Dokumentation: Neue Herausforderungen – Alter Konflikt? Zwischen Mediziner- und Soldatenethos

„Der Menschlichkeit verpflichtet“ – das Leitbild des Sanitätsdienstes der Bundeswehr bietet ethische und rechtliche Orientierung bei konkreten und aktuellen Fragen. Es fordert ein Leben und Handeln nach den ethischen Werten unseres Rechtsstaates und des humanitären Völkerrechts. Waffen sollen ausschließlich zur Verteidigung der Patienten und zum eigenen Schutz eingesetzt werden. Die Zusammenarbeit mit zivilen und militärischen Partnern – national und international – wird gefordert. (Wie) Kann dieses Leitbild richtungsweisend sein bei aktuellen medizinethischen Herausforderungen wie z.B. Neuroenhancement oder in zivil-militärischen Kooperationen im In- und Ausland?
Diesen und ähnlichen sensiblen und anspruchsvollen Fragen widmeten sich knapp 90 Teilnehmerinnen und -teilnehmer sowie nationale und internationale Referenten im Rahmen des Symposiums „Neue Herausforderungen – Alter Konflikt? Zwischen Mediziner- und Soldatenethos“ am 14.11.2016 an der Katholischen Akademie in Bayern / München.
Dieser Studientag war eine Kooperationsveranstaltung der Sanitätsakademie der Bundeswehr, des Fachzentrums ZH Militärmedizinethik Zürich und des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften (zebis). Er fand  bereits zum zweiten Mal nach einer erfolgreichen Veranstaltung im Jahr 2014 in dieser Form statt.
Eingeleitet wurde der Tag durch die Grußworte der Direktorin des zebis, Dr. Veronika Bock, dem Vertreter des Katholischen Militärdekanats München, Militärdekan Dr. Jochen Folz und der Kommandeurin der Sanitätsakademie der Bundeswehr, Generalstabsarzt Dr. Gesine Krüger. Neben der Notwendigkeit der Diskussion aktueller militärmedizinethischer Fragen hoben die Veranstalter auch die gewachsene Kooperation  und die hohe Bedeutung des Faches hervor.
Thematische Vorträge sowie Arbeitsgruppen boten den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit, vertieft in die Themen einzutauchen und durch den Austausch mit Praktikern und Wissenschaftlern den eigenen Standpunkt zu schärfen.
In dem einführenden Vortrag von Prof. Dr. Edmund G. Howe zum Thema „Military Medical Ethics in the New World we live in“ nahm der ehemalige Militärarzt und Professor im Fachbereich Psychiatrie sowie Direktor des Programms „Medizinethik“ an der „Uniformed Services University of Health Sciences“, USA, Bezug auf die Entwicklungslinien im Bereich der Militärmedizinethik von 1976 bis heute. Dabei wurde z.B. nicht nur Folter durch medizinisches Personal in den Streitkräften problematisiert, sondern auch die Fragen der Triage, des Feind-Begriffs und des Umgangs mit Zivilisten. Prof. Howe schloss seinen Vortrag mit zwei ethischen Forderungen, die gleichzeitig Anspruch und Handlungsauftrag an die Politik und den Einzelnen sind: Zur Befriedung von Konflikten bedürfe es einer umfassenden Durchsetzung der Herrschaft des Rechts und in allen Konflikten gelte es, die Unterlegenen  zu schonen. Human zu agieren müsse dabei die oberste Regel sein.

Arbeitsgruppe 1: „Neuroenhancement im Kontext militärischer Extremlagen: Entwicklungslinien eines medizinethischen Dilemmas“, Oberstabsarzt d.R. Dr. Dirk Fischer, Flottenarzt Dr. Volker Hartmann und Oberstleutnant Pascal May
In der ersten Arbeitsgruppe um Flottenarzt Dr. Volker Hartmann, Abteilungsleiter an der Sanitätsakademie der Bundeswehr, wurden Aspekte um das Thema „Neuroenhancement im Kontext militärischer Extremlagen: Entwicklungslinien eines medizinethischen Dilemmas“ vorgestellt.
Oberstleutnant Pascal May zeigte in seiner Einführung in die Thematik auf, dass Enhancement alle Bereiche des Lebens berührt und nicht nur ein militärisches Thema darstellt. Danach wurde den Teilnehmern der Arbeitsgruppe in einem historischen Diskurs durch Flottenarzt Dr. Volker Hartmann vermittelt, dass Vigilanzsteigerung keineswegs eine Erfindung der heutigen Zeit ist, sondern bereits früher im militärischen Bereich eine große Rolle spielte. Aufgezeigt wurden in diesem Zusammenhang historische Beispiele von der Isolierung des Morphins aus dem verdickten Saft des Schlafmohns im Jahr 1805 bis zum Einsatz verschiedener leistungs- und aufmerksamkeitssteigernder Substanzen im Zweiten Weltkrieg. Im Anschluss wurden durch Oberstabsarzt d.R. Dr. Dirk Fischer ethische Komponenten betrachtet, die bei der Entscheidungsfindung zum Einsatz leistungssteigernder Maßnahmen zu beachten sind.
Nach den Einführungen diskutierte die Arbeitsgruppe eine reale Situation aus dem Auslandseinsatz. Hierbei ging es um die Frage, untergebene Soldaten, die im Begriff sind  zu einer gefährlichen Aufklärungsmission aufzubrechen, mit einem medikamentösen Präparat auszustatten, das eigentlich nur zur Behandlung von Narkolepsie zugelassen ist. Damit sollte im Bedarfsfall bzw. im Rahmen längerer Gefechte die eigene Vigilanz gesteigert werden. In Diskussionen wurde von den Teilnehmern das Für und Wider einer solchen Medikamentenausgabe beleuchtet, die nicht auf einer medizinischen Indikation beruht. Überwiegend kamen die Arbeitsgruppen zum Ergebnis, von einer Ausgabe solcher vigilanzsteigernder Produkte abzusehen, da die Risiken im Vergleich zu einem möglichen Nutzen zu groß und somit aus ethischen Gründen nicht zu verantworten wären.

Arbeitsgruppe 2: „Ethische Prinzipien und Rollenverantwortung im Sanitätsdienst“, Dr. Daniel Messelken und Oberst d.R. Cord-Dietrich von Einem
In der zweiten Arbeitsgruppe wurden die rechtlichen und ethischen Grundlagen vorgestellt, die für die Rolle des medizinischen Personals im Militär relevant sind. Insbesondere wurde die Sonderrolle und die mit ihr assoziierten Rechte und Pflichten herausgearbeitet, die medizinischem Personal in den Genfer Konventionen und im Völker-Gewohnheitsrecht zugestanden wird. Als Basis für die auch im Völkerrecht geforderte Orientierung an medizinethischen Prinzipien kann das vorgestellte Dokument “Ethical Principles of Health Care in Times of Armed Conflict and Other Emergencies” angesehen werden, welches unter anderem von International Committee of the Red Cross (ICRC), der World Medical Association (WMA) und  dem International Committee of Military Medicine (ICMM) 2015 verabschiedet wurde. In der anschließenden Diskussion wurde das Rollenverständnis des Sanitätsdienstes anhand von Beispielen gemeinsam erarbeitet und illustriert.
Als Ergebnis der Arbeitsgruppe hat sich gezeigt, dass eine fundierte und kontinuierliche Ausbildung in Völkerrecht und Ethik unverzichtbar ist und dabei die Sonderrolle des medizinischen Personals als Nichtkombattanten im Militär unbedingt auch Kombattanten verdeutlicht werden muss.

Podiumsgespräch mit Dr. Volkmar Schön
Der gebürtige Hamburger und promovierte Archäologe Dr. Volkmar Schön ist Vizepräsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und Mitglied des „Compliance and Mediation Committee“ der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften.
Im Zentrum des Podiumsgesprächs standen Fragen nach den Grundlagen der zivil-militärischen Zusammenarbeit, in deren Rahmen das DRK im In- und Ausland mit der Bundeswehr zusammenarbeitet, welche Erfahrungen man dabei gemacht hat und welche Wünsche an die Zusammenarbeit sich daraus ergeben.
Im Mittelpunkt stand auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von zivil-militärischer Zusammenarbeit aus der Sicht des DRK: Welche unterschiedlichen „Ethiken“ sind in beiden Institutionen wahrnehmbar? In konkreten Einsatzszenarien sei es wichtig, dass die Bevölkerung „von außen“ die Unterschiede des Auftrags der zivilen und militärischen Akteure wahrnehme. Dr. Schön hob die generell gute Zusammenarbeit auf der praktischen Ebene hervor.
Das Ziel des Symposiums  lag darin, den Dialog zwischen Wissenschaftlern und Praktikern – auch international  – zu fördern und den Angehörigen des Sanitätsdienstes Raum für ihre Fragen und zum Austausch zu bieten.
Ausgangspunkt und Fundament der Diskussionen war dabei das Leitbild des Sanitätsdienstes der Bundeswehr „Der Menschlichkeit verpflichtet“ aus dem Jahr 2015, in dem sich das Selbstverständnis  der Angehörigen des Sanitätsdienstes widerspiegelt. Geschärft durch kontroverse Debatten vergewissert sich jeder Einzelne seines eigenen beruflichen Selbstverständnisses und Standpunktes. Eine solche Auseinandersetzung ist besonders für Angehörige des Sanitätsdienstes notwendig, die in ihrer täglichen Arbeit immer wieder mit militärmedizinischen Herausforderungen konfrontiert sind, um die Optionen und das Wertegerüst zu benennen, das für Entscheidungen unbedingt erforderlich ist.
Nach spannenden und kontroversen Diskussionen, wurde am Ende des Tages deutlich, dass es noch viele Fragen zu diesem Themenfeld gibt. Daher war auch der Wunsch der höchst zufriedenen Teilnehmer nach einer Fortsetzung dieses Veranstaltungsformats nicht überraschend und wurde von den Kooperationspartnern sehr begrüßt.

Sanitätsakademie der Bundeswehr, Fachzentrum ZH Militärmedizinethik, zebis