Von der Ukraine lernen, für unsere Freiheit zu kämpfen

Der Krieg in der Ukraine als gleich doppelte Zeitenwende für die Bundeswehr ‒ darum ging es in der Diskussion, die das Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften zusammen mit dem Julius-Leber-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung am 6. Dezember in der Katholischen Akademie in Hamburg veranstaltete.

Durch die Veranstaltung führte der Politik-Journalist Jochen Bittner, der die Zuschauenden zu Beginn auf die angespannte Ausstattungslage der Streitkräfte ansprach. So stehe die Bundeswehr wohl immer noch genauso blank da wie im Februar ‒ wahrscheinlich sogar noch blanker, weil Material für die Ukrainehilfe nicht so schnell nachbestellt werden könne. Laut Medienberichten reiche etwa die Munition nur für zwei Tage.

Falko Droßmann, SPD-Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestages, spielte den Ball vom Parlament zurück an die Streitkräfte. Er bekomme in Ausschusssitzungen wenig mit von dem, was die Bundeswehr an Ausrüstung brauche. Es kämen zu wenige Vorschläge. Gleichzeitig müssten Verwaltungsprozesse grundlegend reformiert werden, etwa mit Blick auf das Beschaffungsamt. Auch seien bestehende Lieferverträge neu zu bewerten. Kritisch sieht Droßmann beispielsweise Munitionsbeschaffung aus der Schweiz. Weil das Land neutral bleiben und keine Rüstungsprodukte in Krisenregionen liefern will, gab es bereits Probleme mit bestellter Munition für den Gepard-Flugabwehrpanzer. Dennoch wurde erneut Munition für den Schützenpanzer Puma in der Schweiz bestellt. Und: Zu wenig im Blick sei bei der Debatte um die Zeitenwende der Personalmangel in der Bundeswehr. “Ob wir so Waffen, die wir beschaffen, auch einsatzfähig kriegen, ist ein Riesenproblem.”

Die Diskussion um das Zwei-Prozent-Ziel bezeichnete der Abgeordnete als “Geisterdebatte”, da der Wert wegen seines Bezugs zur Kaufkraft variabel sei. Stattdessen müssten langfristige Rüstungsprojekte mit festgeschriebenen Summen ausfinanziert werden. Gleichzeitig sei klar, dass der Staat nicht unbegrenzt neue Schulden aufnehmen könne und auch die Gesellschaft in der Zeitenwende Opfer bringen müsse.” Wir müssen nur aufpassen, dass das nicht zulasten der Ärmsten geht”, sagte der Verteidigungspolitiker.

Zur Frage, inwieweit eine Politik der Abschreckung mit einer Gesellschaft zusammen gehe, die sich der Gewaltlosigkeit verschrieben habe, sagte Droßmann: “Wir waren gar nicht so gewaltlos. Unser Wohlstand kommt auch daher, dass wir Arbeitskräfte anderer Länder ausnutzen. Wir liefern auch Waffen an Saudi-Arabien, die im Jemen eingesetzt werden. Wir sprechen halt nur nicht gern drüber.”

Dr. Barbara Kunz, Politikwissenschaftlerin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg, sagte, sie sei nicht überrascht von der anhaltenden Unterstützung der deutschen Gesellschaft für die Ukraine. “Hier wird deutlich, dass es auch wir hätten sein können, die angegriffen werden, weil die Betroffenen uns so ähnlich sind. Kriege in Afrika sind geografisch und in den Köpfen weiter weg.”

Es gebe gute Gründe, die Nato weitestgehend aus dem Krieg herauszuhalten, sagte Kunz. Wie groß die Gefahr einer atomaren Eskalation sei, sei vielen nicht bewusst. Die Ankündigung Deutschlands, mehr Verantwortung zu übernehmen, würden vor allem östliche EU-Staaten mit Skepsis hören. Mehr Engagement sei von der Bundesregierung bereits zu oft ohne maßgebliche Konsequenzen versprochen worden.

“Wir brauchen mehr Bewusstsein, was Verteidigung angeht. Natürlich wollen alle lieber Kindergärten als Panzer, aber es geht halt einfach nicht ohne Panzer. Kein Land hat das Ruder in der Zeitenwende rhetorisch so rumreißen müssen wie Deutschland ‒ fragen Sie dazu mal Frankreich oder Finnland”, sagte Kunz. “Wir unterschätzen in Deutschland massiv, wie wenig europäische Einigkeit es in Sachen Verteidigung gibt. Wir müssen uns auch fragen: Wie universell ist unser Wertekanon?'' Das habe man an der großen Überraschung des Westens darüber gesehen, dass Russland international nicht so isoliert sei wie erwartet.

Auf die Frage, ob ein ethischer Soldat auch ein besserer Soldat in militärischer Hinsicht sei, antwortete Oberst Dr. Stefan Gruhl, Referatsleiter im Verteidigungsministerium. Dort befasst er sich unter anderem mit Innerer Führung. Wichtig sei in diesem Zusammenhang Vertrauen ‒ auch von Vorgesetzten in Untergebene. Auftragstaktik sei Teil der Inneren Führung und hilfreich, militärische Aufträge zu erfüllen. Das sehe man auch am Negativbeispiel Russland: Die dortige Armee sei geprägt von Misstrauen und Angst. Deswegen sei dort strikte Kontrolle von Vorgesetzten nötig, um Befehle durchzusetzen.

Zum Personalmangel in den Streitkräften sagte Gruhl, der Soldatenberuf sei nicht wie jeder andere. Seine Besonderheiten müssten deswegen in der Personalwerbung stärker dargestellt werden, damit Bewerber nicht unangenehm überrascht seien, wenn sie zur Truppe kommen. Der Zustand der Streitkräfte werde jedoch oft zu schlecht geredet. Denn die Bundeswehr erfülle alle Aufträge, die ihr gestellt würden und sei auch im Baltikum seit Jahren aktiv.

“Wir können von der Ukraine lernen, für unsere Freiheit zu kämpfen”, sagte Professor Dr. Markus Vogt, Sozialethiker der Ludwig-Maximilians-Universität München. Diesen Kampf führten die Ukrainerinnen und Ukrainer seit der Maidan-Revolution. “Das müssen wir in unserer Gesellschaft auch lernen. Da schwächeln wir, was wir an den rechtspopulistischen Bewegungen bei uns sehen”, sagte Vogt. Zur Frage, ob die Bundeswehr in Sachen Persönlichkeitsbildung nun das leisten müsse, was Kirchen wegen zunehmender Säkularisierung in Deutschland in den vergangenen Jahre nicht geleistet hätten, sagt der Sozialethiker: “Das leistet in den Streitkräften auch die Militärseelsorge und die ethische Bildung im Lebenskundlichen Unterricht. Und das ist auch ein strategischer Faktor, weil ethisch gebildete Soldatinnen und Soldaten mehr Rückhalt in unserer Bevölkerung haben.” Inwieweit die Kirchen an einer pazifistischen Grundierung Deutschlands Anteil haben, beantwortete Vogt so: “Wir waren verwöhnt vom Sicherheitsschirm der USA. Dabei haben wir das Recht der Selbstverteidigung auch in der christlichen Ethik. Jedoch zeigt der Einsatz in Afghanistan: Mit Waffen haben wir zwar militärisch gesiegt, aber für Frieden braucht es auch Versöhnung.” Der ökumenische Dialog sei etwa ein wichtiger Friedensdienst, den Kirchen leisten könnten und auch nachholen müssten. “Das ist mit der Orthodoxie in der Vergangenheit nicht ausreichend gelungen. Manche Gesprächskanäle sind auch jetzt noch offen dafür.”

Grußworte und Einleitung gab es von Monsignore Rainer Schadt, dem Katholischen Leitenden Militärdekan im Katholischen Militärdekanat Kiel. Er zeigte sich schockiert von der grausamen Kriegsführung russischer Truppen mit ihren gezielten Angriffen auf die Zivilbevölkerung. Dr. Veronika Bock, Direktorin des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften, sagte, der Krieg in der Ukraine habe auch in den beiden christlichen Kirchen zu Diskussionen geführt ‒ etwa was Waffenlieferungen für ein angegriffenes Land angeht. Wichtig sei es in jedem Fall, mit ethischer Bildung Kriegsgräuel zu verhindern und Menschenrechte auch dem militärischen Gegner gegenüber wahren zu können. Auch Dr. Dietmar Molthagen, Leiter des Julius-Leber-Forums der Friedrich-Ebert-Stiftung, hieß die Teilnehmenden willkommen und lud die Gäste zu einer angeregten Diskussion über die Debattenbeiträge ein ‒ vor Ort in der Katholischen Akademie und online im Live-Stream.

Aufzeichnung der Veranstaltung: https://www.youtube.com/watch?v=4I0BHPahQuE