Podiumsdiskussion: „Die Kernfrage – Nukleare Abschreckung zwischen Sicherheitspolitik und Friedensethik“

Am 7.6.2018 lud das zebis in Kooperation mit dem ithf in die Katholische Akademie Berlin zu einer Podiumsdiskussion über Fragen der nuklearen Abschreckung. Es diskutierten Prof. Eberhardt Schockenhoff (Freiburg i.B.), Prof. Tom Sauer (Antwerpen) und Dr. Karl-Heinz Kamp (Berlin). Moderiert wurde die Diskussion von dem Journalisten und Sicherheitsexperten Dr. Jochen Bittner (Hamburg, „Die Zeit“). In ihren einleitenden Worten stellten Militärgeneralvikar Monsignore Reinhold Bartmann und die Direktorin des zebis, Dr. Veronika Bock, die Position der katholischen Kirche zur Kernwaffenthematik und das Bedrohungsszenario anhand der „Doomsday Clock“ dar. Im Anschluss konnten die etwa 70 anwesenden Interessierten dem Austausch der verschiedenen Argumente und Positionen folgen.

Die erste Frage des Moderators zielte auf die sogenannte Frist der katholischen Kirche, innerhalb derer die nukleare Abschreckung hingenommen werde. Der Moraltheologe Schockenhoff stellte hier klar, dass es sich hierbei nicht um ein zeitliches Ultimatum handele, sondern vielmehr um einen qualitativen Anspruch der christlichen Kirchen, demnach die nukleare Abschreckung nur bei gleichzeitiger ernsthafter Bemühung der Staaten zur Abrüstung legitimierbar sei. Dieser Frist liege die Lehre zugrunde, dass die Entwicklung von Atomwaffen aus einem schwerwiegenden Irrtum heraus beschlossen wurde und in der Rückschau moralisch nicht zu rechtfertigen sei. Darüber hinaus, so Schockenhoff weiter, sei die nukleare Abrüstung nicht nur eine ethische Forderung der Kirchen, sondern entspreche der völkerrechtlichen Selbstverpflichtung der Staaten, da der Atomwaffensperrvertrag genau dies fordere. Bedauerlicherweise sehe die Staatenpraxis jedoch anders aus: Die Atommächte modernisieren ihre Arsenale und rüsten gar weiter auf, ohne Absprachen über eine wirksame Reduzierung von Nuklearwaffen miteinander zu treffen. Daher habe Papst Franziskus die Frist nun quasi beendet und erklärt, er halte neben dem Einsatz auch die Drohung und den Besitz von Kernwaffen für moralisch nicht vertretbar.

Tom Sauer unterstrich zunächst die von Atomwaffen ausgehende Gefahr. Angesichts der sicherheitspolitischen Lage der Welt könne man nicht behaupten, dass die Stellung der „Doomsday Clock“ auf zwei Minuten vor zwölf übertrieben sei. So habe das vereinbarte Treffen zwischen Trump und Kim noch keine Abrüstung geschaffen; im Nahen Osten drohe ein nukleares Wettrüsten, die Atommächte Pakistan und Indien trügen nach wie vor einen Konflikt um die Kaschmir-Region aus, und die USA und Russland modernisierten ihre Kernwaffenarsenale sowie ihre Nukleardoktrinen, wodurch beide einen Einsatz dieser Waffen denkbarer erscheinen ließen. Zugleich, so Sauer weiter, funktionierten die Entspannungsmechanismen aus den Zeiten des Kalten Krieges kaum noch. So gebe es keine Rüstungskontrolle zwischen den Großmächten, ja noch nicht einmal mehr Gespräche darüber. Zudem stecke der Atomwaffensperrvertrag in einer tiefen Krise: Die in dem 1968 aufgelegten internationalen Vertrag geforderten Abrüstungsverhandlungen würden durch die offiziellen Atommächte schlichtweg nicht realisiert. Dieser Zustand frustriere die große Mehrheit der Staaten dieser Erde, die eine atomwaffenfreie Welt so schnell wie möglich wolle. Immerhin jedoch, so zeigte Sauer weiter auf, hätten die kernwaffenfreien Staaten trotz der Verweigerungshaltung der Atommächte Bewegung in die Verhandlungen gebracht. Seit 2017 bestehe der Atomwaffenverbotsvertrag, welcher bei der 50. Ratifizierung in Kraft trete und Atomwaffen völkerrechtlich verbieten würde. Dann wären Atomwaffen – so griff Sauer die Argumentation von Schockenhoff wieder auf – nicht nur illegitim oder unmoralisch, sondern sogar illegal. Wann dies alles passieren würde, könne noch nicht vorhergesagt werden, aber bereits jetzt seien Auswirkungen des Atomwaffenverbotsvertrages zu erkennen; so führen beispielsweise Finanzunternehmen Investitionen in Unternehmen mit Verbindungen zur Nuklearindustrie zurück.

Auf die Frage, ob eine nuklearwaffenfreie Welt stabiler sei als die heutige, stellte Karl-Heinz Kamp zunächst dar, dass es sich bei diesem Szenario wohl um eine Wunschvorstellung handele; schließlich seien die Nuklearmächte nicht gewillt, ihre Arsenale auf null zu reduzieren. Dennoch würde  wohl jeder Mensch intuitiv eine Welt ohne Atomwaffen als sicherer empfinden. Allerdings machte er auch deutlich, dass aus seiner Perspektive eine solche Welt realiter wohl kaum stabiler wäre, da das Know-how zum Atombombenbau in der Welt und der nukleare Geist aus der Flasche sei. In einer kernwaffenfreien Welt bestünde die Gefahr, dass es bei jeder großen Krise zwischen zwei Staaten erneut zu einem nuklearen Wettrüsten käme. Folglich sehe er auch die Lage nicht so dramatisch, wie es die Doomsday Clock signalisiere. Wenn man sich vor Augen führe, dass die Uhr 1953 auf zwei vor zwölf stand und 65 Jahre später wieder, könne in der Zwischenzeit so viel nicht falsch gelaufen sein, argumentierte Kamp. Dies sei – genauso  wie auch die Tatsache, dass nach 1945 Atomwaffen nicht mehr eingesetzt worden seien – ein Zeichen dafür, dass sich die Nuklearmächte ihrer sicherheitspolitischen Verantwortung durchaus bewusst wären.

Nach dieser „kalten Realitätsdusche“, wie Moderator Bittner den Beitrag Kamps nannte, entgegneten Schockenhoff und Sauer, das System der nuklearen Abschreckung sei in sich irrational, wenngleich es bislang keine funktionierende Alternative gebe. Außerdem, so Sauer, könne man schon per Definition nicht wissen, in welchem Ausmaß es überhaupt Kriege verhindere. Ob die strategische Stabilität des Kalten Krieges dem Gleichgewicht des Schreckens zu verdanken sei oder ob es nur durch Glück nicht zu einem Krieg beider Supermächte kam, sei bloß Spekulation. Auch das immer wieder angeführte Argument, ein Nuklearstaat genieße Schutz vor konventionellen Angriffen, sei bereits historisch widerlegt. So hätten im Jom-Kippur Krieg mehrere Staaten Israel angegriffen, obwohl sie wussten, dass Israel über Nuklearwaffen verfügte. Ebenso gebe es mit Südafrika ein Beispiel für einen Staat, der seine fertig entwickelten Atomwaffen aus politischen Gründen aufgegeben habe. Letztlich stellte Tom Sauer die Behauptung infrage, dass der „nukleare Geist“ nicht durch einen moralischen Zeitgeist in die Flasche zurückkehren würde. Schließlich habe die Menschheit auch das Wissen zum Bau von Gaskammern nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr angewendet.

Sicherlich wird eine atomwaffenfreie Welt nicht kurzfristig zu realisieren sein. Dies bekräftigte auch der ehemalige US-Präsident Obama, als er sagte, dies sei vielleicht kein Zustand, den er zu seinen Lebzeiten erwarte. Dennoch, und dies stellte die Podiumsdiskussion klar heraus, liegen viele Argumente dafür, an einer kernwaffenfreien Welt zu arbeiten, auf der Hand. Auch einige ermutigende Beispiele für nukleare Abrüstung liegen bereits vor. So mag sich nach der spannenden Diskussion jeder selbst die Frage stellen, für wen die „Realitätsdusche“ in der Katholischen Akademie wohl kälter gewesen sein mag.

 

Jan Peter Gülden