptvortrag ein und leitete über zur jüdischen Friedensethik: Die Thora setze neben das allgemeine Tötungsverbot auch das Recht zur Kriegsführung, z. B. im Falle eines Angriffs. Er sehe Frieden als Utopie – ohne die wir nicht leben könnten. Entsprechend einer rabbinischen Weisung solle man sein Bestes tun, um die Stadt, die Gesellschaft und das Land, in dem man lebe, zu einem besseren, lebenswerteren Ort zu machen.

Am Nachmittag griff Hochschullehrer Dr. Cornelius Sturm Fragen der christlichen Friedensethik auf. Der zentrale Referenztext zum Gerechten Frieden aus katholischer Perspektive ist das Schreiben der Deutschen Bischöfe aus dem Jahr 2000. Die Grundfrage ist: Wie müssen Gesellschaften und Institutionen aufgestellt sein, welche menschenrechtlichen Basisnormen und Bedingungen müssen gegeben und implementiert sein, um ein friedvolles Miteinander zu ermöglichen? Verkürzt zusammengefasst: Ein Mehr an globaler Gerechtigkeit fördert den Frieden. Die Schrift hat eine gewaltpräventive Grundierung und stellt einen Paradigmenwechsel zur jahrhundertealten Tradition des gerechten Krieges dar. Ihr sozialethischer Teil fußt – ebenso wie die „Responsibility to Protect“, die internationale Schutzverantwortung – auf drei Säulen: Gewaltprävention, die der Realität geschuldete Frage nach den eng umgrenzten Bedingungen, unter denen eine militärische Intervention legitim ist, d. h. nach der Ultima Ratio des Gewaltmitteleinsatzes, und Konfliktnachsorge – dem Wiederaufbau von Staaten nach Kriegen und Konflikten einschließlich juristischer Aufarbeitung und Versöhnungsarbeit. Die Frage der Sinnhaftigkeit militärischer Interventionen stellt sich – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des beendeten Afghanistan-Einsatzes – mit großer Dringlichkeit für zukünftige militärische Einsätze und in Verantwortung für die Soldatinnen und Soldaten.

Nach diesen theoretischen Überlegungen näherte sich der anschließende Workshop mit dem Theologen und Historiker Dr. Heinrich Dickerhoff der Friedensethik mit einem ganz anderen, erlebnispädagogischen Ansatz. Im spielerischen Zweikampf konnten die teilnehmenden Offiziere nachempfinden, was Macht, Verantwortung und Selbstkontrolle bedeuten und wie die eigene Haltung auf das militärische Führungshandeln und das Verhalten in Konflikten zurückwirkt.

Die Begegnung mit den Weltreligionen setzte am Folgetag Hicham El Guernaoui vom Islamischen Kultur Verein Oldenburg mit einem muslimischen Tageseinstieg fort. Dr. Fateme Rahmati, Dozentin am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam an der Goethe-Universität Frankfurt/Main, beleuchtete anschließend aus muslimischer Perspektive die Frage nach dem gerechten Frieden. Der Islam brauche ihrer Ansicht nach eine neue Lesart, die der heutigen Zeit, den heutigen Werten wie z. B. Gerechtigkeit, Frieden oder Freiheit mehr entspreche. Ein Muslim dürfe – unter Beachtung des religiösen Rahmens – den Islam (wobei es „den Islam“ nicht gebe) – immer wieder neu entdecken, verstehen und definieren. Es gebe einen Hadith aus der schiitischen Tradition: „Ein [wahrer] Gläubiger ist das Kind seiner Zeit.“ Dies könne sich aber nur realisieren, wenn Muslime mit ihren unterschiedlichsten Nationalitäten, Kulturen und Traditionen von der Weltgemeinschaft unterstützt werden, wenn sie als ein Teil von ihr oder der Gesellschaft angesehen und respektiert werden. Die Stimme des Terrors und der Gewalt sei heutzutage leider lauter als die des Friedens. Frieden sei gemeinsames Ziel, das nur gemeinsam zu erreichen sei.

Am Folgetag hielten der katholische und evangelische Militärpfarrer Martin Roth und Dirk Brandt eine christliche Andacht. Außerdem widmete sich ein weiteres Seminar dem Thema Autonomie von Waffensystemen. Anna-Katharina Ferl, Doktorandin der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, und Prof. Dr. Wolfgang Koch, Universität Bonn, Fraunhofer-Institut für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie (FKIE), machten zentrale Fragen und Probleme anhand von konkreten Beispielen anschaulich. Wie viel menschliche Kontrolle ist notwendig, damit man tatsächlich von einer verantwortungsvollen menschlichen Entscheidung sprechen kann? An verschiedenen Stationen waren die Teilnehmenden selbst mit völkerrechtlichen, ethischen und sicherheitspolitischen Aufgaben gefordert – und diskutierten lebhaft.

Neben der inhaltlich-thematischen Auseinandersetzung stand unter anderem eine Stadtführung aus militärischer Perspektive auf dem Programm. Bei einem sportlich-militärischen Wettstreit samt Einsatz von Hubschraubern und Schlauchbooten ging es nur mit Teamwork voran. Eine Serenade des Heeresmusikkorps eröffnete das feierliche Regimental Dinner am letzten Abend. So stand das Capstone-Seminar für ganz unterschiedliche Erfahrungen und bleibende Eindrücke.

Am letzten Tag luden die Leitenden Militärdekane Armin Wenzel und Msgr. Rainer Schadt zum ökumenischen Abschlussgottesdienst in die Kirche St. Josef ein. In ihrem Schlusswort fasste Dr. Veronika Bock die vielfältigen Erkenntnisse der Veranstaltung noch einmal zusammen: Frieden, Gerechtigkeit und Menschenwürde seien fordernde Ansprüche, jeden Tag aufs Neue. „Sie sind gleichermaßen Gradmesser und Zielgerade, deren Verwirklichung wir anstreben sollten – bei aller Fehlbarkeit des Einzelnen, von Institutionen, Organisationen oder der Politik.“

Julia Böcker

 

Bericht der Bundeswehr: https://www.bundeswehr.de/de/organisation/heer/aktuelles/offizierweiterbildung-kann-es-gerechten-frieden-geben-5217802